Liebe Mittrauernden!
Es mag sein, wir gewinnen den Streit, wie wir eben gesungen haben. Aber das fällt uns heute schwer zu glauben.
Wir stehen hier am Rande der Brache und suchen immer noch nach Worten, weil wir es einfach nicht fassen können. Wir sehen um uns, und hinter diesem hässlichen Zaun erstreckt sich eine noch ungleich hässlichere Fläche, Ödland, eine Mondlandschaft. Was haben sie aus unserem Park gemacht?!
Bis zum Schluss hatten wir gehofft. Gehofft, es gebe terminliche Probleme – wegen der Vegetationsperiode oder wegen der bundesweiten Polizeieinheiten. Gehofft, es gebe politischen Druck auf die Bahn, der sie hindern würde – zumal sie ja ohnehin noch nicht graben kann hier. Gehofft, die Schlichtervereinbarung, dass die gesunden Bäume verpflanzt werden müssten, würde das Elend aufhalten. Gehofft, gehofft, gehofft.
Gehofft auf Menschen, auf die Regierung, auf das Glück, auf Gott. Alles vergeblich!
In der Nacht vom 14. auf den 15. Februar haben wir uns hier im Park zu mehreren Tausend denen entgegen gestellt, die den Park frei machen sollten, damit die Bahn ihr Zerstörungswerk beginnen kann. Aber sie haben sich durch uns nicht hindern lassen. Schon am nächsten Tag haben sie einen unvorstellbaren Kahlschlag angerichtet. Und wir waren zum Zuschauen verdammt. Schweigend oder schreiend, weinend oder diskutierend immer neu unsere guten Argumente austauschend mussten wir mit ansehen, wie uns und den vielen hier lebenden Tieren Baum um Baum dieser wichtige Teil des Schlossgartens genommen wurde.
Und heute stehen wir nun hier und wissen nicht, wohin mit unseren Gefühlen und Gedanken. Wut und Enttäuschung, über die Politik und über uns selbst, empörte Anklagen, stille Trauer.
Wir hatten sie unterschätzt, die Mächte, die dieses Wahnsinnsprojekt wollen. Wir hatten es uns nicht wirklich vorstellen können, dass sie diese wunderbaren Bäume und ihre tierischen Bewohner auf dem Altar des Neoliberalismus opfern würden und auf dem Altar der Staatsräson, die klar stellen musste, dass man sich der Wirtschaft nicht in den Weg stellen darf. Auch deshalb musste aus ihrer Sicht unser Widerstand unbedingt gebrochen werden – selbst wenn dieses Projekt gar nicht zu Ende gebaut werden kann, wie viele Fachleute fest annehmen.
Es hat unsere Vorstellungskraft gesprengt, dass sie diese Brutalität wirklich begehen würden. Und es sprengt unsere Vorstellungskraft, dass wir ihnen das jemals verzeihen könnten. – Aber uns selbst sollten wir es verzeihen. Bloß wie?
Natürlich fragt in dieser Situation manch einer nach Gott? Wer wollte uns das verübeln, wenn wir angesichts dieses Elends heute fragen, wo da Gott ist? Dass Menschen uns enttäuschen, ja, wir selbst, das mag noch angehen. Aber Gott?! Müsste der nicht dreinschlagen? – Wenn es ihn denn gäbe!
Und da mutet uns der Apostel Paulus mit dem einen Satz, der dieses Jahr zur Jahreslosung geworden ist, zu, dass wir unser Bild von Gott auf den Kopf stellen, indem Paulus Jesus sagen lässt: „Meine Kraft ist in den Schwachen mächtig.“
„Meine Kraft ist in den Schwachen mächtig.“ – Dieses kleine Sätzchen über die göttliche Kraft stellt die Welt auf den Kopf: Es wirft unsere kindliche Vorstellung von dem Gott, der unberührbar mächtig über den Dingen steht, über den Haufen. Genauso wie unsere gesellschaftliche Erfahrung, dass die Wirtschaftsmächtigen und Kriegstreiber und Rambos sich eben doch immer durchsetzen.
Gottes Kraft ist in den Schwachen mächtig. Das ist eine Zumutung, weil uns mit einem Schlag die Hoffnungen aus der Hand geschlagen werden, wir bräuchten nur eine genügend starke Regierung, müssten uns nur mit den Mächtigen verbinden, müssten nur recht große Mehrheiten hinter uns versammeln – dann würde es schon voran gehen mit der Welt.
Stattdessen mutet uns dieser Satz zu: Das, was diese Welt im Innersten zusammenhält, das, was die Quelle aller Kräfte und Mächte der Welt und der Natur ist – Gott – dieser Gott wirkt nicht auf die Weise der Despoten und Herrscher, sondern durch die Schwachen. Nicht von oben, sondern von unten. Nicht mit Gewalt, sondern in der Weise der Graswurzeln, unter der Erde, unsichtbar, scheinbar vernachlässigbar, verlacht von den Wichtigen, übersehen von den Erfolgreichen. In den Schwachen liegt die Verheißung, dass die Welt durch sie zu einem guten Ziel gelangt.
Gottes Kraft ist in den Schwachen mächtig. Paulus mutet uns mit diesem Satz zu, unsere Hoffnungen nicht auf einen Gott zu setzen, in den wir unsere Machtphantasien projizieren können, nicht in einen Gott, den wir als ins Positive gewendeten Herrscher sehen, den wir aus der Überhöhung unserer – von Ohnmacht geprägten – Alltagserfahrung gewinnen. Sondern wir sollen diese Gewalterfahrungen unseres Alltags auf den Kopf stellen, als Protest gegen die Welt, wie sie ist. So entsteht ein Gottesbild, das ein Gegenbild unserer Gesellschaft ist.
