Archiv der Kategorie: Poguntke

Über die menschliche Hybris beim Projekt S21

Liebe Parkgebets-Gemeinde,

man wirft uns GegnerInnen von Stuttgart 21 immer wieder gerne vor, wir seien technikfeindlich. Zumindest für meine Person kann ich das sehr deutlich zurückweisen. Das Gegenteil ist der Fall: Ich bin – obwohl ich von Beruf Pfarrer bin – fast ein bisschen ein verhinderter Ingenieur. Mich fasziniert das, was Technik heute alles kann: Computer-Technik, Straßen- und Schienenbautechnik, Medizin-, Energie-, Werkstofftechnik und, und, und… Nein, ich bin ein großer Bewunderer guter Ingenieurleistungen – und hasse schlechte.
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Parkgebet 28.06.2012: „Suchet der Stadt Bestes !“

Liebe Parkgebets-Gemeinde!
Sie kennen vermutlich diesen Satz des alttestamentlichen Propheten Jeremia. Auf ihn hat man sich auch schon mehrfach auf Demonstrationen gegen Stuttgart 21 bezogen.
Gemeint war dann: Es ist Aufgabe von uns Christen, der Stadt Bestes zu suchen, dazu beizutragen, dass es nicht nur der Kirchengemeinde, sondern auch der bürgerlichen Gemeinde gut geht.
Mehr noch war gemeint: Es ist Aufgabe der Christen, sich auch politisch einzumischen, dazu beizutragen, dass politisch ein guter Weg für die Stadt und überhaupt für die Welt gegangen wird.
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Trauergottesdienst am 10. März 2012 im Schlossgarten – die Predigt

die Ansprache als pdf-Datei

Liebe Mittrauernden!

Es mag sein, wir gewinnen den Streit, wie wir eben gesungen haben. Aber das fällt uns heute schwer zu glauben.
Wir stehen hier am Rande der Brache und suchen immer noch nach Worten, weil wir es einfach nicht fassen können. Wir sehen um uns, und hinter diesem hässlichen Zaun erstreckt sich eine noch ungleich hässlichere Fläche, Ödland, eine Mondlandschaft. Was haben sie aus unserem Park gemacht?!

Bis zum Schluss hatten wir gehofft. Gehofft, es gebe terminliche Probleme – wegen der Vegetationsperiode oder wegen der bundesweiten Polizeieinheiten. Gehofft, es gebe politischen Druck auf die Bahn, der sie hindern würde – zumal sie ja ohnehin noch nicht graben kann hier. Gehofft, die Schlichtervereinbarung, dass die gesunden Bäume verpflanzt werden müssten, würde das Elend aufhalten. Gehofft, gehofft, gehofft.

Gehofft auf Menschen, auf die Regierung, auf das Glück, auf Gott. Alles vergeblich!

In der Nacht vom 14. auf den 15. Februar haben wir uns hier im Park zu mehreren Tausend denen entgegen gestellt, die den Park frei machen sollten, damit die Bahn ihr Zerstörungswerk beginnen kann. Aber sie haben sich durch uns nicht hindern lassen. Schon am nächsten Tag haben sie einen unvorstellbaren Kahlschlag angerichtet. Und wir waren zum Zuschauen verdammt. Schweigend oder schreiend, weinend oder diskutierend immer neu unsere guten Argumente austauschend mussten wir mit ansehen, wie uns und den vielen hier lebenden Tieren Baum um Baum dieser wichtige Teil des Schlossgartens genommen wurde.

Und heute stehen wir nun hier und wissen nicht, wohin mit unseren Gefühlen und Gedanken. Wut und Enttäuschung, über die Politik und über uns selbst, empörte Anklagen, stille Trauer.

Wir hatten sie unterschätzt, die Mächte, die dieses Wahnsinnsprojekt wollen. Wir hatten es uns nicht wirklich vorstellen können, dass sie diese wunderbaren Bäume und ihre tierischen Bewohner auf dem Altar des Neoliberalismus opfern würden und auf dem Altar der Staatsräson, die klar stellen musste, dass man sich der Wirtschaft nicht in den Weg stellen darf. Auch deshalb musste aus ihrer Sicht unser Widerstand unbedingt gebrochen werden – selbst wenn dieses Projekt gar nicht zu Ende gebaut werden kann, wie viele Fachleute fest annehmen.

Es hat unsere Vorstellungskraft gesprengt, dass sie diese Brutalität wirklich begehen würden. Und es sprengt unsere Vorstellungskraft, dass wir ihnen das jemals verzeihen könnten. – Aber uns selbst sollten wir es verzeihen. Bloß wie?

Natürlich fragt in dieser Situation manch einer nach Gott? Wer wollte uns das verübeln, wenn wir angesichts dieses Elends heute fragen, wo da Gott ist? Dass Menschen uns enttäuschen, ja, wir selbst, das mag noch angehen. Aber Gott?! Müsste der nicht dreinschlagen? – Wenn es ihn denn gäbe!

Und da mutet uns der Apostel Paulus mit dem einen Satz, der dieses Jahr zur Jahreslosung geworden ist, zu, dass wir unser Bild von Gott auf den Kopf stellen, indem Paulus Jesus sagen lässt: „Meine Kraft ist in den Schwachen mächtig.“

„Meine Kraft ist in den Schwachen mächtig.“ – Dieses kleine Sätzchen über die göttliche Kraft stellt die Welt auf den Kopf: Es wirft unsere kindliche Vorstellung von dem Gott, der unberührbar mächtig über den Dingen steht, über den Haufen. Genauso wie unsere gesellschaftliche Erfahrung, dass die Wirtschaftsmächtigen und Kriegstreiber und Rambos sich eben doch immer durchsetzen.

