Archiv der Kategorie: Bassler

Drei Oberbürgermeister überlebt – Erfahrungen eines Uralt-Stadtrats der SPD

Ich habe alle drei Oberbürgermeister, die seit 1945 die Stadt regierten, erlebt und erlitten.

1.  Arnulf Klett von 1968 bis 1974
Klett war ein Auto-Narr, fuhr Daimler und Porsche, schlug die dafür notwendigen Schneisen durch Stuttgart, räumte die Trümmer der zerbombten Stadt beiseite und gleich auch noch ein paar übrig gebliebene architektonische Perlen: das Kaufhaus Schocken, das Alte Steinhaus für vier Parkplätze und das Kronprinzenpalais für den berühmten Kleinen Schlossplatz, immer unterstützt von der damals größten Gemeinderatsfraktion, der SPD.
Klett hatte Affären, z.B. den Perserteppich, den er sich von Daimler-Benz zum 50. schenken ließ, was ihn heutzutage zum Rücktritt zwänge. Damals wurde er freigesprochen. Weiterlesen

Baustellen: Bahnhof und SPD – Siegfried Bassler

Mitbürger, Freunde, Stuttgarter, hört mich an!

Die Front unserer Widersacher wankt, das Kartell der Befürworter bröckelt, das Imperium der Macher zeigt Risse. Am letzten Mittwoch hat es noch einmal seine hässliche Fratze gezeigt, ungeschminkt, und den Abriss des Nordflügels dekretiert.

„Nieder mit euch in den Staub!“ lautete die Botschaft an uns. Euch braucht man nicht zu beachten, euch muss man nicht respektieren, euch darf man sogar demütigen!

Doch am Freitag war der Schock überwunden und 50.000 selbstbewusste Bürger haben den Landtag eingekesselt, Bannmeile hin, Bannmeile her. Die unheilige Dreifaltigkeit Mappus, Schuster, Grube hat ihre gläubigen Anhänger verloren. Das Imperium wankt. Mappus muss um seine Mehrheit bangen. Die erste Wahl, die er als Ministerpräsident zu bestehen hat, droht er zu verlieren. Darum muss er nun einlenken.

Schuster, der Wortlose, Hilflose, Orientierungslose, hat sich nun auch noch als ganz und gar stillos erwiesen. In der selben Stunde, da die Bagger den Nordflügel einzureißen begannen, hat er mit der hiesigen Schicki-Micki-Szene die Eröffnung des Weindorfs gefeiert. Mehr Provokation, mehr Stillosigkeit, mehr Zynismus geht nicht. Man könnte sich hier in der Tat an spätrömische Dekadenz erinnert fühlen.
Aber wir haben dem Schuster die Suppe gründlich versalzen. Schaut euch das gespäßige Schauspiel im Internet an, da habt ihr was zu lachen. Wie soll dieser sprachlose Mensch, der in der Stunde der Krise vollkommen versagt hat, diese Stadt noch zwei Jahre lang führen? Das geht doch nicht! Jetzt ist er abgereist nach Chile wie Honnecker seinerzeit, und der ist ja nicht wiedergekommen.

Der Herr Grube gerät durch die unaufhaltsam steigenden Kosten und das miserable Image der Firma, die er leitet, unserer Bundesbahn, immer mehr unter Druck. Jetzt sagt er: „Wir wollen mit diesen Gesprächen ein Signal der Vernunft an die Bevölkerung geben.“ Uns soll es recht sein, wenn er nun auch Vernunft annimmt.
Ob er es ehrlich meint, wird man ja sehen. Ist es nicht erschreckend, dass man von der Gegenseite nichts anderes erwartet als Trickserei und Täuschung? Es könnte ja sein, dass er die Gespräche bis zum Jahresende hinzieht und dann platzen lässt in der Hoffnung, unser Widerstand werde erlahmen, wenn es erst einmal kalt und dunkel wird.
Vorsicht ist geboten, denn das Imperium wankt. Die Ruine des Nordflügels mahnt.

Jetzt muss ich über eine andere Baustelle sprechen, die Stuttgarter SPD.

Seit 51 Jahren bin ich Mitglied dieser Partei und bleibe es! Sonst hätte ich nicht die Freiheit, sie heute harsch zu kritisieren.1959 eingetreten, um gegen Adenauers rheinischen Klüngel und für Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität, die Grundwerte der SPD zu kämpfen. Dann 12 Jahre im Stuttgarter Gemeinderat, vier Jahre davon (1972 – 1976) Fraktionsvorsitzender.

Als ich von 1996-1999 noch einmal in den Gemeinderat kam, vom 60. auf den 18. Platz vorgewählt, fing das mit Stuttgart 21, dem Monsterprojekt im Herzen Europas, gerade an.

Ich gestehe, dass auch ich die Grausamkeiten, die durch dieses babylonische Vorhaben verursacht werden, nicht gleich begriffen habe. Die Befürworter, der Herr Heimerl, Professor an der hiesigen Uni, und der Herr Kußmaul, auch Professor und Fraktionsführer der SPD, haben uns die Sache dadurch schmackhaft zu machen versucht, dass sie behaupteten, man sei ein paar Minuten schneller in Bratislava, wenn man die unverzichtbare Magistrale von Paris nach Budapest ausbaue. Auf dieses sensationelle Angebot wollten natürlich die meisten Gemeinderäte Stuttgarts, des Partners der Welt, nicht verzichten.

