Predigt beim Gottesdienst im Grünen mit Fürbitte um Frieden und Bewahrung der Schöpfung in der Stadt im Stuttgarter Schlossgarten am Ostermontag, 05.04.2010 um 17 Uhr.
Predigttext: „Sucht der Stadt Bestes!“ Jeremia 29,7
Liebe Gemeinde,
Städte waren von jeher faszinierende und gefährdete Orte zugleich. Nirgendwo liegen Schönes und Hässliches, Positives und Negatives, Anziehendes und Abstoßendes, Jammer und Glück so nahe beieinander wie in den Städten. Stadtluft kann frei, aber sie kann auch krank machen. In Städten können Menschen aufblühen, aber sie können auch verzweifeln.
Stadtleben, das heißt Kunst und Kultur, das heißt Innovation und Tempo, das heißt Bildung und Architektur. Aber Stadtleben heißt auch Lärm, Verkehrschaos, Abgase, Stress, Anonymität, Kriminalität. Städte sind Zentren von Macht und Geld, aber jede größere Stadt hat auch ihre sozialen Brennpunkte. Nirgendwo sind die Gegensätze zwischen Arm und Reich größer als in Städten. Nirgendwo leben Menschen näher beieinander, sind derart angewiesen aufeinander und nirgendwo sind sie einander fremder. Nirgendwo gibt es soviel Vielfalt auf engstem Raum, im Guten wie im Schlechten und darum liegt auch nirgendwo soviel Potential an Sprengstoff herum wie in einer Stadt. Das ist in Stuttgart nicht anders als in jeder anderen Stadt der Welt.
Weil das so ist, deswegen bedürfen gerade die Städte einer besonderen Sorgfalt im Umgang mit ihren Belangen. Es lohnt sich, dass diejenigen, die das Stadtgeschehen lenken, viel investieren in die Pflege und die Fürsorge daraufhin, was einer Stadt gut tut und was nicht. Man tut gut daran, sich in Bezug auf Zukunftsplanungen viel Zeit zu nehmen, auch mal etwas wieder zu kippen, wenn es nicht mehr aktuell ist, Besonnenheit und Achtsamkeit walten zu lassen daraufhin, welche Prioritäten man setzen will. Insbesondere bei Bauvorhaben ist Fingerspitzengefühl und Feingefühl vonnöten in Bezug auf das, was angebracht ist und was die Menschen wirklich brauchen. Wer das Augenmaß verliert, steht allzu schnell vor einem Trümmerhaufen.
Diese Erfahrung haben Bewohner von Städten immer wieder gemacht, auch die Bibel erzählt von ihnen. In der Stadt Babel schätzten die Menschen ihre Kräfte falsch ein, so dass der kühne Plan eines Turmbaus bis in den Himmel in einem Fiasko endete. Die Stadt Jerusalem wurde im Lauf ihrer Geschichte mehrmals platt gemacht, weil ihre Tribunen immer wieder mit den falschen Leuten paktierten. Das Bewusstsein um das Gefährdungspotential von Städten war sehr präsent, weswegen Menschen in der Bibel das Phänomen Stadt auch immer wieder explizit zum Thema gemacht haben. Die Gedanken kreisten darum, es wurde über Städte nachgedacht, es wurde über Städte geweint und es wurde in Städten geweint. „An den Wassern von Babylon saßen wir und weinten“ …heißt es in einem Psalm.
Auf dem Hintergrund der Erfahrungen, die Menschen in alter Zeit mit ihren Städten gemacht haben, ist wohl auch der Aufruf zu hören: „Sucht der Stadt Bestes!“
Sucht der Stadt Bestes – das sagt der Prophet Jeremia ausgerechnet den Menschen, die aus dem wieder einmal zerstörten Jerusalem weggeschleppt im fernen Babylon Zwangsarbeit leisten müssen. Sie finden sich wieder, gezwungen zum Leben in einer Stadt, die ihnen fremd ist und in der ihnen die Freiheit verloren gegangen ist. Und offenbar stand es mit dieser Stadt selber auch nicht gerade zum Besten. Das Wort Sündenbabel kommt nicht von ungefähr. Macht und Korruption, Ausbeutung der Schwachen, Prunk und Willkür auf Kosten der Armen waren an der Tagesordnung. Jeremia ermutigt die Gefangenen, sich in der fremden Stadt nicht rauszuhalten, in der Hoffnung, dass sie bald wieder nach Hause können. Er ermutigt sie, eben nicht zu sagen, macht, was ihr wollt, das geht mich nichts an, sondern ihr Schicksal anzunehmen, die Stadt zu ihrer Stadt zu machen, für sie zu beten und sich aktiv zu beteiligen an der Sorge um das Wohl dieser Stadt. „ Sucht der Stadt Bestes!“ appelliert er. „Denn wenn es ihnen gut geht, dann geht es auch euch gut. …Ich will euer Glück und nicht euer Unglück. Ich habe im Sinn euch eine Zukunft zu schenken, wie ihr sie erhofft.“
Sucht der Stadt Bestes also. Aber was ist das Beste für eine Stadt? Woran kann sich dieses Beste orientieren?
