Monatsarchiv: August 2013

Termine im September

Für alle, die nach den Sommerferien wieder einen neuen Anlauf nehmen wollen: Im September starten wir „Theologinnen gegen S21“ wieder durch mit neuen Terminen:

Montag, 9. September, 19.30 Uhr, Gaststätte Kismet, Stuttgart, Kernerplatz 5: Treffen der „TheologInnen gegen Stuttgart 21“.
Wie immer sind neue (und alte) Gesichter sehr willkommen.

Donnerstag, 19. September, 18.15 Uhr, Stuttgart, Mittlerer Schlossgarten, bei der Lusthaus-Ruine: „Parkgebet“, musikalisch begleitet von „Parkblech“.

Montag, 23. September, 19.30 Uhr, Gaststätte Kismet, Stuttgart, Kernerplatz 5: Treffen der „TheologInnen gegen Stuttgart 21“.
Wie immer sind neue (und alte) Gesichter sehr willkommen.

(Bitte immer auch unter „Termine“ nachsehen, was es an neuen Terminen gibt!)

Imaginäres Theologisches Streitgespräch zum Großprojekt Stuttgart 21

Beim 3. Europäischen Forum gegen unnütze und aufgezwungenen Großprojekte stellte Friedrich Gehring im Workshop „Theologie, Kirche und Großprojekte“ das folgende Streitgespräch zur Diskussion:
Moderator : Ich darf zu Beginn die Beteiligten auf dem Podium vorstellen: Zu meiner Rechten sitzt Herr Pfarrer Bückle, er hat sich sehr profiliert zu dem Großprojekt Stuttgart 21 geäußert, in welcher Weise, das werden wir gleich von ihm hören. Ihm gegenüber darf ich Herrn Pfarrer Aufrecht vorstellen, seine Einschätzungen unterscheiden sich stark von den Auffassungen von Pfarrer Bückle, deshalb haben wir ihn eingeladen, damit es ein spannendes Gespräch werden kann. Ich bin Pfarrer Ausgleich, auch mein Name ist gewissermaßen Programm, ich werde versuchen, zwischen den beiden Positionen zu vermitteln, denn Jesus sagt ja: „Selig sind die Friedfertigen“.  So wollen wir auch hier und heute möglichst Konflikte vermeiden. Das sagt Jesus zwar nicht so, aber das ist ja heute die Hauptaufgabe der Kirchen in unserer friedlosen, konfliktreichen Welt. Ich kann mir zu Beginn den Hinweis nicht verkneifen: Sie erleben heute eine Premiere: Noch nie ist es bisher gelungen, zwei Pfarrer mit gegnerischen Positionen zu Stuttgart 21 an einen Tisch zu bringen zu einer theologischen Disputation. Wir dürfen also alle sehr gespannt sein, und ich darf nun Herrn Bückle bitten zu beginnen, denn er war der erste, der sich als Pfarrer zu dem umstrittenen Projekt so geäußert hat, dass es einen öffentlichen Aufschrei gab. Bitteschön, Herr Bückle.
Bückle: Vielen Dank, Herr Ausgleich, für die Einladung. Ich freue mich sehr, endlich einmal zusammenhängend meine theologischen Argumente für Stuttgart 21 vorbringen zu können. Die biblischen Wurzeln meiner Argumente stammen von unserem Apostel Paulus, dem ja gerade die reformatorischen Kirchen so unendlich viel verdanken. Wie wir alle wissen, ist das Projekt Stuttgart 21 in einem vorbildlichen Planungsprozess von allen zuständigen parlamentarischen Gremien beschlossen und schließlich noch durch einen Volksentscheid legitimiert worden. Dass dieser Volksentscheid die Regierungsbeschlüsse bestätigt hat, darf insbesondere in Baden-Württemberg nicht wundern, denn unser christlich geprägtes Musterländle weiß ganz besonders seit der Reformation, dass die Unterordnung unter die Regierung und ihre Beauftragten eine oberste Christenpflicht darstellt, wie wir im wichtigsten Brief des Apostels Paulus, dem Römerbrief, im 13. Kapitel lesen:  „Jedermann sei untertan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat. Denn es ist keine Obrigkeit außer von Gott“. Da nun dieses Projekt Stuttgart 21 von der Obrigkeit beschlossen ist, darf es im Volk keinen Widerstand mehr gegen den Bau dieses Tiefbahnhofs geben, zumindest in dem Teil des Volks, das sich als christlich versteht.