Gottes Kraft ist in den Schwachen mächtig. Das ist eine Zumutung, weil uns mit einem Schlag die Hoffnungen aus der Hand geschlagen werden, wir bräuchten nur eine genügend starke Regierung, müssten uns nur mit den Mächtigen verbinden, müssten nur recht große Mehrheiten hinter uns versammeln – dann würde es schon voran gehen mit der Welt.

Stattdessen mutet uns dieser Satz zu: Das, was diese Welt im Innersten zusammenhält, das, was die Quelle aller Kräfte und Mächte der Welt und der Natur ist – Gott – dieser Gott wirkt nicht auf die Weise der Despoten und Herrscher, sondern durch die Schwachen. Nicht von oben, sondern von unten. Nicht mit Gewalt, sondern in der Weise der Graswurzeln, unter der Erde, unsichtbar, scheinbar vernachlässigbar, verlacht von den Wichtigen, übersehen von den Erfolgreichen. In den Schwachen liegt die Verheißung, dass die Welt durch sie zu einem guten Ziel gelangt.

Gottes Kraft ist in den Schwachen mächtig. Paulus mutet uns mit diesem Satz zu, unsere Hoffnungen nicht auf einen Gott zu setzen, in den wir unsere Machtphantasien projizieren können, nicht in einen Gott, den wir als ins Positive gewendeten Herrscher sehen, den wir aus der Überhöhung unserer – von Ohnmacht geprägten – Alltagserfahrung gewinnen. Sondern wir sollen diese Gewalterfahrungen unseres Alltags auf den Kopf stellen, als Protest gegen die Welt, wie sie ist. So entsteht ein Gottesbild, das ein Gegenbild unserer Gesellschaft ist.

Diese Zumutung, dass wir uns das Gelingen der Welt nicht von den Starken erhoffen sollen, nicht von unserer Wirtschaftsstärke, nicht von eindrucksvollen politischen Parteien, nicht von denen, die so gekonnt mit den Mächtigen verkehren – diese Zumutung ist auch eine wunderbare Verheißung: Was eure scheinbare Schwäche ist, dass ihr die Mächtigen nicht auf eurer Seite habt, das ist in Wahrheit eure Stärke: Denn so, wie wir Christen Gott glauben, verändert er die Welt durch die Macht der Ohnmächtigen, durch den Kampf der Friedliebenden, durch den Druck der Gewaltlosen durch den Reichtum der Habenichtse.

Und diese Zumutung und Verheißung – sie ist auch eine Verpflichtung: Seht euch vor vor denen, die mit den Mächtigen kungeln! Werdet nicht wie sie! Glaubt nicht ihren Versprechungen! Erhofft euch nicht von ihnen die Lösung der wichtigen Fragen, gar die Heilung der Welt! Sondern setzt euch ein für die Opfer der Gesellschaft, für die Menschen, die unter die Räder kommen, für die Natur, die unterworfen wird – indem wir uns auf diese Weise auf der Seite der Schwachen engagieren, gilt auch für uns diese Verheißung, dass Gott durch die Schwachen mächtig ist.

Und wenn da irre geleitete hochmütige Menschen rufen: „Wir sind die Guten.“ Dann antworten wir nicht(!): „Nein, wir(!) sind die Guten!“ Denn Gottes Kraft ist nicht in uns mächtig, weil wir die besseren Menschen wären, moralisch stärker, überlegene Strategen oder weil wir gar die Mehrheit hinter uns hätten. Sondern Gottes Kraft ist in uns mächtig – so glauben’s wir Christen – gerade, weil wir nicht annähernd so sind, wie wir sein sollten. Weil wir unseren eigenen Ansprüchen nicht gerecht werden, weil wir ängstlicher sind als es uns recht ist, weil wir unserer eigenen Überzeugungen nicht sicher sind, weil wir selbst enttäuschend sind, weil wir ganz durchschnittliche schwache Menschen sind, die natürlich den Park nicht schützen konnten.

Aus all diesen Gründen gilt für uns die Verheißung: In euch Schwachen ist Gottes Kraft mächtig, gerade weil ihr nicht auf euch selbst und auf Macht vertraut, sondern weil ihr erstens auf Machtmittel verzichtet und zweitens euch auf die Seite der Ohnmächtigen stellt, der machtlosen Menschen und der machtlosen Natur – deshalb könnt ihr die Hoffnung nähren, dass genau durch euch eine ganz besondere Kraft wirkt. Die Kraft nämlich, die aus einem einzelnen Samenkorn einen mächtigen Baum wachsen lässt. Die Kraft nämlich, die aus unterschätzten Hausfrauen und resignierten Couch-Potatoes wache Menschen macht, mit ungeahnt widerständigem Mut. Die Kraft, die aus 4 Leuten auf der ersten Montagsdemo zig Tausende macht. Die Kraft, die wirtschafthörige Regierungen zu Fall bringt und die auch den Opportunismus der Nachfolger zu Fall bringen kann.

