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Boris Palmer: Nur gute Verlierer können gewinnen

Nur gute Verlierer können gewinnen
Ein Appell an die Bewegung für den Erhalt des Stuttgarter Kopfbahnhofs
Wir haben verloren. Es gibt keine Mehrheit im Land und in der Stadt für einen Ausstieg aus Stuttgart 21. Das ist schmerzlich. Und nicht leicht zu verstehen. Aber nur wenn wir uns das eingestehen, können wir nach vorne blicken. Und dann ist vielleicht auch noch nicht alles verloren.
Der 27. November war eine Zäsur im Streit um Modernisierung oder Zerstörung des Stuttgarter Kopfbahnhofs. Seit diesem Tag ist der politische Widerstand gegen Stuttgart 21 beendet. Wenn das Volk gesprochen hat, muss die Politik schweigen. Mit dem bürgerschaftlichen Widerstand gegen das Projekt verhält es sich anders. Protest ist auch zulässig, wenn die Entscheidung abschließend gefallen ist. Und wir können stolz darauf sein, dass dieser Protest bis zum heutigen Tag fast immer und zu jeder Zeit friedlich geblieben ist.
Jetzt, da der Abriss des Südflügels begonnen hat und das Eisenbahnbundesamt die Genehmigung zum Fällen der Bäume im Schlossgarten erteilt hat, wachsen aber erneut Streit, Ärger und Verbitterung. Die Wut richtet sich zunehmend gegen die Landesregierung und besonders gegen deren grünen Teil. Immer lauter werden Verrats- und Betrugsvorwürfe. Die Lage eskaliert weiter, weil die Bahn sich unter Zeitdruck setzt. Sie will am 29. Februar das Baufeld im Park frei haben, damit sie nicht wieder auf einen 1. Oktober warten muss. Ein solcher Zeitdruck ist extrem gefährlich. Die Ereignisse des 30. September 2011 wären nicht erklärbar ohne den damals von der Politik verordneten Zeitdruck, die Fläche für das Grundwassermanagement in der Nacht des 1. Oktober von Bäumen zu befreien.
In dieser Situation ist es wichtig, einen kühlen Kopf zu bewahren und die eigene Lage offen und ehrlich zu analysieren. Ich möchte hierzu meinen Teil beitragen.
Warum haben wir die Volksabstimmung verloren? Die Antworten, die ich auf diese Frage in zahlreichen Briefen und Diskussionsforen lese, lassen erkennen, dass die Niederlage für viele von uns weder akzeptiert noch verarbeitet ist. Im Kern läuft die Argumentation darauf hinaus, dass die Bevölkerung hinters Licht geführt worden sei und sich anders entschieden hätte, wenn sie die Wahrheit erfahren hätte. Ausgeschmückt wird diese These mit vielen zutreffenden Hinweisen auf irreführende Informationen und die finanzielle und organisatorische Übermacht der Kampagne gegen den Ausstieg.
Ja, es stimmt, dass die Ausstiegskosten mit 1,5 Milliarden Euro maßlos übertrieben wurden. Ja, es stimmt, dass allein der Verband Region Stuttgart eine Million Euro in eine Kampagne investiert hat, die nur notdürftig als Information getarnt wurde. Ja, es stimmt, dass der Brief des Oberbürgermeisters an alle Haushalte in Stuttgart in Form und Inhalt unangemessen war. Ja, es stimmt, dass die Bahn sich um einen echten Stresstest herum gemogelt hat. Ja, es stimmt, dass die wahre Leistungsfähigkeit des Kopfbahnhofs bewusst klein geredet wurde. Ja, es stimmt, dass die Kosten des Projekts noch immer geschönt sind und die dicke Rechnung am Ende kommt. Ja, es stimmt, dass die Planung des Projekts noch immer von erschreckendem Dilettantismus geprägt ist. Ja, es stimmt, dass für wichtige Abschnitte des Projekts nicht einmal eine vernünftige Planung vorliegt.