Aufrecht: Lieber Bruder Bückle, es dürfte sich doch inzwischen herumgesprochen haben, dass Römer 13 ein Einschub von späterer Hand in den Römerbrief des Paulus ist, was am Zusammenhang und an der Begrifflichkeit erkennbar ist, die sonst bei Paulus nie auftaucht. Aber selbst wenn es ein Text aus der Hand des Paulus wäre, so steht dem doch die unmissverständliche Herrschaftskritik Jesu gegenüber, wie wir in Markus 10 lesen, wo Jesus warnt: „Ihr wisst, die als Herrscher gelten, halten ihre Völker nieder, und ihre Mächtigen tun ihnen Gewalt an. Aber so ist es unter euch nicht; sondern wer groß sein will unter euch, der soll euer Diener sein; und wer unter euch der erste sein will, der soll aller Knecht sein“. Wir dürfen also in unserem christlichen Land von einer Regierung erwarten, dass sie dient und das Volk fragt, was ihm dient, bevor ein Großprojekt beschlossen wird. Die Kanzlerin hat selbst die Landtagswahl vom 27. März 2011 zur Volksabstimmung über Stuttgart 21 ausgerufen. Diese Wahl hat dazu geführt, dass die Regierung einen Kostendeckel für das Projekt beschlossen hat. Damit war klar, dass das Projekt nicht mehr finanzierbar ist. Eine im Sinne Jesu dem Volk dienende Regierung hätte damit das Projekt aufgeben müssen. Nun haben wir aber miterleben müssen, dass der Bahnaufsichtsrat weitere Milliarden zugesagt hat, ohne von der Bundesregierung daran gehindert zu werden. Der Bund als Alleinaktionär wäre nach Aktienrecht dazu verpflichtet gewesen. Kurz danach hat Bundesverkehrsminister Ramsauer öffentlich verkündet, dass wenn die Landesregierung sich an den weiteren Kosten nicht beteiligt, das Geld von den Bahnkunden aufgebracht werden muss. Eine dem Volk dienende Regierung sieht anders aus.
Bückle: Sie scheinen zu übersehen, wem die Regierung dient. Sie dient z. B. dem Unternehmer Herrenknecht, der die Bohrmaschinen für die Tunnel liefern darf. Das schafft Arbeitsplätze. Außerdem bezahlt Herr Herrenknecht aus seinen Profiten eine halbe Pfarrstelle. So dient die Regierung nicht nur Herrn Herrenknecht, sondern auch dessen Mitarbeitern und den Mitgliedern seiner Kirchengemeinde.
Aufrecht: Sie scheinen dabei das entscheidende zu übersehen: Im Sinne Jesu müsste die Regierung der Knecht aller sein, nicht nur der von Herrn Herrenknecht und seinen Mitarbeitern. Die Regierung schädigt aber die weit überwiegende Mehrheit dadurch, dass sie Herrn Herrenknecht erlaubt, den Bahnkunden Milliarden aus der Tasche zu ziehen für ein völlig überflüssiges Projekt, das den Bahnverkehr für alle auch noch verschlechtert. Herr Herrenknecht mag sein Geld mit vernünftigen Projekten verdienen, die wirklich sinnvoll sind, aber doch nicht mit einem solchen Unsinnsprojekt, bei dem mit massivster Polizeigewalt der Widerstand aus der Bevölkerung niedergeknüppelt werden muss.
Bückle: Ich kann nicht glauben, dass die Bibel sich widerspricht. Und wenn ich in Röm 13 von der Regierung als der Dienerin Gottes lese, die das Schwert nicht umsonst trägt, sondern gerade als Dienerin Gottes die Bösen strafen muss, dann können sie doch nicht irgend ein anderes Bibelwort dagegen anführen. Die Polizisten hätten ihre Knüppel und Wasserwerfer nicht benutzen müssen, wenn sich die Demonstranten gehorsam entfernt hätten.
Aufrecht: Ich halte ihnen nicht irgendein Bibelwort entgegen, sondern ein Wort Jesu. Er ist von seiner Obrigkeit brutal zu Tode gefoltert worden, das Kreuz war die Strafe für Regimegegner, um alle Kritiker abzuschrecken. Und sie wollen dem Wort und dem Kreuzestod Jesu das angebliche Pauluswort von der Obrigkeit entgegensetzen, die zu Recht Gewalt gegen die Untertanen übt und damit Gott dient?
Bückle: Natürlich! Wie wir alle wissen, hat die römische Obrigkeit durch die Kreuzigung Jesu die Sünden der Welt getilgt. Nicht nur Paulus, Jesus selbst hat von seinen Jüngern Gehorsam gegen den Kaiser gefordert, als er sagte: „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist“, nachzulesen in Mk 12.
Aufrecht: Dieses Jesuswort meint das genaue Gegenteil von Gehorsam. Es geht hier um das Steuern zahlen an den Kaiser. Jesus lässt sich von denen, die ihn aufs Glatteis führen wollen, eine kaiserliche Münze zeigen. Jeder Jude damals wie heute versteht sofort weshalb. Das Bild des Kaiser, der Gott sein will, macht die Münze zu einem Götzenbild, das nach den 10 Geboten kein Jude in die Hand nehmen oder gar in der Tasche tragen darf. Das Wort Jesu: Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist, bedeutet deshalb einen Boykott römischen Geldes, eine sehr effektive Form des Widerstands und des Ungehorsams gegen den Kaiser, denn ohne kaiserliches Geld kann er das Volk nicht mehr so einfach unterdrücken und ausbeuten. Deshalb musste Jesus als Regimegegner sterben.
