Monatsarchiv: Oktober 2010

Kirche kann nicht unparteiisch sein

Darf Kirche in der Auseinandersetzung um das Bahnprojekt Stuttgart 21 Partei ergreifen? Muss sie nicht für alle da sein? So fragen immer wieder Christen in Leserbriefen oder Gesprächen. Dahinter verbergen sich zwei Missverständnisse: das eine, Gott liebe doch alle Menschen, dann dürfe man doch auch als Mensch nicht einseitig Partei ergreifen. Das andere, es gebe überhaupt die Möglichkeit, unparteiisch zu sein.

Für das zweitgenannte Missverständnis gebrauche ich gerne das Bild: Ich sehe auf dem Schulhof zwei Jungs raufen: einen muskulösen 8.-Klässler mit einem mageren 2.-Klässler. Wollte ich mich in dieser Situation neutral verhalten und in der Zuschauerrolle verharren – für wen würde ich damit faktisch Partei ergreifen? Eben: Durch meine neutrale Haltung würde ich faktisch den Starken unterstützen. Das gilt für alle auch gesellschaftlichen Situationen: Sobald ich mich neutral verhalte, unterstütze ich den Stärkeren, ob ich will oder nicht.

Und was ist mit Gott, der doch alle Menschen liebt? Durch unsere Bibel ziehen sich wie zwei rote Fäden zwei Überzeugungen: 1. Gott liebt alle Menschen, 2. Gottes besonderer Schutz gilt den Schwachen. Wir nennen das die „vorrangige Option für die Schwachen“. Es gibt keinen alttestamentlichen Propheten, der sich nicht an diesem Maßstab orientiert hätte. Kern christlicher Ethik ist: Wir stehen grundsätzlich auf der Seite der Schwachen. Dass Gott alle Menschen liebt, bedeutet für uns: Auch den Starken begegnen wir mit Liebe und achten deren Würde. Aber wir ergreifen Partei für die, die sich unter ihnen beugen müssen.

Was heißt das für die augenblicklichen Auseinandersetzungen um das Bahnhofsprojekt Stuttgart 21? Wo sind da die Starken, wo die Schwachen?

Stuttgart 21 wurde auf den Weg gebracht und wird betrieben von einem begrenzten Kreis von Wirtschaftsakteuren auf der einen Seite und Inhabern politischer Ämter auf der anderen. Diese Allianz ist nicht typisch für Stuttgart 21, aber sie ist auch bei diesem Projekt die entscheidende Größe. Das ist dann kein wirkliches Problem, wenn diese Allianz sich rückbindet an die Interessen der Bevölkerung, in deren Namen sie zu handeln vorgibt.

Genau diese Rückbindung muss auch Kirche fordern. Mit einer neutralen Haltung würde sie den Mächtigen in Staat und Wirtschaft das Feld überlassen. Die „Schwachen“ sind in dieser Situation die Wählerinnen und Wähler, die zwar vor langer Zeit ihre Stimmen abgegeben haben, aber nun zusehen müssen, dass mit ihren Stimmen gar nicht in ihrem Interesse gehandelt wird.

Das Argument, das sei ja gar nicht erwiesen, dass hier nicht im Interesse der Wähler gehandelt werde, ist nur berechtigt, wenn man mit ihm die Forderung verbindet, dass geklärt wird, ob hier der Wille der Wähler geschehe.

Kirche darf deshalb nicht nur als Moderator auftreten, der dafür sorgt, dass die Akteure friedlich miteinander umgehen. Sondern Kirche muss deutlich machen, wo sie steht: auf der Seite derer, die nicht die Macht haben, mit einem Federstrich Fakten zu schaffen; die nicht die Macht haben, ihre einmal gefällten Beschlüsse mit dem Gewaltmonopol des Staates umsetzen zu lassen; die nicht die Macht haben, diejenigen in ihrem Lauf aufzuhalten, die mit formalem Recht im Hintergrund meinen, keine Rechenschaft ablegen zu müssen über ihr tun.

Kirche – wenn sie Kirche Christi sein will – muss erkennbar parteiisch sein für die Schwachen.