Wir würden uns aber etwas vormachen, wenn wir glauben, die Leute, die gegen den Ausstieg votiert haben, hätten dies alles nie gehört und sich anders entschieden, wenn sie nicht einer Propaganda aufgesessen wären. Verfallen wir nicht den Dünkel der Gegner der direkten Demokratie, die glauben, das Volk sei nicht in der Lage, eine Entscheidung zu treffen. Wenn wir trotz der besseren Argumente in der Sache verloren haben, dann muss es dafür auch Gründe gegeben haben.
Ein genauer Blick auf die Wahlergebnisse im Land zeigt, dass man dafür einige sehr klar benennen kann. So ist auffällig, dass die Mehrheiten gegen den Ausstieg in ländlichen Gebieten Baden-Württembergs besonders groß waren. Vereinfacht gesagt ist die Zustimmung zu Stuttgart 21 in einem Landkreis umso größer, je weniger Züge dort verkehren. Aus dieser Beobachtung wird sofort klar, dass all unsere guten Argumente für den Kopfbahnhof und gegen den Engpass unter der Erde gar nicht fruchten konnten, weil sie für viele Menschen im Land gar keine Rolle spielten. Wenn es aber gar nicht um den Bahnverkehr ging, dann war etwas anderes entscheidend. Und das kann nur die Aufladung des Projekts mit den Begriffen Fortschritt und Wohlstand gewesen sein. Wir haben uns nicht genügend Mühe gemacht, dieses große Märchen zu entlarven und stattdessen lieber Züge in der Spitzenstunde gezählt.
Eine zweite Beobachtung: Die Zustimmung ist im oberschwäbischen Raum immens groß. Von Ulm bis Friedrichshafen hat Stuttgart 21 eine Mehrheit von über zwei Dritteln erhalten. Andererseits gibt es Mehrheiten gegen Stuttgart in ganzen Landkreisen nur im badischen und bevorzugt im südbadischen Raum. Daraus kann man ableiten, dass außerhalb Stuttgarts die städtebaulichen Fragen in Stuttgart kaum interessiert haben. Das Denkmal Bonatzbau und der Park waren dein meisten Menschen im Land ziemlich egal. Die badischen Seite hat offenkundig wenig Neigung verspürt, im schwäbischen Landesteil Geld auszugeben. Den Oberschwaben kann man zutrauen, dass Sie auch nicht für mehr Ausgaben in Stuttgart gestimmt haben, sondern für ihre Neubaustrecke. Es ist der Fraktion um Ulms OB Ivo Gönner also gelungen, die These zu verbreiten, dass die Neubaustrecke nur kommt, wenn der Ausstieg aus Stuttgart 21 abgelehnt wird. Dazu haben wir mit der Uneinigkeit über Sinn und Unsinn der Neubaustrecke auch selbst gute Zuarbeit geleistet.
Die dritte Beobachtung: In Stuttgart und im ganzen Land gibt es eine starke Korrelation der Ergebnisse mit den Wahlergebnissen der Grünen und der CDU. Wo die Grünen stark sind, wie im Talkessel, in Freiburg oder in Tübingen, überwiegt die Ablehnung von Stuttgart 21. Wo die CDU stark ist, in den Stuttgarter Vororten und auf dem Land, überwiegt die Zustimmung zu Stuttgart 21. Wer die CDU am Wahlabend erlebt hat, weiß dass sie die Volksabstimmung als Revanche für die Niederlage bei Landtagswahl begriffen und entsprechend genutzt hat. Dafür spricht auch, dass die Umfragen eine Woche vor der Abstimmung haben das Ergebnis fast exakt vorweggenommen haben. Da die Beteiligung an der Abstimmung prozentual wesentlich niedriger war als an der Befragung, war die Mobilisierung des Nein-Lagers genau so groß wie im Ja-Lager. Das war nicht zu erwarten und zeigt, wie hoch motiviert die CDU gewesen ist. Auch dazu haben wir mit den „Lügenpack“-Parolen, einer „Mappschiedsparty“ und vielen Attacken auf eine waidwunde CDU erklecklich beigetragen.