Bückle: Sie verstehen es hervorragend, Jesus die Worte im Mund herumzudrehen.
Ausgleich: Bevor wir allzu spitzfindig werden, möchte ich doch daran erinnern, dass wir über das Projekt Stuttgart 21 sprechen wollten. Was hat der Auslegungsstreit zu Mk 12 mit diesem Bahnhof zu tun.
Bückle: Die Gegner können es einfach nicht verwinden, dass sie verloren haben.
Aufrecht: Das ist jetzt aber kein theologisches Argument. Entscheidend ist, dass Jesus zum Kampf gegen Ausbeutung durch die Mächtigen mit friedlichen Mittel aufruft. Stuttgart 21 ist ein krasses Beispiel für die Ausbeutung breiter Schichten der Bevölkerung durch ein paar wenige Profiteure, die von der Regierung freie Hand bekommen. Die neoliberale Politik will uns einreden, das sei gut für alle. Als Christen müssen wir in der Nachfolge Jesu klarmachen, dass dabei die Armen ärmer und die Reichen reicher werden und dass deshalb Widerstand Christenpflicht ist, alles andere wäre Mammonsdient.
Bückle: Es wird ihnen nichts nützen, wenn sie immer nur den Reichtum schlecht machen wollen. Wohlstand ist uns von Gott geschenkt, wir sollten ihm dafür dankbar sein.
Aufrecht: Dann sollten sie aber dazu sagen, was Jesus von den Reichen erwartet. Nehmen sie doch den reichen Mann, dem Jesus rät, all seine Habe zu verkaufen und den Erlös an die Armen zu verteilen, nachzulesen Mk 10,21.  Oder erinnern sie an das Wort Jesu: „Macht euch Freunde mit dem ungerechten Mammon“, nachzulesen Lk 16,9; oder an die Warnung Jesu: „Ihr könnt nicht Gott und dem Mammon zugleich dienen“, nachzulesen Mt 6,24.
Ausgleich: Also jetzt habe ich fast den Eindruck, dass die Worte Jesu zu theologischen Totschlagargumenten werden. Dazu habe ich einen hübschen Schwank von Johann Peter Hebel mitgebracht:
In Hertingen, als das Dorf noch rothbergisch war, trifft ein Bauer den Herrn Schulmeister im Felde an.
„Ist’s noch euer Ernst, Schulmeister, was ihr gestern den Kindern zergliedert habt: So dich jemand schlägt auf deinen rechten Backen, dem biete den anderen auch dar?“ Der Herr Schulmeister sagt: „Ich kann nichts davon, ich nicht dazu tun.  Es steht im Evangelium“. Also gab ihm der Bauer eine Ohrfeige, und die andere auch, denn er hatte schon lang einen Verdruss auf ihn.
Indem reitet in einer Entfernung der Edelmann vorbei und sein Jäger. „Schau doch nach, Joseph, was die beiden mit einander haben“. Als der Joseph kommt, kommt der Schulmeister, der ein starker Mann war, gab dem Bauern auch zwei Ohrfeigen, und sagte, es steht auch geschrieben: „Mit welcherlei Maß ihr messet, wird euch gemessen werden. Ein voll gerüttelt und überflüssig Maß wird man in euren Schoß geben“. Und zu dem letzten Sprüchlein gab er ihm noch ein halbes Dutzend drein.
Da kam der Joseph zu seinem Herrn zurück und sagte: „Es hat nichts zu bedeuten, gnädiger Herr; sie legen einander nur die heilige Schrift aus.“
Merke: man muss die heilige Schrift nicht auslegen, wenn man’s nicht versteht, am allerwenigsten so. Denn der Edelmann ließ den Bauern noch selbige Nacht in den Turm sperren auf 6 Tage, und dem Herrn Schulmeister, der mehr Verstand und Respekt vor der Bibel hätte haben sollen, gab er, als die Winterschule ein Ende hatte, den Abschied.  Soweit Johann Peter Hebel.
Ich denke, wir sollten so viel Respekt vor der Heiligen Schrift haben, dass wir bei einem Bahnhof, auch wenn er umstritten ist, die Bibel außen vor lassen. Wir können bei technischen Entscheidungen nicht so tun, als habe die Bibel eine klare Weisung, was dabei besser oder schlechter, christlicher oder unchristlicher sein könnte. Es muss doch unter Christen immer vor allem darum gehen, dass wir bei Meinungsverschiedenheiten friedlich bleiben und Toleranz gegenüber den anders denkenden üben. Insofern bedanke ich mich bei Ihnen, meinen Gesprächspartnern, dass Sie friedlich und tolerant ihre Argumente ausgetauscht haben und das Projekt Stuttgart 21 nun seinen friedlichen Gang nehmen kann. Und Ihnen allen danke ich für Ihre Aufmerksamkeit.