Martin Poguntke, 31.10.2010

Kirche muss für Baustopp sein

Die Kirche müsste meines Erachtens sich dringend für einen sofortigen Baustopp des Bahnprojekts Stuttgart 21 einsetzen. Wenn ihr Angebot, als Vermittler zum Frieden beitragen zu wollen, Sinn machen soll, darf sie nicht zusehen, wie unumkehrbare Fakten geschaffen werden, noch bevor entscheidende Fragen geklärt sind.

Was ich an kirchlichen Äußerungen lese, ist durchweg das Bemühen, sich heraushalten zu dürfen oder gar zu müssen: Es sei durch S21 nicht die Menschenwürde bedroht. Es stünden lediglich verkehrswissenschaftliche oder geologische Fragen zur Diskussion, zu denen Kirche nichts beizutragen habe etc.

Das übersieht, dass jede dieser Fragen auch eine ethische Dimension hat. Wenn durch einen neuen Bahnhof der Bahnverkehr nicht verbessert, sondern behindert wird, ist dies eine wichtige schöpfungstheologische Frage, weil wir zur Erhaltung unserer Schöpfung unbedingt einen immer besseren öffentlichen Verkehr brauchen. Wenn durch einen tief ins Grundwasser gesetzten Bahnhof den Bäumen des Stadtparks das Wasser entzogen wird, ist dies nicht nur ein schöpfungstheologisches Thema, sondern auch ein sozialethisches, weil die Frage der Lebensqualität damit angesprochen ist. Wenn Milliarden eingesetzt werden für ein Projekt, das so wie es aussieht viel mehr Schaden als Nutzen bringt, dann stehen Fragen der Gerechtigkeit im Raum, weil es wahrhaftig Bereiche gibt, in denen Milliarden dringend nutzbringend eingesetzt werden müssten.

Das Argument, man wisse doch aber noch gar nicht, ob all diese Befürchtungen zutreffen, ist das entscheidende Argument, warum Kirche sich nicht heraus halten darf. Denn sie muss gerade deshalb (weil man das noch nicht weiß) auf Klärung dieser Fragen drängen. Und zwar bevor wirklich unumkehrbare Fakten geschaffen sind. Kirche muss sich deshalb vor allem für einen sofortigen und vollständigen Baustopp aussprechen – damit die Fragen nicht erst geklärt werden, wenn unwiederbringlich Natur und Stadt beschädigt sind.

Martin Poguntke, 31.10.2010

Kirche hat ein „Wächteramt“ gegenüber dem Staat

Spätestens seit dem „schwarzen“ Donnerstag können die Kirchen meines Erachtens zu S21 keine (scheinbar) neutrale Haltung mehr einnehmen, weil spätestens seit dieser staatlich provozierten Eskalation das Verständnis, das wir als evangelische Christen vom Staat haben, infrage steht. Aus evangelischer Sicht ist es Aufgabe des Staates, Recht zu setzen, das Leben ermöglicht und die Schwachen vor den Starken schützt. Dem Staat steht ein Gewaltmonopol zu, solange und in dem Maße, wie er dieser Aufgabe nachkommt. Die Kirche ihrerseits hat dem Staat gegenüber ein „Wächteramt“: Sie muss sich öffentlich zu Wort melden, den Staat zur Rechenschaft ziehen und notfalls ihm die Loyalität kündigen, wenn er dieser Aufgabe nicht nachkommt oder Zweifel daran bestehen.

Im Fall von S21 wird immer deutlicher: 1. Staatliche Stellen versuchen ein Projekt durchzusetzen, das nicht durch demokratische Gremien legitimiert ist, denn sämtliche Gremien hatten zur Zeit der Abstimmung falsche Kostenberechnungen, falsche Angaben über den angeblichen Nutzen und falsche Angaben über die technischen Risiken vorliegen. 2. Das Projekt entpuppt sich immer deutlicher als eines, das nicht für die Mehrheit der Schwachen von Vorteil ist, sondern für eine Minderheit der Starken, denn es ist lediglich für einige Bauunternehmen, Immobilienhändler und Kreditgeber von Vorteil. Den Zugverkehr, den die Mehrheit (und die Natur) braucht, befördert es nicht, sondern es schränkt ihn im Gegenteil stark ein. 3. Der Staat versucht dieses Projekt gegen die Mehrheit der Bevölkerung – inzwischen mit Gewalt – durchzusetzen.