Die vierte Beobachtung: Die Ergebnisse in den Kreisen der Region Stuttgart sind besonders deutlich für Stuttgart 21 ausgefallen. Man muss zugeben, dass schon am Kesselrand die Mehrheit gegen Stuttgart 21 endet. Offensichtlich sind die Versprechungen für deutliche Verbesserungen im Regionalverkehr auf fruchtbaren Boden gefallen. Wir haben es nicht geschafft, die Nachteile für die S-Bahn und das Bahnsystem verständlich zu transportieren. Und auch in der Region war den Menschen der Schlossgarten, das Mineralwasser und der Bahnhofsbau offenkundig nicht so wichtig wie vielen treibenden Kräften des Widerstands in der Stadt selbst.
Ich fürchte aber, es kommt noch etwas hinzu: Die teilweise mythische Überhöhung des Widerstands hat viele Menschen abgeschreckt. Ganz sicher kann man das von Demonstrationen sagen, die durch Blockaden von Hauptverkehrsstraßen den Verkehr in der Innenstadt zum Erliegen gebracht haben. So manches Nein war ein Nein zu Staus am Montag Abend. So sehr eine Bewegung Symbole und Identifikationspunkte benötigt, manches Gelöbnis und mancher Superlativ zum Denkmal- und Naturschutz hat außerhalb der Bewegung Unverständnis erzeugt und zur Niederlage beigetragen. Das gilt noch stärker für Unduldsamkeit und verbale Aggression, die es auf unserer Seite auch gegeben hat.
Das heißt nun alles nicht, dass wir unsere Niederlage vollständig selbst verschuldet haben. Es heißt schon gar nicht, dass die Grünen in der Landesregierung alles richtig gemacht hätten. Sehr wohl zeigt diese Analyse aber, dass wir die Abstimmung nicht gewonnen hätten, auch wenn alle Kritikpunkte, die aus unserer Bewegung jetzt immer wieder vorgetragen werden, berücksichtigt worden wären.
Ich greife exemplarisch ein Beispiel heraus: Dem Verkehrsministerium wird immer wieder vorgeworfen, es habe keine Studie zur wahren Leistungsfähigkeit des Kopfbahnhofs beauftragt und damit die Abstimmung fast schon verloren gegeben. Nach der hier vorangestellten Analyse hätte diese Studie aber die Nein-Sager überhaupt nicht beeinflusst, weil die Leistungsfähigkeit des Bahnhofs sie einfach nicht interessiert hat. Wenn es einen Zeitpunkt gab, zu dem die Debatte über die Leistungsfähigkeit eine Rolle gespielt hat, dann waren es die Minuten vor dem Schlichterspruch. Und da war es allein mein Fehler, nicht die reale Leistung des Kopfbahnhofs, sondern die Fahrplanleistung 2010 zum Maß aller Dinge zu machen. Davon sind wir nie wieder runter gekommen.
Nun ist Selbstkritik immer hart. Sie hat aber auch etwas Reinigendes. Aus der Katharsis kann man neue Kraft schöpfen. Das unterscheidet sie von der Konstruktion von Verratsvorwürfen und der Suche nach Schuldigen ganz wesentlich. Erschreckend finde ich dabei, dass mittlerweile auch die Unwahrheiten der Pro-Seite bereitwillig weiter verbreitet werden, um die Grünen zu Schuldigen zu machen. Dazu gehört zum Beispiel die Behauptung, die Grünen hätten im Bundestag oder dem Aufsichtsrat der Bahn dem Projekt Stuttgart 21 zugestimmt.
Allen, die nun mit allerlei Indizienbeweisen zu belegen versuchen, dass die Grünen nur die Wahl gewinnen und nie das Projekt zu verhindern versuchten, kann ich mit bestem Wissen und Gewissen sagen: Das ist nicht wahr. Auch wenn es stimmt, dass nicht alle grünen Abgeordneten Stuttgart 21 für das Zentrum des Regierungshandelns halten, kann ich für den Ministerpräsidenten und den Verkehrsminister die Hand ins Feuer legen. Ich war von den Koalitionsverhandlungen bis zum Nachmittag der Abstimmung in alle wesentlichen Strategiebesprechungen eingebunden und habe viele Telefonate geführt. Winfried Kretschmann und Winfried Hermann haben das Versprechen, alles in ihrer Macht stehende zu tun, um das Projekt zu beenden, eingelöst. Sie mussten nur feststellen, dass diese Macht begrenzt ist. Und ehrlich gesagt: Darüber sollten wir froh sein, denn das ist Demokratie.