3. Europäisches Forum gegen unnütze und aufgezwungene Großprojekte: Beitrag der Theolog/Innen/Christ/Innen gegen S21

Friedrich Gehring und Hans-Eberhard Dietrich boten am 27. Juli 2013 im Rahmen des Forums einen Workshop zu dem Thema an:
„Protestantische Kirchen und Großprojekte“.
Mit ihrem Beitrag wollten sie der Frage nachgehen, inwieweit die evangelische Kirche sich zu dem Thema Großprojekte positioniert hat. Sie gingen aus von der Feststellung, dass sich weder die Württembergische Landeskirche noch der Kirchenkreis Stuttgart inhaltlich zu Stuttgart21 geäußert haben.
Das ist umso erstaunlicher, als die Evangelische Kirche in Deutschland sich durchaus in einer Reihe von „Denkschriften“ zu dieser Problematik geäußert hat.
Aus dem Workshop sollen hier zunächst 2 Texte veröffentlicht werden, die den Workshop eröffnet haben:
1. Einleitung
2. Wie die Kirche einen öffentlichen Diskurs anstoßen kann und welche Kriterien die Denkschriften im Hinblick auf Großprojekte entwickelt haben

1. Text: Einleitung
Hans-Eberhard Dietrich
In unserem Workshop wollen uns darüber Gedanken machen ob die Kirche eine Meinung zu Großprojekten hat, haben muss und wenn ja, wie sie Großprojekten steht und sich entsprechend positionieren kann. Wenn sich die Kirche dazu äußert, verlässt sie nach traditioneller Auffassung ihren primären Bereich: Aufgabe sei ja, sich um das Seelenheil der Menschen zu kümmern. Großprojekte aber seien Aufgabe der Politik.
Nun hat sich aber in den letzten Jahrzehnten ein Konsens dazu herausgebildet, dass sich die Kirchen und natürlich auch einzelne Christen durchaus in die Belange der Politik einmischen dürfen, ja vielleicht auch sollen. Allerdings gehen in der Kirche die Meinungen dazu auseinander, wie das im Einzelnen geschehen soll.