Aus evangelischer Sicht muss die Kirche ihre Stimme parteilich gegen dieses Handeln des Staates erheben, weil der Verdacht besteht, dass bei diesem Projekt die demokratischen Gremien von einer Minderheit von Wirtschaftsakteuren instrumentalisiert werden. Wenn dies zutrifft, steht nicht weniger als die Legitimität dieses Staatswesens infrage. Um dies zu klären, kann Kirche sich nicht mehr darauf beschränken, zu friedlichem Umgang miteinander zu mahnen. Sondern sie muss den Staat dringend auffordern zu klären, ob von staatlicher Seite aus gelogen wird, ob vonseiten des Staates wirklich der Nutzen für die Schwachen Ziel des Handelns ist und ob er sein Gewaltmonopol rechtmäßig einsetzt.

Eine Kirche, die versuchte, unpolitisch zu bleiben, kann sich nicht auf Christus berufen, von dem wir glauben, dass sein Anspruch alle Lebensbereiche umfasst.

Martin Poguntke, Leserbrief in „evangelisch.de“ vom 5.10.2010

Egon Hopfenzitz – ehem. Leiter des Hauptbahnhofs – schreibt an den CDU-Landesvorsitzenden Mappus, Oktober 2010

Sehr geehrter Herr Landesvorsitzender Mappus,

meine Zeilen richten sich an den Landesvorsitzenden der Christlich-Demokratischen Union (CDU) in Baden Württemberg.
Ich bin 80 Jahre alt und war von 1981 – 1994 Leiter des Stuttgarter Hauptbahnhofs und bis dahin auch CDU-Wähler.
Die Vorgänge um S 21, die fehlerhaften Aussagen zum Bonatzbahnhof, die
laufenden Kostensteigerung dieses Immobilienprojekts und das wissentliche
Vorenthalten wichtiger Informationen wie das SMA-Gutachten aus Zürich haben mich inzwischen zum von Ihnen gescholtenen „Berufsdemonstranten“ gegen S 21 gemacht.
Am Stichtag 30. September 2010 zur Baumfällaktion in Rambo-Manier
unter dem Schutz übermächtiger, mit Wasserkanonen, Schlagstöcken und Pfefferspray aufgerüsteten Polizei, wurde ich im Schloßpark gedrückt, gestoßen, geschoben, beschimpft und durchnäßt, obwohl ich im Park weder Flaschen noch Pflastersteine zum Werfen vorfand.
Ich wäre natürlich auch lieber auf dem Volksfest beim Bier gesessen. Wenigstens fanden wir seelischen Beistand schon allein durch das Wissen über die Anwesenheit von Pfarrerin Ensslin und Stadtdekan Brock, womit ich nun zum Ziel meines Schreiben komme.
Sie sind Landesvorsitzender einer wenigstens dem Namen nach angeblich
christlich geprägten Partei und noch nie ist Ihre Partei so vom christlichen
Weg abgekommen wie in den letzten Tagen:
Keine Befriedung vor Ort , statt christlicher Ideale oder wenigsten christlicher Regeln: Härte, Behauptungen ohne eigene Erfahrung vor Ort mit jetzt verbalen Angriffen auf Demonstranten.
Sie sollten entweder das Wort „christlich“ aus dem Namen Ihrer Partei entfernen oder eine eigene Rambo-Partei gründen oder sich von den beiden genannten Pfarrern wieder einmal über den Wert christlicher Tugenden wie Wahrheit und Friedfertigkeit unterrichten lassen.

Das wünscht Ihnen
Egon Hopfenzitz

PS:  Das Gleiche gilt auch für Ihre Parteimitglieder Rech und Hauk.

Kursive Hervorhebungen durch den Redakteur.

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„Sucht das Beste für die Stadt“ – Martin Klumpp

Liebe engagierte Bürgerinnen und Bürger unserer Stadt!

Beim Propheten Jeremia (29,7) hieß es einst: „Sucht das Beste für die Stadt“. Darum geht es jetzt.
In fünf kurzen Punkten sage ich, was mir wichtig ist.

