Monatsarchiv: November 2016

Ansprache beim Parkgebet am 24.11.2016 zu Johannes 14,6;16,12 von Pf.i.R. Hans-Eberhard Dietrich

Liebe Parkgemeinde,

Joh 14,6: Jesus spricht: Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben. Niemand kommt zum Vater denn durch mich.

Joh 16,12: Wenn aber der Geist der Wahrheit kommen wird, der wird euch in alle Wahrheit leiten.

  1. Die „gefühlte“ Temperatur

wenn ich mein Smartphone nach der Temperatur von morgen frage, so kommt da z.B. die Angabe 9 Grad Celsius, drunter steht dann: gefühlt wie 6 Grad. Eigentlich wollte ich nicht wissen, wie irgendein Wetterfrosch sich fühlt, sondern wie kalt oder warm es wirklich wird. Das hat sich bei uns irgendwie eingebürgert, von einer gefühlten Wirklichkeit zu sprechen. Eigentlich ist das banal, kaum der Rede wert, Nebensache. Aber könnte es nicht auch Ausdruck einer ganz neuen Denkweise sein? Ein Denken jenseits der Wirklichkeit, jenseits aller Wahrheit? Auf Neudeutsch heißt das dann „postfaktisches Zeitalter“?

  1. Das postfaktische Zeitalter

Liebe Parkgemeinde, ehrlich gesagt, vor ein paar Monaten kannte ich diesen furchtbarbaren Begriff noch nicht: „postfaktisches Zeitalter“. Aber plötzlich las ich ihn immer wieder und stellte fest, er hat es bis in das Feuilleton seriöser Zeitungen geschafft.

Und jetzt las ich in der Zeitung: Es ist das Wort des Jahres. Die Jury begründete es so: „Das Adjektiv beschreibe Umstände, in denen die öffentliche Meinung weniger durch objektive Tatsachen als durch das Hervorrufen von Gefühlen und persönlichen Überzeugungen beeinflusst werde. Angetrieben von dem Aufstieg der sozialen Medien als Nachrichtenquelle und einem wachsenden Misstrauen gegenüber Fakten, die vom Establishment angeboten werden, habe das Konzept des Postfaktischen seit einiger Zeit an Boden gewonnen.“

Ich möchte es mit meinen eigenen Worten sagen: Die Menschen machen sich die Wirklichkeit zurecht, wie es ihnen gefällt, wie sie sich gerade fühlen. Für sie zählt Wahrheit, zählen Fakten nicht, sondern nur eine gefühlte Wirklichkeit. Man muss sie nur häufig genug behaupten und wiederholen, es wird genügend Menschen geben, die sie glauben. Schlimmer noch, es wird immer genügend Menschen geben, die sie glauben wollen, weil diese Art der Wirklichkeit ihren eigenen Illusionen entspricht. Es zählen nicht die besseren Argumente. Es zählt nur der starke Auftritt, die perfekte Inszenierung. Fakten sind weder richtig noch falsch, richtig sind sie nur, wenn sie der eigenen Sache dienlich sind.

Und wer auf Fakten besteht, der wird noch als Verlierer verhöhnt: „Fakten sind die Krücke der Verlierer, mit denen sie durchs Leben humpeln.“ (Zeit, 29.9.2016 S. 48) Sieger brauchen keine objektiven Fakten, sie schaffen sich ihre Welt, wie es ihnen gefällt. Wahr ist allein das Faktum der Macht, die ist echt. Und es gibt viele Menschen, denen das gefällt, die darauf reinfallen. Oder sollen wir lieber sagen; die gerne darauf reinfallen wollen?

  1. Postfaktische Zeitalter, leider auch unsere Wirklichkeit in Stuttgart

Kommt Ihnen das nicht irgendwie bekannt vor? Wir müssen gar nicht nach Amerika schauen, wo Donald Trump das gerade perfekt und mit viel Beifall praktiziert hat und damit zum Entsetzen der ganzen Welt auch einen Wahlsieg erzielt hat.