Eine Form der Äußerung /Einmischung sind die sog. Denkschriften.
Denkschriften sind eine Form, mit der sich die offizielle Kirche, meist die EKD, zu einem bestimmten Thema äußert, das in der Öffentlichkeit kontrovers diskutiert wird.
Sie entstanden in der Nachkriegszeit aus dem Erschrecken darüber, dass die Kirchen gegenüber den Verbrechen des Dritten Reiches versagt hatten. Für die Kirche war nun klar, dass sie eine Mitverantwortung für die Erhaltung und Gestaltung der Welt hat, nicht nur die Sorge um das ewige Heil, sondern auch um das irdische Wohl der Menschen.

Inhaltlich kann man sie so charakterisieren
“Kirchliche Äußerungen zu gesellschaftlichen Fragen wol¬len vom christlichen Glauben her das rechte Wort zur rechten Zeit sagen. Sie machen aufmerksam auf gegenwärtige und ab¬sehbare Herausforderungen und Problemlagen. Sie antworten auf aktuelle Fragen, die von gesamtgesellschaftlicher und po¬litischer Bedeutung sind. Sie versuchen, auch selbst wichtige Fragen zu formulieren, Themen neu ins Bewusstsein zu heben und die Horizonte aufzuzeigen, vor denen Antworten gefun¬den werden können. Sie nehmen Stellung zu divergierenden Positionen im öffentlichen Diskurs, zu widerstreitenden In¬teressen und zu notwendigen Güterabwägungen. (FN 1: Denkschrift: Das rechte Wort zu rechten Zeit. 2008, S. 32.)“

An wen richten sich die Denkschriften?
„Zunächst zielen kirchliche Äußerungen auf eine innerkirchliche Klärung und Besinnung. […] Zum anderen leisten kirchliche Stellungnahmen einen Beitrag zur öffentlichen Diskussion bestimmter Fragen; sie versuchen, die Bewusstseins- und Meinungsbildung zu beeinflussen […] und Denkanstöße zu vermitteln.“ (FN 2: Aufgabe und Grenzen kirchlicher Äußerungen zu gesellschaftlichen Fragen. 1970, S. 45. In: Die Denkschriften der Evangelischen in Deutschland, 1978, Band I.)

Wie ist eine Denkschrift aufgebaut?
Zuerst wird ausführlich und sachlich über ein Problem informiert, dann werden biblisch-theologische Maßstäbe in Erinnerung gerufen und schließlich werden konkrete Handlungsvorschläge abgewogen. Zu beachten ist, dass sich die Denkschriften nicht nur an die innerkirchliche Öffentlichkeit, d.h. an die Glaubenden richtet, sondern an alle Menschen, auch an die Nichtchristen. Deshalb wird auf die sachliche Darstellung der Probleme und die logische, vernünftige Herleitung der Argumente großen Wert gelegt.
„Indem sich kirchliche Äußerungen an den einzelnen Christen wenden, fordern sie ihn auf, seinen Glauben auch im politisch-gesellschaftlichen Bereich zu bewähren.“ (A.a.O., S. 65.)
Wie verbindlich sind Denkschriften?
Die Denkschriften sind keine lehramtliche Äußerungen der Kirche, so wie wir es von der katholischen Kirche her kennen. Sondern die Menschen sollen „diese Denkschriften weder kritiklos hinnehmen noch sich voreilig davon distanzieren, sondern sie in verantwortungsbewusster Auseinandersetzung kritisch prüfen.“ ( Vgl. a.a.O., S. 62)

Welche Themen werden in den Denkschriften aufgegriffen?
Die Zahl der Denkschriften und die Themen sind erstaunlich groß. In der Nachkriegszeit ging es sehr oft um die Schulpolitik, die Landwirtschaft, konfessionsverschiedene Ehen, Ehe und Familie. Vor allem das Thema: Bundeswehr, atomare Bewaffnung, Nachrüstung erregten für Jahrzehnte die Öffentlichkeit.

Welche Kritik wird gegen die Denkschriften vorgebracht?
Gegen die Denkschriften und eine kirchliche Einflussnahme zu gesellschaftlichen Verhältnissen erhob sich immer wieder Protest. Es wurde auf die Eigengesetzlichkeit und die Sachzwänge des politischen, wirtschaftlichen und technischen Geschehens hingewiesen.
Dem widersprach die Kirche mit dem Argument, „dass die Predigt des Evangeliums die Welt verändern und zur Nachfolge auch im Bereich des mitmenschlichen Zusammenlebens aufruft. Zu dieser Nachfolge gehört das Nachdenken und Mitdenken über die Stellung und den Beitrag der Christen in Frage des öffentlichen Lebens.“ (Vgl. a.a.O., S. 41.)