1.   Es wird uns vorgehalten, wir seien viel zu emotional.
Was sollen wir denn sonst sein? Ich habe als Kind den Krieg erlebt, sah sogar, wie Stuttgart brannte. Wenn ich heute sehe, wie ein völlig intakter Bahnhof, der als Denkmal gilt, einfach so brutal zerstört wird, dann tut’s doch weh im Magen.
Wenn die alten Platanen, Naturdenkmale, einfach so verschwinden sollen, dann zieht’s das Herz zusammen.
Wir sind keine technokratisch verbildeten Monster. Wir sind Menschen mit Herz und Seele, die sich freuen an dem Schönen, was Krieg und Nachkriegszeit übrig ließen von der Stadt.

2.   Man hält uns vor, der Widerstand käme viel zu spät.
Das kommt auch daher, weil die Projektbetreiber bis heute statt Information nur billige Emotionalisierung betrieben mit Slogans wie vom „Herz Europas“, mit Videoanimationen, als ob die schöne neue Welt entstünde.
Aber die Bürgerschaft will nicht durch Werbung überredet werden. Sie hat sich langsam selber informiert.
Ein Szenario von Schrecken über Schrecken hat sich eingestellt: Die Kosten explodieren laufend, geologische Probleme sind nicht sicher abgeklärt, der Güterverkehr hat dabei keine gute Zukunft, der Anschluss an den Nahverkehr verschlechtert sich; und was ganz schlimm ist: Wer durch Stuttgart reist, sieht nichts mehr von der schönen Stadt, nur noch dunkle Wände. Das ist ein Akt von Selbstzerstörung.

3.   Nun wird gesagt. das alles sei doch längst beschlossen.
Als demokratischer Bürger fragt man sich: Was sind das für Beschlüsse, wenn zum Zeitpunkt der Entscheidung die wahren Kosten gar nicht klar sind, wenn Gutachten verheimlicht werden, wenn nur die Werbung zählt, statt Hören auf
die Sach- und Fachkritik? Stimmt man in Parlamenten nur über wage Visionen ab oder erfordern neue Sachverhalte neue Überprüfung?
Das kennt doch jeder Unternehmer: Ein Projekt, das im Entstehen scheitert, kommt nicht auf den Markt.
Nach dem Grundgesetz geht „alle Staatsgewalt vom Volke aus“ (Art.20.2).
Deshalb sollen Regierende und Parlamentarier hörbereit sein auf das, was man im Volke denkt und fühlt.  Wenn man uns nur die kalte Schulter zeigt, stellt man uns als Bürger vor die Wahl, entweder wütend zu werden oder resigniert zu schweigen. Ein solcher Vorgang wirkt wie Gift für demokratische Kultur.

4. Jetzt kommt vielleicht der Runde Tisch. Das wäre durchaus gut. Wenn aber eine Seite meint, es ginge nur um Nettigkeit, der Abriss unseres Bahnhofs sei doch schon vollzogen, dann wird der Ärger umso größer. Da fühlt sich keiner ernst genommen. Die Wut nimmt weiter zu.
Das wäre doch ein Kompromiss: Erhaltet uns den Bahnhof, stellt ihn wieder her, saniert ihn für die Zukunft. Hände weg vom grünen U. Dann bleiben Mittel für die Strecken, auch für die in Richtung Ulm. Die Güter gehören auf die Bahn,
nicht alles auf die Straße. Macht eure Hausaufgaben, dass wir nicht täglich hören müssen: Wir bitten um Entschuldigung. Das ist doch peinlich. Das arme Personal erlebt den ganzen Unmut der Kunden.

5. Viele von Euch wissen, dass ich mehr als vierzig Jahre in der Evangelischen Kirche engagiert und tätig war. Ich spreche nicht für die ganze Kirche. Dazu gehören auch Menschen, die anders denken als wir auf diesem Platze. Trotzdem: Zwei Aspekte aus der Bibel nenne ich.
Zum Einen: Der Staat hat vor allem die Aufgabe, für Frieden und Gerechtigkeit zu sorgen.
Zum Frieden hilft nicht Stuttgart 21. Es entzweit die Bürgerschaft.
Das ist genau wie beim Turmbau zu Babel, wo die Oberen sich einen Namen machen wollen, aufs Volk nicht hören, nur Unterwerfung fordern und Chaos produzieren.
Gerechtigkeit meint: Das Gemeinwesen soll sich konzentrieren auf kulturelle Bildung und Entwicklung aller Bürger, auf Chancengleichheit für die Armen und für jene, die von sich aus wenig Chancen haben. Wo so Gerechtigkeit
gedeiht, da wächst auch Frieden.
Zum Zweiten: Die christliche Botschaft beginnt mit dem Satz: Kehrt um, denkt um, seid kritisch zu euch selbst.
Wenn die Politiker, z. B. Herr Grube, Herr Mappus, Herr Schuster und alle, die da mit entschieden haben, sagen würden: Jawohl! Wir haben uns getäuscht, es kommt doch viel zu teuer und bringt nicht, was es soll, es ist zu grob für dieses Tal und wird nicht angenommen, dann wäre das für mich nicht peinlich und nicht feige, sondern mutig.Es gehört zur Würde von uns Menschen, dass wirumdenken und umkehren können.  Ich wünsche den Politikern, dass sie in diesem Sinne Mut und Würde zeigen.  Dafür würden wir sie achten.   Dann wachsen wieder Friede und Gerechtigkeit. Und wir sind engagiert dabei.