Gottes Kraft ist in den Schwachen mächtig. Diese Überzeugung birgt die lebendige Hoffnung, dass sich die Siege der Mächtigen eines Tages gegen sie selbst wenden werden. Dass die Niedergeschlagenen aufgerichtet werden. Dass die vermeintlich so zukunftsorientierte Mehrheit das Nachsehen hat. Dass sich die Siege der Geldgläubigen eines Tages umkehren werden in ihre große Niederlage.

Wir brauchen nicht an uns selbst zu zweifeln oder gar zu ver-zweifeln, denn unsere Trauer über die verlorenen Bäume und Tiere – das glaube ich fest – sie ist eine Kraftquelle, mit der die Übeltäter nicht gerechnet hatten. Die (wirkliche und vermeintliche) Schwäche unserer Trauer ist es – das glaube ich fest – aus der wir eine Kraft gewinnen werden, die Wirkung hat, weit über das Projekt Stuttgart 21 hinaus.

Und deshalb: Lasst uns heute unsere Trauer nicht wegschieben, nicht verleugnen, nicht verdrängen. Sondern lasst uns gemeinsam traurig sein, weil unsere heutige Trauer wie ein Samenkorn die Kraft in sich trägt, von der Paulus sagt, sie sei Gottes Kraft. In unserer Trauer wirkt die Kraft, die die Bäume hat wachsen lassen, von denen wir hier nur noch die Stümpfe sehen. Die Bäume und Tiere sind weg. Aber die Kraft in ihnen und hinter ihnen – das glaube ich fest – die werden sie nicht totkriegen, denn es ist die Kraft, von der die ganze Welt herkommt, die Kraft, die diese Welt zusammen und am Leben hält, die Kraft, die dieser Welt Zukunft gibt – es ist Gottes Kraft in unserer Trauer – die Kraft, die in den Schwachen mächtig ist.

Amen.

(Martin Poguntke)

Friedensappell: Offener Brief an Winfried Kretschmann

Tragen Sie bitte zum Frieden im Land bei!
Genehmigen Sie keinen Polizeieinsatz für das Projekt „Stuttgart 21“,
bevor alle entscheidenden Fragen geklärt sind!

 Stuttgart, 11.12.2011

Sehr geehrter Herr Ministerpräsident! Lieber Herr Kretschmann!

ich schreibe Ihnen als Mitglied der Initiative „Theolog/innen gegen Stuttgart 21“. Wir haben im Dezember 2010 in unserer von inzwischen über 1200 ChristInnen unterzeichneten „Gemeinsamen Erklärung“ (www.s21-christen-sagen-nein.org/gemeinsame-erklarung-von-theologinnen/) unsere vielfältigen Bedenken gegen das Projekt „Stuttgart 21“ zum Ausdruck gebracht. Daran hat sich durch den Volksentscheid nichts geändert. Im Gegenteil.

Mit großer Sorge nehme ich die Vorbereitungen der Polizei auf den Abriss des Südflügels und die Fällung der Schlossgartenbäume wahr. Das ist zurzeit weder rechtlich angemessen noch politisch klug. Es wird die demokratische Kultur im Lande nachhaltig beschädigen und unabsehbare Folgen für den Frieden in der Stadt und im Land haben.

Ich bitte Sie dringend: Lassen Sie das nicht zu! Tragen Sie zum Frieden im Lande bei!

Sie wissen doch: Die rechtliche Zukunft von S21 ist völlig ungewiss:

  • Das zentrale Interesse der Stadt Stuttgart an S21, dass die Gleisanlagen des Kopfbahnhofs abgebaut und das Gelände überbaut werden darf, ist gerichtlich noch völlig ungeklärt. Vielmehr muss damit gerechnet werden, dass mindestens ein Teil der Kopfbahnhofgleise bestehen bleiben muss.
  • Ob die Mischfinanzierung von S21 durch Stadt, Land und Bahn      verfassungsgemäß ist, muss noch gerichtlich überprüft werden.
  • Für den Bau der Grundwassermanagement-Anlage besteht – nachdem die Wasserentnahmemenge mehr als verdoppelt werden soll – noch keine Genehmigung. Sie wurde dort illegal errichtet.
  • Für den Abstell- und Wartungs-Bahnhof Untertürkheim ist das Planfeststellungsverfahren noch nicht abgeschlossen.
  • Für die gesamten Anlagen auf der Filder ist ein Genehmigungsverfahren noch nicht einmal eingeleitet.
  • Nicht zuletzt ist immer noch nicht geklärt, wer ggf. die (unbestreitbar entstehenden) über 4,5 Mrd. hinaus gehenden Kosten trägt.

In einer rechtlich derart offenen Situation – von den unverändert katastrophalen Mängeln des Projekts selbst ganz zu schweigen – ohne Not ein Baurecht der Bahn mit massivem Polizeieinsatz durchzusetzen, dient auf keinen Fall dem Frieden, sondern stellt eine unangemessene Verschärfung der ohnehin labilen Situation dar.

Denn auch der Volksentscheid hat ja keineswegs eine klare Mehrheit für den Weiterbau ergeben. Vielmehr hat sich landesweit fast die Hälfte der Abstimmenden dagegen ausgesprochen.