Was sagen Denkschriften zu Großprojekten?
Im Zusammenhang mit anderen Themen, insbesondere mit dem Thema Bewahrung der Schöpfung und politisches Engagement von Christen wird auch eine Reihe von Aussagen zu Großprojekten gemacht. Ihre Aufgabe sieht die Kirche in zwei Bereichen. Ganz allgemein gilt: Ein Schweigen der Kirche oder Neutralität verbietet sich, wenn ihr Schweigen einer Verleugnung ihres Glaubens gleichkommt.

Zunächst aber geht es um das Zustandebringen einer öffentliche Diskussion.
Wenn es jetzt um größere Planungsvorhaben geht, z.B. um Großprojekte, die die Belange der Natur (Schöpfung) berühren und tief in die Lebensverhältnisse der Menschen eingreifen wie z.B. einen Flughafen, ein riesiges Messegelände, Kraftwerke usw. dann muss die Kirche, gemeint ist hier die offizielle Kirche, Fragen stellen und Kriterien für eine Entscheidungsfindung aufstellen und diese Kriterien auch auf ihre Verwirklichung hin überprüfen.
Die Kirche muss zunächst gar nicht konkret Stellung nehmen, oder sich gar für die eine oder andere Seite entscheiden. Ihre Aufgabe ist es, einen gesellschaftlichen Diskurs mit allen Interessierten und Beteiligten anzustoßen und dafür zu sorgen, dass er fair und sachlich ausgetragen wird. Sie muss sich dafür einsetzen, dass solche Vorhaben nicht durchgeführt werden, bevor schwerwiegende Zweifel ausgeräumt sind.

Eine Zusammenfassung von insgesamt sieben solcher Kriterien soll in einem zweiten Schritt dargestellt werden.

Was aber haben wir hier in Stuttgart mit S21 erlebt?
Dieser öffentliche Dialog fand vor Beginn nicht statt. Die Kirche in Stuttgart und in der Landeskirche blieben weitgehend stumm. Die Anregungen der Denkschriften wurden nicht nur von wenigen aufgegriffen.
Eine kontroverse theologische Auseinandersetzung über Stuttgart 21 fand bisher nicht statt.

2. Text
Wie die Kirche einen öffentlichen Diskurs anstoßen kann
und welche Kriterien die Denkschriften im Hinblick auf Großprojekte entwickelt haben
Hans-Eberhard Dietrich

Ein Bereich, der in der Gegenwart besondere Aufmerksamkeit auf sich zieht, ist die Verpflichtung, die Schöpfung zu bewahren. Dieses Thema wurde neben vielen anderen Impulsen durch den Anstoß aus der Ökumene ins Bewusstsein gerückt. Der Ökumenische Rat der Kirchen rief 1983 in Vancouver auf der VI. Vollversammlung seine Mitgliedskirchen auf, in einen konziliaren Prozess gegenseitiger Verpflichtung für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung einzutreten.

Wenn es jetzt um größere Planungsvorhaben geht, z.B. um Großprojekte, die die Belange der Natur (Schöpfung) berühren und tief in die Lebensverhältnisse der Menschen eingreifen wie z.B. einen Flughafen, ein riesiges Messegelände, Kraftwerke usw. dann muss die Kirche, gemeint ist hier die offizielle Kirche, Fragen stellen und Kriterien für eine Entscheidungsfindung aufstellen und diese Kriterien auch auf ihre Verwirklichung hin überprüfen.
Die Kirche muss zunächst gar nicht konkret Stellung nehmen, oder sich gar für die eine oder andere Seite entscheiden. Ihre Aufgabe ist es, einen gesellschaftlichen Diskurs mit allen Interessierten und Beteiligten anzustoßen und dafür zu sorgen, dass er fair und sachlich ausgetragen wird. Sie muss sich dafür einsetzen, dass solche Vorhaben nicht durchgeführt werden, bevor schwerwiegende Zweifel ausgeräumt sind.