Rede von Martin Klumpp, Prälat i.R. der Evangelischen Landeskirche, bei der Montagsdemo am 6. Sept. 2010

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Offener Brief von Pfarrerin Guntrun Müller-Enßlin, 6.09.2010

An die Kolleginnen und Kollegen, an die Kirchenleitung und alle, die sich angesprochen fühlen.

Man kann sich bestimmte Entwicklungen lange Zeit mit mehr oder weniger Geduld anschauen. Irgendwann kommt der Punkt, an dem das Maß voll ist. Dieser Punkt ist bei mir derzeit erreicht, wenn ich auf die Rolle der Evangelischen Kirche in Sachen Stuttgart 21 blicke, darauf, was sie tut, bzw. was sie nicht tut.

Als eine, die einmal Theologie studiert hat und Pfarrerin der Landeskirche geworden ist, in der Hoffnung, damit in einer Institution zu arbeiten, die in einer gnadenlosen Wettbewerbsgesellschaft ein Gegengewicht der Menschlichkeit bildet, bleiben einem gegenwärtig nur noch Trauer und Scham darüber, dieser Institution anzugehören.

Was ist das für ein klägliches Bild, das die Kirche derzeit nach außen abgibt, wenn sie hartnäckig –oder ängstlich? – darauf beharrt, sich nicht einmischen zu wollen angesichts eines Projekts mit mittlerweile allseits bekannten und absehbar katastrophalen sozialen und ökologischen Folgen! Als Institution von immer noch bedeutendem gesellschaftlichem Ansehen räumt sie damit freiwillig den Platz als ethisches Korrektiv, das ihr von der Mehrheit unserer Gesellschaft ganz selbstverständlich zugestanden wird!
Seit Monaten zieht sich die Kirche in Sachen S21 auf diese unsägliche Raushalte-Position zurück, mit fragwürdigen Argumenten, die den zahllosen im Widerstand gegen S21 engagierten Christen und Kirchenmitgliedern weder verständlich noch vermittelbar sind.
Da geht es auf einer formalen Ebene um Dienstwege, bzw. um das, was man als InhaberIn eines kirchlichen Amtes darf oder nicht darf, was richtig oder falsch ist, anstatt darum, sich beizeiten umfassend mit dem Thema und seinen Inhalten zu beschäftigen, um dann zu erkennen, welcher Gruppierung in unserer Gesellschaft man als Kirche stärkend zur Seite stehen muss.

Ich frage mich wirklich, warum ich auf Seiten der S21-Gegner als Pfarrerin ganz alleine dastehe. Wenn es heißt, Kirche dürfe nicht Partei ergreifen sondern müsse für alle da sein, ist zu sagen, dass ihr das, indem sie sich raushält und schweigt, jedenfalls bestimmt nicht gelingt. Indem Kirche keine Stellung bezieht, steht sie immer auf der Seite der Macht und des herrschenden Status Quo und macht sich zu deren Handlanger, was ihr von intellektueller Seite seit eh und je zum Vorwurf gemacht wird.
Der Meinung, Religion sei Privatsache, sei entgegengehalten, dass Religion seit jeher eine ethische Komponente besitzt, die das Gemeinwohl betrifft. Im Fall von Stuttgart 21 sind mit der Verschiebung von Milliarden von Steuergeldern von unten nach oben sowie mit dem Kahlschlag hunderter alter Bäume höchst offensichtlich ethische Themen berührt und Grundwerte in Gefahr. Sich hier herauszuhalten, gar nobel eine Vermittlerrolle in Aussicht zu stellen, wenn sich die Parteien ordentlich gezofft haben, halte ich geradezu für zynisch. Die einzige adäquate Haltung wäre stattdessen, mit Zivilcourage auf der Seite derer zu streiten, die ganz offensichtlich den Schaden haben.