Wenn die Grünen in der Regierung nun nicht mehr das sagen, was wir gerne von ihnen hören würden, dann darf dabei nicht vergessen werden, wie sehr unsere Position durch das Ergebnis der Volksabstimmung erschüttert wurde. Eine klare Mehrheit in Stuttgart gegen das Projekt hätte zumindest gezeigt, dass nur die trickreiche Umgehung des Bürgerentscheids durch Wolfgang Schuster Stuttgart 21 gerettet hat. Selbst das können wir jetzt nicht mehr mit Sicherheit wissen, auch wenn der Ausstieg vielen Menschen im Jahr 2007 viel leichter gefallen wäre. In dieser Lage würden grüne Politikerinnen und Politiker sich dem Vorwurf der Uneinsichtigkeit und fehlenden Respekts vor der Mehrheit aussetzen, wenn sie einfach weiter gegen Stuttgart 21 argumentieren. Selbst berechtigte Kritik wird von vielen Medien und vielen Menschen sofort als Beweis dafür interpretiert, dass die Grünen noch immer versuchen, das Projekt zu Fall bringen. Genau das wünschen wir uns natürlich, und genau das dürfen die Grünen auf keinen Fall tun.
Ist nun alles verloren? Ich glaube nicht. Stuttgart 21 kann politisch nicht mehr gestoppt werden. Aber das Projekt kann sehr wohl an seinen eigenen Mängeln scheitern. Die Planungsfehler werden immer offensichtlicher. Die Kostenexplosion ist nur eine Frage der Zeit. Das Projekt ist noch nicht unumkehrbar.
Das hilft dem Südflügel nicht mehr. Und vermutlich auch nicht den Bäumen im Park. Diese traurige Realität muss man hinnehmen, nicht still, aber friedlich. Für den Bahnverkehr besteht aber noch immer Hoffnung. Das Projekt kann aufgegeben, modifiziert oder ergänzt werden. Schon die Debatte um den Filderabschnitt zeigt, dass zumindest die teure Zerstörung der Leistungsfähigkeit des Bahnknotens Stuttgart nicht zwingend real werden muss. Das ist für alle, die den Bahnhof und den Park schützen wollten kein Trost, aber trotzdem wichtig.
Wenn wir uns dieser harten Wirklichkeit stellen, können wir auch mit neuer Kraft fordern, dass die Projektträger sich an Recht und Gesetz halten müssen. Natürlich darf es sich nicht wiederholen, dass ein Gericht feststellt, dass Baumfällungen widerrechtlich erfolgt sind, wenn es die Bäume nicht mehr gibt. Andererseits impliziert die Forderung, dass die Bahn alle Genehmigungen erreichen soll, bevor sie abholzt, dass man das auch akzeptiert, wenn tatsächlich alles rechtssicher entschieden sein sollte. Dabei heißt akzeptieren ja nicht begrüßen. Man kann Baumfällungen auch schweigend betrauern, wenn sie rechtmäßig sind.
Liebe Freunde des Kopfbahnhofs, ich weiß, das vielen von uns das Herz blutet oder das Messer in der Tasche aufgeht, wenn das Abrisswerk im Herzen Stuttgarts nun seinen Lauf nimmt. In vielen Begegnungen höre ich auch, dass zur Enttäuschung mittlerweile die Verletzungen kommen, die sich aus der Häme mancher siegreicher „Proler“ ergeben. Nicht allen ist es gelungen, gute Sieger zu sein. Für die Frage, was diese Bewegung am Ende erreicht hat, wird es eine wesentliche Rolle spielen, ob wir der Versuchung widerstehen, die Niederlage zu verneinen. Als gute Verlierer können wir noch immer viel gewinnen.