Das erleben wir hier in Stuttgart zur Genüge, seit Jahr und Tag. Jüngstes Beispiel: Beharrlich weigerte sich der Oberbürgermeister, gestützt von der Mehrheit des Stadtrates, einen Faktencheck zu S21 zu machen. Weiterlesen

Ansprache beim Parkgebet am 10.11.2016 zu Mk 10, 42-44 von Pfr. i. R. Friedrich Gehring

Jesus sprach: Ihr wisst, dass diejenigen, die als Beherrscher der Völker gelten, sie gewaltsam unterwerfen und die Mächtigen ihnen gegenüber ihre Macht missbrauchen. Aber so soll es unter euch nicht sein; sondern wer groß sein will unter euch, der sei euer Diener, und wer unter euch der Erste sein will, der sei der Knecht aller.

Das griechische Wort für „Macht missbrauchen“ kommt nur im neutestamentlichen Griechisch vor, im übrigen griechischen Sprachraum fehlt das Bewusstsein dafür. Aber Jesus, der in der Tradition der gesellschaftskritischen Propheten Israels zu Hause ist, kann die Dinge beim Namen nennen. Der Kaiser in Rom lässt Widerständler am Kreuz zu Tode foltern wie Erdogan die Oppositionellen, und hätte der Kaiser Nagelbomben oder chemische Waffen gehabt wie Assad, er hätte sie eingesetzt. Die römische Politik lebt vom gewaltsamen Niederhalten, vom Machtmissbrauch. Diesem setzt Jesus den rechten Gebrauch der Macht gegenüber. Sie muss zum Dienst an allen genutzt werden.

Das ist eine klare Vorgabe für die Christenheit. Wie ist diese Vorgabe umgesetzt worden? Bis zur konstantinischen Wende, als das Christentum Staatsreligion wurde, durften die Christen in dem römischen Unterdrückerstaat nicht als Beamte oder Soldaten dienen. Als aber das Christentum in Rom an die Macht gekommen war, ging diese Vorgabe Jesu unter. Zwar prangerte Luther den Machtmissbrauch des Papstes am Beispiel des Ablasses an, deshalb feiern wir seit 11 Tagen das Reformationsjubiläum. Aber bereits 1520 missbrauchte Luther selbst das vierte Gebot zur Forderung nach Untertänigkeit im Feudalismus seiner Zeit. Das 4. Gebot fordert die Sorge um die alten Eltern, damit die Jungen später auch lange leben dürfen. Luther schreibt dazu 1520 im Kleinen Katechismus lapidar: „ williger Gehorsam, demütickeit, undertenickeit umb gottis wolgefallen willen“. 1524 missbraucht Luther seine Macht, indem er den anders denkenden Kollegen Karlstadt durch den Fürsten des Landes verweisen lässt, obwohl dessen Frau hochschwanger ist. Nach 1525 werden auf lutherisches Betreiben Mennoniten umgebracht, weil sie sich gegen den Kriegsdienst wehren. So wurden die lutherischen Kirchen zu Duckmäuserkirchen, in denen es unmöglich oder gar tödlich war, den Machtmissbrauch anzuprangern, wie Jesus das vorgelebt hat. Besonders verhängnisvoll wurde, dass die lutherische unausweichliche Forderung nach dem Kriegsdienst in den beiden Weltkriegen zur kirchlichen Kriegshetze geführt hat. Selbst die „Bekennende Kirche“ hat beim Erntedankfest 1939 nicht nur für die Ernte, sondern auch für den schnellen Sieg in Polen gedankt und beten lassen: „Und bitten dich droben, du Lenker der Schlachten, mögst stehen uns fernerhin bei“. Das „Stuttgarter Schuldbekenntnis“ vom Oktober 1945 sprach von der Schuld des deutschen Volkes, nicht von der der lutherischen Kirchen. Es wird höchste Zeit, am Erntedankfest des Jubiläumsjahrs einen Bußgottesdienst zu feiern, der zur Friedensbotschaft Jesu zurückführt. Das wäre die angemessene Reformation des Reformationsjubiläums.