Wie gesagt, die Zurückhaltung der Kirche ist schwer nachzuvollziehen und noch schwerer auszuhalten. Vollends unerträglich wird es, wenn nun auch noch ausgerechnet ein Pfarrer sich für eine Pro Stuttgart 21 –Bewegung stark macht und sich auf dem Podium der FAZ als Opfer militanter und intoleranter S21-Gegner feiern lässt. Offenbar ist sich über die Ruf schädigende Wirkung dieser Aktivitäten für die Kirche niemand im Klaren. Es ist einfach nicht zu glauben, dass sich nicht einmal jetzt auf breiter Front Widerstand bei Kirchenvertretern regt, sich niemand distanziert und niemand sagt, der spricht nicht für uns.
Stattdessen sehe ich mich als die einzige Pfarrerin, die sich öffentlich gegen S21 exponiert hat, in der grotesken Lage, als Gegenspielerin jenes Pfarrers in den Zirkusring der Öffentlichkeit, auch den der Fernsehmedien, steigen zu sollen. Mit diesem Befürworter kloppe ich mich dann stellvertretend für die Kirche, die sich vornehm zurückhält und muss außerdem noch damit rechnen, dass von erhabener Stelle der Zeigefinger erhoben wird.

Mich würde mal interessieren, wieweit meine Kollegenschaft sich noch traut, unabhängig von der Obrigkeit eindeutig und öffentlich sozialpolitisch Position zu beziehen. Wenn sich große Bevölkerungsgruppen gegen einbetonierte Machtpositionen zur Wehr setzen, kann sich die Kirche nicht unparteiisch geben. Es geht darum, entsprechende Machtträger in der Gesellschaft zur Besinnung und zur Reflektion zu bringen.  Ich bin gespannt auf Reaktionen oder auch Nicht-Reaktionen.

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„Wir sind das wütende Pack“

Nach wohltuender Stille nun ein paar Gedanken, die mich umtreiben als Christenmenschen und als evangelischen Pfarrer im Ruhestand. Nicht nur mich, sondern eine Reihe von Menschen, mit denen ich in den letzten Monaten, Wochen und Tagen gesprochen habe.
Auf einem Plakat bei einer Demo las ich: We are the angry mob. Wir sind das ärgerliche Pack.
Ärgerlich – aufgebracht – wütend – jede und jeder mag „angry“ übersetzen, wie ihr / ihm zumute ist. Mein Eindruck: Der Protest entwickelt sich deutlich von ärgerlich hin zu wütend. Warum?
Die Gründe sind zahlreich und die Motive der Vielen haben unterschiedliche Schwerpunkte. Einige will ich nennen.
Nicht als „verkehrspolitischer Experte“. Wie könnte ich auch eine Kompetenz beanspruchen, die die Bischöfe unserer beiden großen Kirchen für sich ausdrücklich in Abrede stellen?
Also:  Jenseits verkehrspolitischen und juristischen Spezialistentums gibt es sehr wohl Gründe, Motive für den Unmut, den Zorn, die Wut. Man muss nur genauer hinschauen.