In der Gemeinderats-Debatte nach der Entscheidung der Jury im Herbst 1997 habe ich zwar meine Skepsis gegen das Projekt zum Ausdruck gebracht, aber dann doch mit der Fraktion gestimmt. Das war ein Fehler, das war zuviel Rücksicht auf die Partei, das habe ich bald bereut.

Dass durch den Plan von Ingenhoven, diesem arroganten Architekten, unser schöner Hauptbahnhof kaputt gemacht würde, haben damals nicht einmal die Architektur-Professoren in der Jury gemerkt. Man hat die Katarakte in der Planung elegant umschifft, d.h. die unvermeidlichen Scheußlichkeiten einfach totgeschwiegen.

Es ist keine Schwäche, wenn man seine Meinung ändert, weil man dazugelernt hat, vielmehr ein Zeichen von Lernfähigkeit und Stärke. Immer mehr Architekten tun es gerade, wie der Herr Lederer und zuletzt Frei Otto.
Nichts dazugelernt hat leider unser verehrter Alt-Oberbürgermeister Manfred Rommel, der sich jetzt vor den Karren der Stuttgart 21-Befürworter spannen lässt. Nicht genug damit, dass er uns seinerzeit den Herrn Schuster als besten aller Kandidaten empfohlen hat, bezeichnet er jetzt das Monster-Projekt als „unverzichtbar“.
Ich habe vor ein paar Jahren ein Büchlein mit Schüttelreimen veröffentlicht, dass ich ihm, dem OB gewidmet habe. Es trägt den Titel: „Der macht hier manchmal Schwaben-Witze, dass ich aus allen Waben schwitze.“ Subsummieren wir sein Eintreten für S 21 unter die Rubrik „Schwabenwitze“ und erklären das Thema im Hinblick auf sein ehrwürdiges Alter für erledigt.

Ich bin vor 77 Jahren in Stuttgart geboren und hier aufgewachsen, ich habe als junger Mensch die furchtbaren Fliegerangriffe erlebt, in denen all die schönen Gebäude des alten Stuttgart, die in Jahrhunderten entstanden waren, zerstört wurden Deshalb möchte ich heute helfen zu verhindern, dass die wenigen Zeugen der Vergangenheit, die den Krieg überstanden haben, jetzt einer geschichtsvergessenen Planung geopfert werden.

Es ist spät, gewiss, aber noch nicht zu spät, es ist fünf vor zwölf, aber die Geisterstunde hat noch nicht geschlagen. Ich weiß, dass viele SPD-Mitglieder mit der sturen Festlegung der Fraktion auf das Koste-es-was-es-wolle-Projekt nicht einverstanden sind, vielen begegne ich seit Wochen bei jeder Demonstration, es gibt eine schweigende Mehrheit der Genossen, denen es geht wie mir, sie genieren sich im Augenblick, bei diesem Haufen zu sein. Und auch zwei unserer Landtagskandidaten, der Dejan Perc und der Matthias Tröndle fordern Baustopp und Bürgerbefragung.
Wenn der Genosse Reißig, Kreisvorsitzender der SPD, von Hermann Scheer Solidarität einfordert, darf man schon fragen: Solidarität, wofür eigentlich?
Solidarität für ein Projekt, das von der Mehrheit der Bevölkerung abgelehnt wird, weil es in seiner Großspurigkeit ganz und gar nicht schwäbischer Mentalität entspricht?
Solidarität für ein Projekt, das den Befürwortern keine Bürgerbeteiligung wert war?
Vor drei Jahren habe ich dem Fraktionsvorsitzenden der SPD dringend geraten, ein Bürgerbegehren zu beantragen: Antwort: Das sei juristisch gar nicht möglich. Man wollte es nicht einmal versuchen. Formaljuristische Beschwichtigungen hat man über den politischem Willen gestellt.

Solidarität für ein Projekt, von dem die Macher zurecht befürchten, dass es bei einem Bürgerentscheid mit großer Mehrheit abgelehnt würde? Solidarität ist einer der ehernen Werte der Sozialdemokratie von Anfang an. Solidarität kommt aus dem Mitgefühl mit den Schwachen und Benachteiligten. Der Genosse Reißig versteht unter Solidarität aber nichts anderes als Fraktionszwang: Die da oben wissen, was richtig ist, und wir Zurückgebliebenen da unten haben ihnen gefälligst zu folgen.
Leider geht es gerade so weiter. Die Genossen Schmiedel und Drexler von der Landtagsfraktion versuchen jetzt die parteiinternen Gegner von S21, den Hermann Scheer, den Peter Conradi und alle, die sich aus der Deckung wagen, als „Einzelmeinungen“ abzuqualifizieren. Ich befürchte, dass die Befürworter der SPD nach der nächsten Gemeinderatswahl eine Einzelmeinung im Stuttgarter Rathaus bilden werden, wenn nur noch ein einziger übriggeblieben ist.