Und das, obwohl der Volksentscheid eben gerade kein Beispiel für gelungene Demokratie war. Vielmehr werden auch Sie sagen müssen: So etwas darf nie wieder vorkommen:

  • dass ein Volksentscheid mit Millionenbeträgen aus der Wirtschaft      beeinflusst wird,
  • dass in unglaublichem Umfang öffentliche Körperschaften (Rathäuser, Gemeinderäte, Landratsämter, Regionalparlamente) mit einseitigen und falschen Darstellungen Einfluss auf die Abstimmung nehmen,
  • dass selbst von staatlicher Seite aus eine Lüge zum Hauptargument der Abstimmung erhoben wird (die Behauptung, die Ausstiegskosten betrügen für den Steuerzahler 1,5 Milliarden).

Deshalb fordere ich Sie so dringend wie herzlich auf, die Durchsetzung des Baurechts der Bahn zu verschieben, bis alle erforderlichen Fragen gerichtsfest geklärt sind – zumindest aber, bis mit rechtsgültiger Unterschrift die Frage der Übernahme von Mehrkosten definitiv geregelt ist.

Das Baurecht – zumal, wenn es nur zu einem kleinen Teil überhaupt besteht – ist nicht das höchste Recht eines Landes, dem sich alle andern Rechte unterzuordnen hätten (z.B. das des Landes auf Kostenklarheit und -wahrheit). Zumindest hat es zurück zu stehen, wenn es nicht auf für einen demokratischen Rechtsstaat angemessene Weise durchzusetzen ist. Und das ist in der aktuellen Situation nicht gegeben. Eine Landesregierung hat auch eine Verantwortung für den Frieden im Land. Nehmen Sie bitte diese Verantwortung wahr!

Mit freundlichen Grüßen
Martin Poguntke

PS:  Dieser Brief wird mit unterstützt von:
Friedrich Gehring, Michael Harr, Dieter Hemminger, Annette Keimburg, Gunther Leibbrand, Guntrun Müller-Enßlin, Wolfgang Schiegg, Martin Schmid-Keimburg, Dorothea Ziesenhenne-Harr.
Er geht an einen breiten Presseverteiler und an verschiedene Internetseiten.

‚Ethisch optimaler’ contra ‚wirtschaftlich optimaler’ Umgang mit nicht optimalen Menschen

Statement bei der Veranstaltung
„K21 – der barrierefreie Kopfbahnhof –> deshalb oben bleiben – eben bleiben“
am 27. September 2011
(alle Statements der Veranstaltung: vimeo.com/29684416)
(dieses Statement: www.youtube.com/watch)

Die ethischen Kriterien des Statements kurz zusammengefasst: 
1. Alle Menschen sind beschränkt.
2. Vielfalt an Leben ist ein zentrales Ziel.
3. Die Schwachen stehen im Mittelpunkt.
4. Der Einzelne steht im Mittelpunkt.
5. Gesellschaftliche Wertschöpfung muss in erster Linie dem Menschen dienen, nicht umgekehrt – und zwar dem unterstützungsbedürftigen Menschen.

Liebe Mitstreiterinnen und Mitstreiter 
für einen menschlichen Bahnhof und eine menschliche Zukunft!
Ich soll hier ein paar ethische Gedanken zum Thema sagen. Da muss ich Sie aber gleich enttäuschen: Ich kann Ihnen da keine allgemeingültige Ethik bieten, weil man Wertentscheidungen nicht logisch ableiten kann. Über Ethik nachdenken heißt, darüber nachdenken, welche Wertentscheidungen man warum getroffen hat oder gerne treffen will. Ich kann hier – als evangelischer Pfarrer – entsprechend nur von dem ethischen Begründungszusammenhang ausgehen, der meine – eine christliche – Ethik prägt.
Ich denke aber, dass das auch für diejenigen unter Ihnen, die mit Kirche nichts anfangen können oder die sich an ganz anderen Kulturen orientieren, eine interessante Anregung ist. Das will ich tun: Sie anregen.
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SPD-Minister müssen sich äußern, um Schaden vom Land abzuwenden!

Offener Brief
an die SPD-MinisterInnen
der baden-württembergischen Landesregierung
namentlich an die Herren
Nils Schmid, Rainer Stickelberger und Reinhold Gall

 Sehr geehrte Damen und Herren,

ich schreibe Ihnen als Mitglied der Initiative „Pfarrer/innen gegen Stuttgart 21“. Wir haben im Dezember 2010 in unserer von inzwischen über 1000 ChristInnen unterzeichneten „Gemeinsamen Erklärung“ (www.s21-christen-sagen-nein.org/gemeinsame-erklarung-von-theologinnen/) unsere vielfältigen Bedenken gegen das Projekt „Stuttgart 21“ zum Ausdruck gebracht.

Inzwischen sind viele weitere skandalöse Details zu diesem Projekt bekannt geworden. Ich bin irritiert, dass von den SPD-Landesministern dazu nichts zu hören ist. Sie haben bei Ihrem Amtsantritt geschworen, Schaden vom Land abzuwenden. Da ist es eine Frage der Glaubwürdigkeit, dass Sie zumindest zu den schwerwiegendsten Vorkommnissen öffentlich Stellung beziehen.

Es sind klare Belege dafür bekannt geworden, dass die Bahn für Stuttgart 21 schon bei Vertragsabschluss wesentlich höhere Kosten angenommen hatte, als von ihr öffentlich behauptet.
Es ist vom ehemaligen Bahn-Chefplaner Hany Azer eine Liste von 121 zum Teil sehr teuren Risiken für das Projekt erstellt und von den Medien teilweise veröffentlicht worden.
Hier droht Milliardenschaden für das Land. Ein Finanz- und Wirtschaftsminister, der sein Amt ernst nimmt und Schaden vom Land und seinen BürgerInnen abwenden will, darf zu solch unkalkulierbaren und vom Parlament nicht genehmigten Kosten – die schließlich wesentlich von den BürgerInnen dieses Landes zu tragen sind – nicht schweigen.