Fragen für diesen Diskurs könnten z.B. sein: (FN 3:Vgl.: Frieden in Gerechtigkeit für die ganze Schöpfung. Text des Forums: „Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung der Arbeitsgemeinschaft christliche Kirchen in der Bundesrepublik Deutschland und Berlin (West) e.V. Stuttgart 1988, S. 103-106. EKD Texte 27.)
• Gibt es Alternativen, die weniger in die Natur eingreifen? Dann müssen sie ergriffen werden.
• Zieht dieses Vorhaben tiefgreifende, dauerhafte und nicht wiedergutzu¬machende Schäden nach sich?
• Sind die Auswirkungen des Vorhabens in ihrer zeitlichen und räumlichen Erstreckung übersehbar?
• Sind Nebenfolgen so erheblich, dass sie nicht in Kauf genommen werden können?
• Ist die Würde der Menschen und die Artenvielfalt durch dieses Vorhaben bedroht?

Im Folgenden werden aus kirchlichen Denkschriften sieben Kriterien aufgezählt. Sie erheben nicht den Anspruch auf Vollständigkeit. Sie können aber eine gute Grundlage für einen öffentlichen Diskurs sein.

1. Entscheidungen von großer Tragweite müssen zuvor öffentlich debattiert werden
In der Kirche wird die Überzeugung der Politik geteilt, dass Entscheidungen von großer Tragweite, insbesondere wenn sie tief in die Lebensverhältnisse vieler Menschen und der Natur eingreifen, zuvor auf breiter Grundlage und unter Einbeziehung aller gesellschaftlicher Gruppen samt Bürgerinitiativen diskutiert werden müssen („ was alle angeht, soll auch von allen entschieden werden“) und zwar mit offenem Ausgang und ohne vorherige Festlegungen. (Vgl. a.a.O., S. 105f.)
Großprojekte müssen bei ihrer Planung und Durchführung gewissen Kriterien entsprechen, ehe sie ethisch gerechtfertigt sind.
Beschlüsse, die mit weitreichenden Konsequenzen in die Lebensverhältnisse der Menschen eingreifen, verlangen eine möglichst breite und direkte Zustimmung und eine intensive Beteiligung aller betroffenen Bürger. Besonderes Augenmerk ist bei solchen Entscheidungen auf das Verfahren zu richten, wie sie zustande kommen. (FN 4:Vgl. Denkschrift der EKD: Evangelische Kirche und freiheitliche Demokratie. Der Staat des Grundgesetzes als Angebot und Aufgabe, 1985, S. 31f.)

2. Bei der Entscheidungsfindung der politischen Entscheidungsträger müssen Bürgerinitiativen einbezogen werden
Dieser Diskurs kann nicht nur innerhalb der Parteien und zwischen ihnen erfolgen, sondern muss auch Bürgerinitiativen mit einbeziehen, weil damit die Chance gegeben ist, dass wirklich alle wichtigen Gesichtspunkte ins Gespräch kommen. (Vgl. a.a.O., S. 31.)

3. Die Prüfung von Alternativen
Ökonomische Interessen dürfen nicht Vorrang vor ökologische Interessen beanspruchen. Wir müssen in Wirtschaft und Politik auf die Überprüfung und Einhaltung folgender Kriterien zu drängen: Umweltverträglichkeit, Sozialverträglichkeit, Generationenverträglichkeit. Schon die Entstehung von Umweltschäden gilt es zu vermeiden. Wir müssen uns am Maßstab des Lebens und dessen, was dem Leben dient, orientieren. (Vgl. FN 1, a.a.O., S. 104f.)

4. Eingriffe in die Natur dürfen nur begrenzt vorgenommen werden
Eingriffe in den Haushalt der Natur sind möglichst sparsam und begrenzt vorzunehmen. Der Natur muss möglichst viel Spielraum für selbstheilende Eigenkräfte belassen werden. (FN 5:Vgl. Verantwortung wahrnehmen für die Schöpfung. Gemeinsame Erklärung des Rates der EKD und der Deutschen Bischofskonferenz 1985, Zi. (37).)

5. Bei Eingriffen in die Natur muss die Kirche theologische Gesichtspunkte, z.B. „Bewahrung der Schöpfung“ und „Ehrfurcht vor allem Leben“ zur Geltung bringen
Wenn es bei Großprojekten um gravierende Eingriffe in die Natur geht, muss die Kirche besonders sorgfältig Alternativen prüfen und gewichtige theologische Gründe wie z.B. „Bewahrung der Schöpfung“ (1. Mose 2, 15) und „Ehrfurcht vor allem Leben“ zur Sprache bringen. (Vgl. FN 1, a..a.O., S. 103f.)