Ein Demonstrant, Mitglied der SPD, hat mir dieser Tage einen Zettel zugesteckt mit einem schönen Spruch von Egon Bahr, dem Weggenossen Willi Brandts: „Wer alles für richtig erklärt, was die eigene Partei macht, ist entweder strohdumm oder total verlogen.“

Ich habe die SPD-Mitglieder, die gegen S 21 sind, gebeten, heute etwas Rotes zu tragen, damit man sieht, wie viele es sind. Außerdem liegen an der Mahnwache Listen für SPD-Mitglieder auf, in die sie sich als Gegner des Projekts eintragen können.

Die Quittung für ihre Sturheit und Bürgerferne haben CDU und SPD bei der letzten Gemeinderatswahl erhalten. Leider nicht die FDP. Es werden aber noch mehr Quittungen ausgestellt werden, denn es kommen noch mehr Wahlen, die nächste am 27.März nächstes Jahr zum Landtag.

Mit dem Abbruch hat das Imperium ja schon angefangen, wenn nun noch das große Verkehrschaos dazukommt, wenn Hunderte von Lastwagen durch die Innenstadt fahren, wenn die Stadtbahnhaltestelle Staatsgalerie platt gemacht wird, wenn die uralten Bäume in den Anlagen umgehauen werden, dann möchte ich nicht Kandidat einer Partei sein, der diese Barbarei begründen und verteidigen muss. Es ist ein Szenario des Schreckens, aber man kann nicht nur zu Tode erschrecken, man kann auch angesichts des Schreckens zum Nachdenken, zum Umdenken kommen, Ich hoffe, dass die Genossen und Genossinnen der SPD-Gemeinderatsfraktion einen heilsamen Schreck erleben und einsehen, dass der Preis für diesen Bahn-Größen-Wahn in jeder Hinsicht zu hoch ist: für die Stadt, für die Bürger und erst recht für die SPD.

Als ich Fraktionsvorsitzender war, hatte die SPD im Stuttgarter Gemeinderat 27 Sitze von 60, heute sind es 10. Es wird langsam Zeit für meine Genossen, sich ein anderes Volk zu wählen. Ich hoffe, dass ich am 28.März nächsten Jahres nicht in der Zeitung lesen muss: „SPD in Stuttgart knapp über 5% “
Damit das nicht passiert, schicke ich einen Stoßseufzer zum Himmel hinauf:
„O Herr, schmeiß Hirn ra, ond an bsonders großa Batza ens Fraktionszemmer von der SPD em Stuagerter Rothaus.“

Lasst mich zum Schluss noch etwas Versöhnliches, Hoffnungsvolles sagen:
Ich bin 1933 in dieser Stadt geboren und habe den größten Teil meiner Lebenszeit hier zugebracht, aber so einen schönen Sommer habe ich, trotz des vielen Regens, in 77 Jahren  nicht erlebt. Es ist doch so etwas wie ein demokratisches Sommermärchen, dessen Zeugen wir gerade sind.
Ich habe unsere Stadt und die Mehrzahl ihrer Bürger immer für ziemlich spießig, muffig und provinziell gehalten und war bei politischen Entscheidungen meistens auf Seiten der Minderheit, bei denen, die sich zwar im Recht sahen, aber  trotzdem verloren haben.
Und nun ist auf einmal so etwas wie ein Wunder geschehen.So viele Menschen, Frauen und Männer, Junge und Alte, Einheimische und Reingeschmeckte, Feuerbacher, Heslacher und Degerlocher sind mit einem Mal aus ihrer politischen Unmündigkeit herausgetreten und haben ein großes gemeinsames Ziel gefunden: die Erhaltung unseres schönen Bahnhofs, eines Stücks des guten alten Stuttgart. Was die Politiker jeder Couleur so oft und so gerne fordern, man müsse sich auf Werte besinnen und sie hochhalten, das ist hier geschehen.

Unser Bahnhof steht für einen solchen Wert, gut und schön, bewährt und praktisch, ein Stück Heimat, ein Stück von uns, das wir uns nicht nehmen lassen.  Wir sind die echten Konservativen, die Wert-Konservativen.
Ich gehe jedes Mal beseligt von der Demonstration nach Hause, weil ich es nie für mögliche gehalten hätte, dass meine Landsleute zu einem solchen Fest des Widerstands  fähig wären und das zweimal in der Woche.
Unsere Widerstandsfeste sind Signale, die man in der ganzen Bundesrepublik hört und sieht und wie auch immer es ausgeht, sie werden eine bleibende, beispielhafte Wirkung haben. Ja wir können wie Goethe nach der Kanonade von Malmy, das war 1792, sagen, rufen, schreien:  „Von hier und heute geht eine neue Epoche der demokratischen Geschichte aus und ihr könnt sagen, dass ihr dabei gewesen seid.“

Rede von Siegfried Bassler, Pfarrer i.R., am 30.08.2010 bei der Montagsdemo