Auch hier haben biblische Menschen weitergefragt. Und aus dem Bewusstsein des Negativpotentials von Städten heraus haben sie den Prototypen einer vollkommenen, einer vollkommen neuen Stadt entworfen. In einer kühnen Vision, die wir vorhin gehört haben, entwirft der Seher Johannes das neue Jerusalem als Modellstadt, an dem sich unsere Städte messen können.
Diese Stadt hat ihre besondere Qualität vor allem darin, dass sie eine durch und durch einladende Stadt ist, zu erkennen an der Zahl ihrer Tore, die nie geschlossen werden. Ein Zeichen dafür, dass bei Gott alle Ausgrenzungen aufhören, alle dürfen teilnehmen am Leben in dieser Stadt und an ihren Geschicken.. Die Stadt ist außerdem eine kommunikative Stadt. Die kommunalen Belange haben Vorrang vor den Privaten, Gemeinnutz geht vor Eigennutz. Es ist eine begrünte Stadt mit einem Fluss, an dem Bäume wachsen, deren Blätter und Früchte den Menschen zur Lebengrundlage und zur Gesundheit dienen. Des Weiteren ist die Stadt Gottes eine wirklich demokratische Stadt, in der die Regierenden einhergehen wie jedermann, und in der sogar Gott mitten unter den Menschen wohnt, ansprechbar für alle. „Gleichheit“ lautet also der erste und einzige Verfassungssatz dieser Stadt. Und schließlich: In dieser Stadt kommen alle kriminellen Machenschaften an ihr Ende: „Nichts Böses dringt in sie ein, obwohl sie absolut offen ist.“
An dieser Modellstadt also können wir uns orientieren, wenn wir nach der Stadt Bestem suchen, wenn wir nach dem suchen, was für unsere Stadt Stuttgart das Beste ist. Und das wollen wir tun an diesem Ostermontagnachmittag 2010, an dem außer der Osterfreude und der Freude über den Einzug des Frühlings in Stuttgart nach dem langen Winter auch so viel Unruhe und Besorgnis über der Stadt liegt, gerade in den letzten Tagen.
Was also gehört zu einer Stadt im Sinne von Gottes Prototyp?
Zunächst: Eine Stadt muss atmen können. Wer ein Empfinden für Städte hat, der weiß wie wichtig es ist, Natur in ihr zu haben, und wie schwer es ist, Natur zu erhalten. Zu einer Stadt gehört eine grüne Lunge, die nicht amputiert werden darf, auch nicht Teile von ihr, auch nicht auf Zeit. Auch nicht für 10 oder 15 Jahre. 10/15 Jahre, das ist eine ganze Kindheit. Das ist eine Spanne, an deren Ende viele von uns nicht mehr da sein werden. Und auch hinterher wird diese Lunge für die Lebenszeit einer ganzen Generation nicht mehr das sein, was sie einmal war. Diese Stadt und wir Menschen in ihr leben von den Bäumen. Wir bekommen von ihnen unendlich viel mehr, als wir ihnen je geben können. Und deswegen leihen wir den Bäumen, die keine Stimme haben, an dieser Stelle unsere Stimme und wir rufen: Diese Bäume, die unsere Freunde sind und die Freunde der Vögel und der Insekten, deren Lebensraum sie bilden: Diese Bäume wollen wir nicht hergeben, diese Bäume wollen wir behalten! Diese Bäume müssen wir nicht erst suchen, sondern die sind schon da; die sind der Stadt Bestes; die sind etwas vom Besten, was diese Stadt hat. Und wir werden alles tun, damit wir Euch Bäume behalten.
Wenn wir bei der Suche nach dem Besten für unsere Stadt Maß nehmen an der neuen Stadt Gottes, dann gehört dazu auch der soziale Friede. Das heißt zum Beispiel, dass nicht vorhandenes Geld nicht ausgegeben werden darf, weil es diese und künftige Generationen in Armut stürzt. Es heißt, dass wir vorhandenes Geld so verteilen müssen, dass alle in gleicher Weise etwas davon haben und von Kultur, Bildung, Unterhaltung, den Aushängeschildern unserer Stadt, profitieren.