6. Gefahren müssen ernst genommen, vorausschauend abgewogen werden
Dies gilt besonders für langfristige und unumkehrbare Wirkungen. Weil die heute möglichen und erforderlichen Eingriffe aber tiefer in das Gefüge der Umwelt eingreifen, sind Neben- und Folgewirkungen genau abzuwägen. Dies bedeutet nicht den Verzicht auf jegliches Risiko, wohl aber die Einschränkung und Verteilung möglicher Risiken. Wir können nicht darauf bauen, alles werde schon gut gehen. (Vgl. FN 3, a.a.O., Zi (36).)

7. Abwägen von Schaden und Nutzen Ein kurzfristiger Nutzen darf keine langfristigen Schäden verursachen. Fragen der Umkehrbarkeit und der Regenerierbarkeit von Naturgütern sind ebenso mit zu bedenken wie die Interessen der heutigen und der künftigen Generationen. (Vgl. FN 3, a.a.O., Zi (38).)

Ansprache beim Parkgebet am 1.8.13 von Gunther Leibbrand

Liebe Parkgemeinde,

ich versuche immer, ein aktuelles Ereignis oder Ergebnis von Überlegungen aus unserer Bewegung gegen S 21 im Lichte unseres biblischen Glaubens zu bedenken. Heute möchte ich das zu einer Überlegung tun, die das „Dritte Europäische Forum über unnütze und aufgezwungene Großprojekte“ herausgearbeitet hat – in einer Debatte am vergangenen Sonntagmorgen über „Ökonomische Hintergründe von Großprojekten“, an der ich auch teilgenommen habe: Großprojekte werden nicht gebaut, obwohl sie viel Geld verschlingen, sondern weil sie viel Geld verschlingen. Denn die herrschende Wirtschaftsweise hat ja zum Ziel, Geld zu machen, mehr Geld. Und deshalb zählt bei einem Projekt nicht die Steigerung des Gebrauchswertes einer Sache, sondern ihres Warenwertes. Wie schmerzlich uns diese Wahrheit hier bewusst wird, zeigt die nach oben offensichtlich offene Summe, die „Stuttgart 21“ einmal kosten  wird. Es ist sozusagen oberste Tugend im Kapitalismus, möglichst immer mehr zur Ware zu machen, die immer schneller zirkuliert. Und besonders effektiv sind hierfür natürlich Großprojekte.

Die am Gebrauchswert einer Sache orientierte Vernunft geht nicht zusammen mit dem immer schneller finanziell zu verwertenden Geldwert einer Sache. Dabei entsteht immer mehr Geld, das wieder investiert werden will, damit es zu noch mehr Geld wird. Neulich hat mir jemand gesagt, dass gerade in der Bauwirtschaft neue Häuser erst gar nicht mehr so erbaut werden würden, dass sie viele Jahre halten. Von elektronischen Geräten wissen wir, dass sie immer öfter innerhalb der Garantiezeit schon kaputt gehen, weil Soll-Bruch-Stellen planmäßig eingebaut werden.

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3 Jahre Parkgebet

Am 15. August ist dieses Jahr beim „Parkgebet“ (noch) keine Sommerpause. Denn an diesem Tag jährt sich zum 3. Mal der Start der „Parkgebete“. 3 Jahre sind es inzwischen, dass ununterbrochen – anfangs wöchentlich, seit einiger Zeit 14-täglich – sich eine bunt gemischte Gemeinde von (zurzeit ca. 100) Menschen im Schlossgarten versammelt, um ihren Einsatz gegen die Zerstörung der Stadt durch Stuttgart 21 und für mehr Demokratie geistlich und theologisch zu begleiten und einander seelsorgerliche Hilfe zu geben.
Diesen Donnerstag werden Guntrun Müller-Enßlin und Sylvia Rados im Parkgebet auch an diese Geschichte erinnern und dieses durchaus zwiespältige Jubiläum gebührend begehen:
Donnerstag, 15. August, 18.15 Uhr,
Schlossgarten Stuttgart
(bei der Lusthausruine).
Wie gewohnt werden die Bläser von „Parkblech“ für angemessene musikalische Begleitung sorgen.

Guntrun Müller-Enßlin