Wie wurden und werden diejenigen beurteilt, diffamiert, die nicht in die Lobeshymnen auf „Das neue Herz Europas“ einstimmen können?
Ja – wie es der eben zitierte Spruch einer Gegnerin ironisch aufgreift – als „Mob“. Als „Eventdemonstranten“ oder als „ewig Gestrige“, die nicht ganz bei Trost sind. Als „Randalierer“, als „Freizeitpunks“ u.a.m. Am vorigen Mittwoch beklagten sich nach dem Gebet hier zwei ältere, gut-bürgerliche Damen: „Stellen Sie sich vor, uns wird nachgesagt, wir würden für unseren Protest bezahlt.“
Der Autor Heinrich Steinfest, der in Stuttgart lebt und zur Zeit an einem Kriminalroman mit dem Thema „Stuttgart 21“ arbeitet, sagt dazu:
„Die Stuttgarter definieren den Begriff der Demokratie neu. Es wird immer gesagt, Stuttgart 21 sei demokratisch legitimiert. Aber die Leute schauen sich genau an, wie dieser Legitimationsprozess erfolgt ist. Politiker haben aufgrund eines Fraktionszwangs einer Sache zugestimmt, über die sie nicht restlos informiert gewesen sind. Eine Lücke, welche die Protestierenden nun selber füllen.“
Und seine Einschätzung: „Ich habe noch nie eine Demonstration erlebt, wo die Leute so viel analysieren. Die haben tatsächlich Ahnung.“
Warum merken andere das nicht? Warum hören sie was anderes? Schwadronieren von „unreflektierter Agitation“, von „Schwarz-weiß-Schemata“ und „Halbwahrheiten“ ?
So z.B. der Pfarrer der Stuttgarter Stiftskirche im Evangelischen Gemeindeblatt für Württemberg Nr. 37/2010.
Schlagworte – im wahrsten Sinn! Man merkt die Absicht und man ist verstimmt. Und gewiss nicht im Sinne der Presseerklärung der Bischöfe, in der sie betonen: „Wir nehmen in diesem Konflikt Partei für die Menschenwürde und für einen Umgang in der inhaltlichen Auseinandersetzung, der dem sozialen Frieden dient.“

Befürworter des Großprojekts könnten an dieser Stelle einwenden: „Und was ist mit ‚Lügenpack’? Ist das etwa in Ordnung?“ Nein – ist es grundsätzlich auch nicht. Aber ich erlaube mir, nach Ursache und Wirkung zu fragen.
Niemand – auch niemand im Kirchenamt – sollte auf der einen Seite mit der Goldwaage hantieren, auf der anderen aber in vornehm-zurückhaltender „Neutralität“ schweigen.
Wer absichtsvoll provoziert wird,
– etwa durch die Verweigerung eines Baustopps,
– etwa durch Abbrucharbeiten abends zwischen 18 und 19 Uhr während einer Montagsdemo,
– etwa durch Gesprächsverweigerung (bisher zumindest),
– etwa durch Drohungen und Einschüchterungsversuche,
um nur einige Beispiele zu nennen – wer so behandelt wird, dem platzt auch mal der Kragen.

Ich darf aus der Bibel zitieren:  „Ihr verblendeten Führer, die ihr Mücken aussiebt, aber Kamele verschluckt! Weh euch, ihr Heuchler, die ihr die Becher und Schüsseln außen reinigt, innen aber sind sie voller Raub und Gier! Von außen scheint ihr vor den Menschen fromm, aber innen seid ihr voller Heuchelei und Unrecht. Ihr Schlangen, ihr Otternbrut!“ (Mt.23, 24-33 i.A.)
Alles andere als eine wohltemperierte Rede. Vielmehr die Sprache des Machtlosen, der Zorn eines, der gegen die Arroganz der Macht aufbegehrt.
Dass bei den Sondierungsgesprächen, die jetzt – auf Vermittlung des katholischen Stadtdekans – doch in Gang zu kommen scheinen, ein moderater Ton vorherrschen möge, versteht sich von selbst.

Ein Zweites: In nahezu jedem Interview, das von einem der Stuttgart21-Akteure gegeben wird, ist von Unumkehrbarkeit die Rede.
Mir ist in menschlichen Verhältnissen nichts, aber auch gar nichts bekannt, das nicht umkehrbar wäre. Selbst vom Tod, dem scheinbar Unumkehrbaren, bekennen Christen: Seine Macht ist aufgehoben.
Umkehr ist eine der ganz grundlegenden Optionen menschlicher Existenz. Die Möglichkeit zur Umkehr gehört konstitutiv zu dem Menschenbild, das uns in christlicher Tradition überliefert ist. Umkehr hat mit Freiheit zu tun.
Diese Freiheit zu bestreiten, ist anmaßend. Sie zu bestreiten, obwohl man um die Option der Umkehr weiß, zielt auf Resignation und Einschüchterung.
Wenn die Kirchenleitungen von Menschenwürde sprechen: Warum erheben sie an dieser Stelle nicht vehement Widerspruch?
Redet uns nicht von Unumkehrbarkeit! Beraubt die Bürger nicht der Freiheit, die sie haben!