Es sind klare Belege dafür bekannt geworden, dass die Deutsche Bahn AG als Vertragspartnerin der Landesregierung wissentlich falsche Angaben zu den Kosten von Stuttgart 21 gemacht hat.
Dieselben Belege zeigen, dass die Vorgänger-Regierung über diese von der Bahn bewusst zu niedrig angegebenen Kosten informiert war, aber trotzdem Parlaments-Beschlüsse zum Projekt herbei geführt hat, die von falschen Kostenangaben ausgehen.
Hier stehen massive Rechtsbrüche gegenüber dem Land, seinem Parlament und seinen Bürgern im Raum. Ein Justizminister, der sein Amt ernst nimmt und Schaden vom Land abwenden will, darf dazu nicht schweigen.

Es ist zu befürchten, dass die Bahn den Südflügel abreißt, noch vor dem von der Landesregierung geplanten Volksentscheid über einen Ausstieg des Landes aus dem Projekt und damit eine solche Abstimmung teilweise gegenstandslos macht.
Es ist bekannt, dass für den Volksentscheid ein Drittel der Wahlberechtigten mit Ja stimmen müsste (also mehr  Wahlberechtigte als insgesamt die gegenwärtige Regierung gewählt haben), dass damit also die Änderung eines einfachen Gesetzes offenbar einer höheren Legitimität bedürfte als sie die ganze Regierung hat.
Hier wird die Demokratie beschädigt und eine Chance zum Frieden vertan. Ein Innenminister, der sein Amt ernst nimmt und Schaden vom Land abwenden – gar das Land zu einem „Leuchtturm demokratischer Beteiligung“ machen will –, darf dazu nicht schweigen.

Ich rufe deshalb die SPD-Minister dieser Landesregierung auf:

  • Bestehen Sie gegenüber dem Projekt„partner“ Deutsche Bahn AG auf einem unbedingten und vollständigen Bau- und Vergabestopp bis zur Klärung aller Finanz- und Risikofragen zu Stuttgart 21 – mindestens aber bis zum Volksentscheid (damit dieser überhaupt noch Sinn machen kann)!
  • Fordern Sie vom Projekt„partner“ Deutsche Bahn AG vollständige Akteneinsicht in alle Unterlagen zu Finanzierung und Baurisiken!
    (Es geht nicht an, dass der „Stern“ besser informiert ist als die Landesregierung.)
  • Lassen Sie alle rechtlich fragwürdigen Aspekte des Projekts schnellstmöglich von Gerichten überprüfen! (Es geht nicht an, dass sich das Land Baden-Württemberg an einem Bauprojekt beteiligt, das womöglich in Teilen illegal ist.)
  • Sollte die Bahn auf Ihre Forderungen nicht eingehen, kann sie für das Land Baden-Württemberg keine Partnerin zum Wohl
    des Landes
    mehr sein. Für das Land entfällt damit die Geschäftsgrundlage. Überweisen Sie unter diesen Umständen keinerlei Gelder an die Bahn (bzw. mit ausdrücklichem Rückzahlungsvorbehalt) und arbeiten Sie auf eine Kündigung der
    Verträge
    hin!
  • Schaffen Sie die rechtlichen Voraussetzungen dafür, dass sich die Landesregierung am tatsächlichen mehrheitlich geäußerten
    Willen der Bevölkerung orientiert
    und diesen nicht wegen eines undemokratischen Quorums übergeht!

Helfen Sie bitte zu verhindern, dass die SPD sich vollends unmöglich macht:

Versuchen Sie nicht, durch Wegtauchen der SPD in diesen Fragen, unbeschädigt zu bleiben! – Die WählerInnen wählen keine Partei ohne
erkennbares Profil.
Erliegen Sie nicht der Versuchung: Wer jetzt die CDU am besten schont, wird nach einem etwaigen Zerfall der Grün-Roten Koalition zum neuen Regierungs-Partner der CDU! – Sie verlieren so Ihre restliche Glaubwürdigkeit.
Setzen Sie nicht darauf, durch Zurückhaltung einen guten Eindruck bei der konservativen Wirtschaft zu machen und dadurch von dort Spenden zu bekommen! – Sie brauchen auch Wähler!

Dieses Schreiben geht auch an 38 Adressaten in sämtlichen regionalen Geschäftsstellen der Landes-SPD, sowie an einen breiten Presseverteiler.

Mit freundlichen Grüßen,
Martin Poguntke

unterstützt von: Friedrich Gehring und Gunther Leibbrand

Für eine lebendige Stadt begeistert auf-er-stehen – Gottesdienst im Park am 15.5.2011

Ein ganz herzliches Willkommen an Sie alle, liebe Gottesdienstbesucherinnen und Gottesdienstbesucher,
liebe Bewegte, die Sie von innerhalb und außerhalb dieser Stadt hierher gekommen sind, wo wir an einem der schönsten Plätze Stuttgarts diesen Gottesdienst feiern wollen.