Diese Zumutung, dass wir uns das Gelingen der Welt nicht von den Starken erhoffen sollen, nicht von unserer Wirtschaftsstärke, nicht von eindrucksvollen politischen Parteien, nicht von denen, die so gekonnt mit den Mächtigen verkehren – diese Zumutung ist auch eine wunderbare Verheißung: Was eure scheinbare Schwäche ist, dass ihr die Mächtigen nicht auf eurer Seite habt, das ist in Wahrheit eure Stärke: Denn so, wie wir Christen Gott glauben, verändert er die Welt durch die Macht der Ohnmächtigen, durch den Kampf der Friedliebenden, durch den Druck der Gewaltlosen durch den Reichtum der Habenichtse.
Und diese Zumutung und Verheißung – sie ist auch eine Verpflichtung: Seht euch vor vor denen, die mit den Mächtigen kungeln! Werdet nicht wie sie! Glaubt nicht ihren Versprechungen! Erhofft euch nicht von ihnen die Lösung der wichtigen Fragen, gar die Heilung der Welt! Sondern setzt euch ein für die Opfer der Gesellschaft, für die Menschen, die unter die Räder kommen, für die Natur, die unterworfen wird – indem wir uns auf diese Weise auf der Seite der Schwachen engagieren, gilt auch für uns diese Verheißung, dass Gott durch die Schwachen mächtig ist.
Und wenn da irre geleitete hochmütige Menschen rufen: „Wir sind die Guten.“ Dann antworten wir nicht(!): „Nein, wir(!) sind die Guten!“ Denn Gottes Kraft ist nicht in uns mächtig, weil wir die besseren Menschen wären, moralisch stärker, überlegene Strategen oder weil wir gar die Mehrheit hinter uns hätten. Sondern Gottes Kraft ist in uns mächtig – so glauben’s wir Christen – gerade, weil wir nicht annähernd so sind, wie wir sein sollten. Weil wir unseren eigenen Ansprüchen nicht gerecht werden, weil wir ängstlicher sind als es uns recht ist, weil wir unserer eigenen Überzeugungen nicht sicher sind, weil wir selbst enttäuschend sind, weil wir ganz durchschnittliche schwache Menschen sind, die natürlich den Park nicht schützen konnten.
Aus all diesen Gründen gilt für uns die Verheißung: In euch Schwachen ist Gottes Kraft mächtig, gerade weil ihr nicht auf euch selbst und auf Macht vertraut, sondern weil ihr erstens auf Machtmittel verzichtet und zweitens euch auf die Seite der Ohnmächtigen stellt, der machtlosen Menschen und der machtlosen Natur – deshalb könnt ihr die Hoffnung nähren, dass genau durch euch eine ganz besondere Kraft wirkt. Die Kraft nämlich, die aus einem einzelnen Samenkorn einen mächtigen Baum wachsen lässt. Die Kraft nämlich, die aus unterschätzten Hausfrauen und resignierten Couch-Potatoes wache Menschen macht, mit ungeahnt widerständigem Mut. Die Kraft, die aus 4 Leuten auf der ersten Montagsdemo zig Tausende macht. Die Kraft, die wirtschafthörige Regierungen zu Fall bringt und die auch den Opportunismus der Nachfolger zu Fall bringen kann.
Gottes Kraft ist in den Schwachen mächtig. Diese Überzeugung birgt die lebendige Hoffnung, dass sich die Siege der Mächtigen eines Tages gegen sie selbst wenden werden. Dass die Niedergeschlagenen aufgerichtet werden. Dass die vermeintlich so zukunftsorientierte Mehrheit das Nachsehen hat. Dass sich die Siege der Geldgläubigen eines Tages umkehren werden in ihre große Niederlage.
Wir brauchen nicht an uns selbst zu zweifeln oder gar zu ver-zweifeln, denn unsere Trauer über die verlorenen Bäume und Tiere – das glaube ich fest – sie ist eine Kraftquelle, mit der die Übeltäter nicht gerechnet hatten. Die (wirkliche und vermeintliche) Schwäche unserer Trauer ist es – das glaube ich fest – aus der wir eine Kraft gewinnen werden, die Wirkung hat, weit über das Projekt Stuttgart 21 hinaus.
Und deshalb: Lasst uns heute unsere Trauer nicht wegschieben, nicht verleugnen, nicht verdrängen. Sondern lasst uns gemeinsam traurig sein, weil unsere heutige Trauer wie ein Samenkorn die Kraft in sich trägt, von der Paulus sagt, sie sei Gottes Kraft. In unserer Trauer wirkt die Kraft, die die Bäume hat wachsen lassen, von denen wir hier nur noch die Stümpfe sehen. Die Bäume und Tiere sind weg. Aber die Kraft in ihnen und hinter ihnen – das glaube ich fest – die werden sie nicht totkriegen, denn es ist die Kraft, von der die ganze Welt herkommt, die Kraft, die diese Welt zusammen und am Leben hält, die Kraft, die dieser Welt Zukunft gibt – es ist Gottes Kraft in unserer Trauer – die Kraft, die in den Schwachen mächtig ist.
Amen.
(Martin Poguntke)
Lieber Herr Poguntke,
leider konnte ich beim Trauergottesdienst am 11.3. im Park nicht dabei sein. Es ist mir aber eine ganz große Freude, Ihre Predigt hier nachzulesen! Sie gibt mir viel Kraft, jedesmal, wenn ich die Jahreslosung anschaue. Ebenso Ihre sorglichen Antworten auf 2 verständnislose Kommentare.
Wie auch immer, wir bleiben oben!
Ihre Dorothea Geiges