Meinen dritten Punkt möchte ich überschreiben:  An ihrer Sprache sollt ihr sie erkennen!
Es wird ja immer wieder behauptet, der ganze Protest gegen das Projekt Stuttgart 21, das zutreffender „Babel 21“ heißen müsste, sei Folge eines Vermittlungsproblems. Die einzige Selbstkritik der Betreiber:  Man habe versäumt, den Bürgerinnen und Bürgern die Vorzüge der schönen neuen Bahnhofswelt nahe zu bringen.
Ist da was dran?
Nein – es wurde ja auf vielfältige Weise geworben:
Anfangs: „Paris – ein Vorort von Stuttgart“. Ironisch-schillernd zwar, hat aber nicht funktioniert.
Dann wurde „Unser schönstes Geschenk“ präsentiert und „Das neue Herz Europas“. (Und manche von der Elite des Fortschritts laufen jetzt tatsächlich mit so einem Herz-Button herum – wie einfallsreich!) Und dann noch: „Das schaffen nur wir.“
Angesichts solch ebenso deplazierter wie großmundig-dämlicher Sprüche – warum kam da nicht deutlich die Reaktion: Einspruch! Insbesondere von denen, die eine gepflegte, menschenwürdige Kommunikation anmahnen?

Und wenn OB Schuster in einem Offenen Brief – bereitwillig verbreitet von den örtlichen Presseorganen – beteuert:
„Wir sind für Sie alle da“ und Bahnchef Grube tönt:  „Wir wollen den Stuttgartern doch etwas Gutes tun.“
Jeder, der ein Gespür für Worte hat, hört in diesem Gesäusel die schiefen, falschen Töne. Man muss sich gar nicht an einen erinnern, der 1989 in Verkennung der Situation so geredet hat – und ausgelacht wurde. Man muss nur aufmerksam hören. An ihrer großspurigen, verlogenen Sprache müsstet ihr sie erkennen!

Ein vierter und letzter Punkt – ganz kurz:
Wenn es an Sprachsensibilität fehlt: Warum erkennen die Wächter der Menschenwürde nicht, mit welcher Art von Projekt wir es zu tun haben?
Größer – weiter – schneller – teurer ist die Devise.
Aber:  Mehr und mehr Menschen, nicht nur die offen protestierenden, glauben dieser Heilslehre des grenzenlosen Fortschritts nicht mehr. Zumal wenn er so zerstörerisch daherkommt. Sie haben gute Gründe aus schlechten Erfahrungen.
Der Geist eines solchen Projekts, der Geist des Größer-weiter-schneller-teurer ist als Ungeist erkannt worden. Lebensqualität wird heute von vielen an anderen Werten gemessen.
Dabei geht es nicht – zumindest nicht nur – um einen Stellvertreterkonflikt, wie der evangelische Stadtdekan meint.
Der Widerstand gegen Stuttgart 21 kennzeichnet vielmehr am konkreten Fall – wo auch sonst? – die Abkehr von dieser Art Machbarkeits- und Größenwahn. – Wenn das kein Thema für die Kirchen ist!
Abkehr von den Tunnelbauten zu Babel, das ist alles andere als rückwärts gewandt. Wache und informierte, ideenreiche und verantwortungsbewusste Bürger – nicht der Mob – machen sich frei von eingeredeten Ängsten, auch von der Angst, abgehängt zu werden.
Frei-werden von Ängsten, die manche haben mögen, die von anderen instrumentalisiert werden: Kein Thema für die Kirchen? Oder merken sie wieder einmal nicht, dass sich mit dem Widerstand gegen das Babel-Projekt Menschen Gehör verschaffen, die umkehren?
Sie kehren um zu einer menschen- und umweltfreundlichen Lebensweise, in einer ebensolchen, in ihrer Stadt.
Sie kehren um in die Zukunft. Und nicht wenige von ihnen fragen: Seid ihr – Kirche – lediglich Hüter einer Gesprächskultur? Oder „Salz der Erde und Licht der Welt“?

Ansprache von Karl Martell, Pfarrer i.R.,
beim „Gebet im Schlossgarten“ am 22. Sept. 2010

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