Zu Anfang ein kurzer Spot rückwärts: Es war am 5. April 2010, am Ostermontag, hier an diesem Ort: Damals haben wir den ersten Gottesdienst im Schlossgarten gefeiert unter dem Motto „Sucht der Stadt Bestes“. Ich freue mich sehr, dass Sie heute, etwas mehr als ein Jahr später an diesem Sonntag zwischen Ostern und Pfingsten dabei sind, vielleicht zum ersten Mal, vielleicht sind Sie aber auch wieder dabei  – und wenn es so ist, dass Sie wieder dabei sind, dann geht es Ihnen vielleicht so wie mir: Das Jahr, das seither vergangen ist, zieht an mir vorbei und angesichts der unglaublichen Geschichte, die sich in Stuttgart seither vollzogen hat, bin ich immer noch von den Socken und möchte dann und wann sagen: He, kneift mich mal, ich glaub, ich träum. Kein Stückeschreiber hätte besser erfinden, kein Regisseur besser in Szene setzen können, was da als atemberaubende Realität ihren Lauf genommen hat mit uns Bürgerinnen und Bürgern als Akteuren.  Der Gottesdienst heute ist denn auch alles andere als ein Déjà Vue. Damals vor einem Jahr hatten wir in Analogie zum Proprium von Ostern, der Auferstehung, gerade begonnen, aufzustehen. Der Aufstand  war noch jung, wir hatten uns gerade auf den Weg gemacht, das Beste für unsere Stadt zu suchen, wir hatten zu träumen begonnen und gewagt unseren Träumen zu folgen, wir hatten appelliert an die Stadtoberen, unseren Argumenten zuzuhören. Mir kommt das heute fast vor wie in einem anderen Leben. Denn was klein anfing, hat sich zu einer mächtigen Bewegung entfaltet, beispiellos in Stuttgart, beispiellos in ganz Deutschland. Blitzlichter flammen vor mir auf: Bauzaunaufstellung, Nordflügelabriss, Schwarzer Donnerstag, Faktencheck, die folgende Depression, die Ereignisse um Fukushima, schließlich die Wahlen und ihr sensationelles Ergebnis, und schließlich, letzten Donnerstag, die Vereidigung der neuen Landesregierung  mit Winfried Kretschmann als erstem grünem Ministerpräsidenten in Deutschland. Weiterlesen

Dürfen Christen CDU wählen?

Ja, Christen dürfen wählen, was sie wollen, denn sie sind freie Menschen und „niemandes Knecht“ (Luther). Aber welche Partei sie auch wählen, sie fragen natürlich, ob die Politik dieser Partei den Grundsätzen ihres Glaubens nahe kommt.

Eine „christliche“ Partei gibt es nicht. Alle demokratischen Parteien hierzulande haben Elemente christlicher Ethik in ihrer Politik, und in allen demokratischen Parteien hierzulande gibt es Christen (vermutlich sogar den jeweils gleichen Prozentsatz). Wenn sich allerdings eine Partei selbst „christlich“ nennt, dann sehen wir als Christen natürlich besonders genau hin.

Hier ist nicht Raum für eine vollständige Analyse der Politik der CDU, auch nicht für die Berücksichtigung verschiedener Strömungen. Ich beschränke mich auf die fünf augenfälligsten Punkte, an denen die vorherrschende Politik dieser Partei für Christen nicht akzeptabel ist. Dabei hoffe ich, dass ich eine Diskussion anstoße, die über die hier nur thesenhaft mögliche Darstellung hinaus führt.

  1. Die CDU vertritt die Ideologie des unbegrenzten Wachstums.
    Das ist für Christen Götzenglaube. Christen wissen um die Begrenztheit der Schöpfung. Sie fordern deshalb eine Politik, die nicht die begrenzten Ressourcen so weit als möglich ausbeutet, sondern eine Politik, die diese Ressourcen so weit als möglich schont.
    Dazu ist eine Begrenzung des Wachstums erforderlich. Und dazu ist eine hoch entwickelte Technologie erforderlich, die nicht im Dienst der Profitmaximierung steht, sondern im Dienst des Menschen und einer bestmöglichen Pflege der Schöpfung.
  2. Die CDU vertritt die Ideologie des freien Marktes, der angeblich die Interessen in der Welt gerecht ausgleicht.
    Auch das ist Götzenglaube. Christen wissen, dass der freie Markt zum Sieg der Stärkeren über die Schwächeren führt. Sie glauben, dass wir Menschen (als „Stellvertreter Gottes“) in die Welt eingreifen sollen, um sie vor dem freien Spiel der Kräfte zu bewahren und Gottes Willen in sie hinein zu tragen. Deshalb fordern sie eine Politik, die nicht möglichst wenig eingreift ins Wirtschaftsgeschehen, sondern das Wirtschaftsgeschehen als den Ort versteht, in dem die entscheidenden Weichen für Wohl und Wehe der ganzen Welt gestellt werden – oder eben nicht.
  3. Die CDU hat kein Bewusstsein von der zerstörerischen Macht des Geldes.
    Auch vor dem Mammon müssen Christen warnen. Christen wissen, wie zerstörerisch Reichtum auf den Menschen wirkt (indem er Maßstäbe und Wichtigkeiten verzerrt und Leben zerstört), und fordern deshalb, dass Reichtum begrenzt und konsequent in den Dienst der Schwachen gestellt wird.
  4. Die CDU ist geprägt von einer bis zur Ununterscheidbarkeit reichenden personellen Verquickung mit den Starken der Wirtschaft (was sie als ihre „Wirtschaftskompetenz“ ausgibt).
    Das macht Christen skeptisch. Christen sind parteiisch für die Schwachen und nehmen deshalb die Starken in die gesellschaftliche Pflicht. Dieser Aufgabe kann eine Partei nicht nachkommen, die in wesentlichen Teilen selbst zu den Starken gehört.
  5. Die CDU hat ein gestörtes Verhältnis zu den Bürgern; sie will ihre Politik nicht wirklich vom Willen der Wähler kontrollieren lassen.
    Demokratie ist für Christen ein Projekt zur Kontrolle menschlicher Macht. Christen wissen um die Fehlbarkeit aller Menschen und fordern deshalb, dass auch politische Entscheidungen laufend von den Betroffenen überprüft werden können müssen – und gegebenenfalls korrigierbar sein müssen. Die CDU will solche Kontrolle begrenzen, weil sie befürchtet, dass Demokratie Investoren abschrecken könnte.