Und schließlich: Bei der Suche nach dem Besten für diese Stadt darf eine gepflegte, respektvolle Kommunikation der Bürger untereinander nicht fehlen. Kultur ist auch Gesprächskultur, und zwar auf Augenhöhe. Wenn Menschen in einer Stadt etwas Wichtiges zu sagen haben, dann zeugt es von Kommunikationskultur, wenn man sie anhört. Wenn Menschen erst mit ihrem Anliegen auf die Straße gehen und laut werden müssen, dann lässt das darauf schließen, dass da in Sachen Anhören offenbar etwas versäumt worden ist. Zur Gesprächskultur würde gehören, dass man den Protestierenden spätestens jetzt intensiv zuhört und sie ernst nimmt, insbesondere wenn es sich bei ihren Anliegen um so vernünftige Dinge wie maßvollen Umgang mit Geld, Lebensqualität und Erhaltung der Schlossgartenbäume handelt. Eine kluge Stadtverwaltung, die merkt, dass da eine Protestbewegung im Gang ist, würde noch mal in sich gehen und ihr Vorhaben prüfen. Wenn so viele Bürger einer Stadt signalisieren, hier stimmt was nicht – und es sind ja nicht die Dümmsten, die das signalisieren – dann würde eine souveräne Führung, die auf Demokratie setzt, innehalten und sagen: Moment mal, vielleicht sehen die was, was wir nicht sehen. Anstatt sich diese Menschen zu Gegnern zu machen, würde sie aufs reine Kräftemessen verzichten; sie würde verzichten, schon um Polarisierung und Eskalation bis hin zum irreparablen Vertrauensschaden – dem sicheren Herztod einer Stadt – zu verhindern. Denn die Menschen, deren Kräfte, deren Phantasie im Moment gebunden sind im blanken Widerstehen gegen Brachialgewalten, das sind ja Menschen, die sorgen sich um ihre Stadt, die wollen sich mitkümmern, mitreden, mithandeln! Darüber müsste eine kluge, am Besten für ihre Stadt orientierte Crew von städtischen Abgeordneten in Jubel ausbrechen und begeistert sagen: Prima! Was für ein großartiges Kapital, was für eine Chance für unsere Stadt! Jede Regierung könnte darauf stolz sein. Und sie würde, aus Erfahrung klug und wissend, dass man bei einem so anspruchsvollen stadtplanerischen Projekt alles an Erkenntnis zu Hilfe nehmen muss, was zu haben ist, sie würde sich die Ideen, Phantasien, Kompetenzen dieser Bürgerbewegung zu Nutze machen und sie bündeln. Alle gemeinsam würden wir unsere Kräfte in den Dienst der gewaltigen Aufgabe stellen, miteinander überlegen, Zwischentöne äußern – auch das wäre wieder möglich, nicht nur das für und das Gegen -, wir würden vielleicht verwerfen, wieder überlegen, um am Ende das zu finden, was für unsere Stadt das Beste ist.
Noch ist es dazu nicht zu spät! Noch ist Zeit! Noch ist nichts passiert, was nicht gestoppt, modifiziert und in eine andere Richtung gelenkt werden könnte. Noch ist Zeit, der Stadt Bestes zu suchen! Nichts ist unumkehrbar! Das Wort unumkehrbar ist eines, das es in der Bibel nicht gibt. Dort findet sich vielmehr sehr oft der Aufruf zur Umkehr. So oft, dass es einen Grund haben muss. Die Bibel kennt verfahrene Situationen, Situationen, wo sich Menschen vertan, geirrt, verstiegen oder einfach falsch geplant haben. Solche Situationen sind menschlich. Sie kommen häufig vor. In diesen Situationen ist das Wort von der Umkehr der Schlüssel. Es sagt: Man kommt wieder heraus. Weil Verirrungen so menschlich, so normal sind, wird niemand ausgelacht, der umkehrt. Es kann jedem passieren. Auf niemanden, der umkehrt, wird hämisch mit dem Finger gezeigt. Nach dem Motto: Wir habens ja schon immer gewusst. Umkehr löst auch keine Schadenfreude aus, sondern nur reine Freude. Und niemand, der umkehrt, wird sein Gesicht verlieren; er wird es im Gegenteil wieder gewinnen.
Der Umkehr ist eigen, dass sie nicht aufschiebbar ist. Sie kann sofort anfangen. Zum Beispiel heute, am Ostermontag 2010. Denn auch Ostern ist das Datum einer beispiellosen Umkehr, der Umkehr vom Tod ins Leben. An Ostern hat alles unter umgekehrten Vorzeichen neu angefangen. Ostern wäre ein guter Termin auch für einen Neubeginn in Stuttgart.
Amen.
Pfarrerin Guntrun Müller-Enßlin