Es wird deutlich: Die CDU ist eine Partei, die Christen nach gründlichem Nachdenken über ihre eigenen Grundlagen aus grundsätzlichen Erwägungen nicht wählen können – nicht nur, weil sie Hauptbetreiberin des Projekts Stuttgart 21 ist.

Etliches hiervon ist auch anderen Parteien vorzuwerfen – aber die nennen sich wenigstens nicht „christlich“.

Martin Poguntke, 13.03.2011

Kirche kann nicht unparteiisch sein

Darf Kirche in der Auseinandersetzung um das Bahnprojekt Stuttgart 21 Partei ergreifen? Muss sie nicht für alle da sein? So fragen immer wieder Christen in Leserbriefen oder Gesprächen. Dahinter verbergen sich zwei Missverständnisse: das eine, Gott liebe doch alle Menschen, dann dürfe man doch auch als Mensch nicht einseitig Partei ergreifen. Das andere, es gebe überhaupt die Möglichkeit, unparteiisch zu sein.

Für das zweitgenannte Missverständnis gebrauche ich gerne das Bild: Ich sehe auf dem Schulhof zwei Jungs raufen: einen muskulösen 8.-Klässler mit einem mageren 2.-Klässler. Wollte ich mich in dieser Situation neutral verhalten und in der Zuschauerrolle verharren – für wen würde ich damit faktisch Partei ergreifen? Eben: Durch meine neutrale Haltung würde ich faktisch den Starken unterstützen. Das gilt für alle auch gesellschaftlichen Situationen: Sobald ich mich neutral verhalte, unterstütze ich den Stärkeren, ob ich will oder nicht.

Und was ist mit Gott, der doch alle Menschen liebt? Durch unsere Bibel ziehen sich wie zwei rote Fäden zwei Überzeugungen: 1. Gott liebt alle Menschen, 2. Gottes besonderer Schutz gilt den Schwachen. Wir nennen das die „vorrangige Option für die Schwachen“. Es gibt keinen alttestamentlichen Propheten, der sich nicht an diesem Maßstab orientiert hätte. Kern christlicher Ethik ist: Wir stehen grundsätzlich auf der Seite der Schwachen. Dass Gott alle Menschen liebt, bedeutet für uns: Auch den Starken begegnen wir mit Liebe und achten deren Würde. Aber wir ergreifen Partei für die, die sich unter ihnen beugen müssen.

Was heißt das für die augenblicklichen Auseinandersetzungen um das Bahnhofsprojekt Stuttgart 21? Wo sind da die Starken, wo die Schwachen?

Stuttgart 21 wurde auf den Weg gebracht und wird betrieben von einem begrenzten Kreis von Wirtschaftsakteuren auf der einen Seite und Inhabern politischer Ämter auf der anderen. Diese Allianz ist nicht typisch für Stuttgart 21, aber sie ist auch bei diesem Projekt die entscheidende Größe. Das ist dann kein wirkliches Problem, wenn diese Allianz sich rückbindet an die Interessen der Bevölkerung, in deren Namen sie zu handeln vorgibt.

Genau diese Rückbindung muss auch Kirche fordern. Mit einer neutralen Haltung würde sie den Mächtigen in Staat und Wirtschaft das Feld überlassen. Die „Schwachen“ sind in dieser Situation die Wählerinnen und Wähler, die zwar vor langer Zeit ihre Stimmen abgegeben haben, aber nun zusehen müssen, dass mit ihren Stimmen gar nicht in ihrem Interesse gehandelt wird.

Das Argument, das sei ja gar nicht erwiesen, dass hier nicht im Interesse der Wähler gehandelt werde, ist nur berechtigt, wenn man mit ihm die Forderung verbindet, dass geklärt wird, ob hier der Wille der Wähler geschehe.

Kirche darf deshalb nicht nur als Moderator auftreten, der dafür sorgt, dass die Akteure friedlich miteinander umgehen. Sondern Kirche muss deutlich machen, wo sie steht: auf der Seite derer, die nicht die Macht haben, mit einem Federstrich Fakten zu schaffen; die nicht die Macht haben, ihre einmal gefällten Beschlüsse mit dem Gewaltmonopol des Staates umsetzen zu lassen; die nicht die Macht haben, diejenigen in ihrem Lauf aufzuhalten, die mit formalem Recht im Hintergrund meinen, keine Rechenschaft ablegen zu müssen über ihr tun.

Kirche – wenn sie Kirche Christi sein will – muss erkennbar parteiisch sein für die Schwachen.

Martin Poguntke, 31.10.2010

Kirche muss für Baustopp sein

Die Kirche müsste meines Erachtens sich dringend für einen sofortigen Baustopp des Bahnprojekts Stuttgart 21 einsetzen. Wenn ihr Angebot, als Vermittler zum Frieden beitragen zu wollen, Sinn machen soll, darf sie nicht zusehen, wie unumkehrbare Fakten geschaffen werden, noch bevor entscheidende Fragen geklärt sind.

Was ich an kirchlichen Äußerungen lese, ist durchweg das Bemühen, sich heraushalten zu dürfen oder gar zu müssen: Es sei durch S21 nicht die Menschenwürde bedroht. Es stünden lediglich verkehrswissenschaftliche oder geologische Fragen zur Diskussion, zu denen Kirche nichts beizutragen habe etc.

Das übersieht, dass jede dieser Fragen auch eine ethische Dimension hat. Wenn durch einen neuen Bahnhof der Bahnverkehr nicht verbessert, sondern behindert wird, ist dies eine wichtige schöpfungstheologische Frage, weil wir zur Erhaltung unserer Schöpfung unbedingt einen immer besseren öffentlichen Verkehr brauchen. Wenn durch einen tief ins Grundwasser gesetzten Bahnhof den Bäumen des Stadtparks das Wasser entzogen wird, ist dies nicht nur ein schöpfungstheologisches Thema, sondern auch ein sozialethisches, weil die Frage der Lebensqualität damit angesprochen ist. Wenn Milliarden eingesetzt werden für ein Projekt, das so wie es aussieht viel mehr Schaden als Nutzen bringt, dann stehen Fragen der Gerechtigkeit im Raum, weil es wahrhaftig Bereiche gibt, in denen Milliarden dringend nutzbringend eingesetzt werden müssten.

Das Argument, man wisse doch aber noch gar nicht, ob all diese Befürchtungen zutreffen, ist das entscheidende Argument, warum Kirche sich nicht heraus halten darf. Denn sie muss gerade deshalb (weil man das noch nicht weiß) auf Klärung dieser Fragen drängen. Und zwar bevor wirklich unumkehrbare Fakten geschaffen sind. Kirche muss sich deshalb vor allem für einen sofortigen und vollständigen Baustopp aussprechen – damit die Fragen nicht erst geklärt werden, wenn unwiederbringlich Natur und Stadt beschädigt sind.

Martin Poguntke, 31.10.2010

Kirche hat ein „Wächteramt“ gegenüber dem Staat

Spätestens seit dem „schwarzen“ Donnerstag können die Kirchen meines Erachtens zu S21 keine (scheinbar) neutrale Haltung mehr einnehmen, weil spätestens seit dieser staatlich provozierten Eskalation das Verständnis, das wir als evangelische Christen vom Staat haben, infrage steht. Aus evangelischer Sicht ist es Aufgabe des Staates, Recht zu setzen, das Leben ermöglicht und die Schwachen vor den Starken schützt. Dem Staat steht ein Gewaltmonopol zu, solange und in dem Maße, wie er dieser Aufgabe nachkommt. Die Kirche ihrerseits hat dem Staat gegenüber ein „Wächteramt“: Sie muss sich öffentlich zu Wort melden, den Staat zur Rechenschaft ziehen und notfalls ihm die Loyalität kündigen, wenn er dieser Aufgabe nicht nachkommt oder Zweifel daran bestehen.

Im Fall von S21 wird immer deutlicher: 1. Staatliche Stellen versuchen ein Projekt durchzusetzen, das nicht durch demokratische Gremien legitimiert ist, denn sämtliche Gremien hatten zur Zeit der Abstimmung falsche Kostenberechnungen, falsche Angaben über den angeblichen Nutzen und falsche Angaben über die technischen Risiken vorliegen. 2. Das Projekt entpuppt sich immer deutlicher als eines, das nicht für die Mehrheit der Schwachen von Vorteil ist, sondern für eine Minderheit der Starken, denn es ist lediglich für einige Bauunternehmen, Immobilienhändler und Kreditgeber von Vorteil. Den Zugverkehr, den die Mehrheit (und die Natur) braucht, befördert es nicht, sondern es schränkt ihn im Gegenteil stark ein. 3. Der Staat versucht dieses Projekt gegen die Mehrheit der Bevölkerung – inzwischen mit Gewalt – durchzusetzen.

Aus evangelischer Sicht muss die Kirche ihre Stimme parteilich gegen dieses Handeln des Staates erheben, weil der Verdacht besteht, dass bei diesem Projekt die demokratischen Gremien von einer Minderheit von Wirtschaftsakteuren instrumentalisiert werden. Wenn dies zutrifft, steht nicht weniger als die Legitimität dieses Staatswesens infrage. Um dies zu klären, kann Kirche sich nicht mehr darauf beschränken, zu friedlichem Umgang miteinander zu mahnen. Sondern sie muss den Staat dringend auffordern zu klären, ob von staatlicher Seite aus gelogen wird, ob vonseiten des Staates wirklich der Nutzen für die Schwachen Ziel des Handelns ist und ob er sein Gewaltmonopol rechtmäßig einsetzt.

Eine Kirche, die versuchte, unpolitisch zu bleiben, kann sich nicht auf Christus berufen, von dem wir glauben, dass sein Anspruch alle Lebensbereiche umfasst.

Martin Poguntke, Leserbrief in „evangelisch.de“ vom 5.10.2010