Christen, die sich gegen Stuttgart 21 engagiert haben, waren von Anfang an schwer enttäuscht über die Haltung der Kirchenleitung der Württembergischen Ev. Landeskirche im Konflikt um dieses Großprojekt. Die Prägung der lutherischen Kirchen als Untertanenkirchen dürfte ein Hauptgrund sein für diese Unfähigkeit, den Machtmissbrauch im Rahmen der Durchsetzung dieses unsinnigen Projekts zu benennen. Nicht einmal der Schwarze Donnerstag hat hieran etwas geändert. Immerhin glichen die Szenen im Stuttgarter Schlosspark sehr stark denen im Gezipark von Istanbul. Dort wird in unserem Land von Presse und Regierung sehr wohl wahrgenommen, wie Erdogan seine Macht missbraucht in einer Weise, die dem Vorgehen Hitlers nach dem so genannten „Röhmputsch“ ähnelt. Immerhin bestellte Außenminister Steinmeier den türkischen Botschafter ein, nachdem Erdogan dieser Tage kritische Journalisten und Oppositionspolitiker verhaften ließ. Aber von Seiten lutherischer Kirchen war zum „Schwarzen Donnerstag“ keine nennenswerte Kritik am Machtmissbrauch hier im Schlossgarten zu hören, auch nicht, nachdem die Unrechtmäßigkeit gerichtlich festgestellt war.

Wir sind hier beim Parkgebet zusammen, weil wir nicht bereit sind, uns damit abzufinden. Wir beharren darauf, den Machtmissbrauch im Rahmen des Projekts Stuttgart 21 anzuprangern. Dabei geht es nicht nur um den „Schwarzen Donnerstag“. Die gesamte herrschende neoliberale Politik, für die Stuttgart 21 ein Schlüsselprojekt darstellt, missbraucht Macht, weil sie nicht mehr allen, sondern nur ein paar wenigen dient zum Schaden der großen Mehrheit. Wie Rom setzt die neoliberale Elite auf die Strategie „Brot und Spiele“. Das Zauberwort für Brot heißt „Arbeitsplätze“, die blutigen Spiele in den römischen Arenen sind ersetzt durch entsprechende Computerspiele, und eine hoch korrupte FIFA macht auch ihren Teil. Mit dem Versprechen von mehr Brot wird bei CETA und ähnlichen Projekten verschleiert, dass es um ein Ermächtigungsgesetz für Konzerne zu deren endgültiger Machtergreifung geht, um einen Staatsstreich. Der Widerstand gegen diese angeblichen Handelsverträge wird mit aller Macht von den Eliten klein geredet und eine Unterzeichnung inszeniert, als ob CETA nun in Kraft wäre. Das ist noch lange nicht ausgemacht. Der Widerstand gegen diesen Staatsstreich ist strukturell vergleichbar dem Widerstand gegen Stuttgart 21. Deshalb ermutigt es uns, dass nicht nur die Wallonen, sondern z. B. auch die Bundesverfassungsrichter erkannt haben, wie CETA unsere Demokratie gefährdet, und Forderungen aufstellen, die die Akteure im internationalen Handel, speziell die marktbeherrschenden Großkonzerne, demokratisch einhegen.

Wir sind durch Jesus selbst aufgerufen, unbeirrt zu fordern, dass die Mächtigen in Wirtschaft und Politik der Allgemeinheit zu dienen haben und nicht umgekehrt. Wir werden uns nicht ablenken lassen durch angebliches Brot und brutale oder sonstige Spiele. Wir sind nicht allein. Und vor allem, wir engagieren uns auf der richtigen Seite, auf der Seite Jesu und seines barmherzigen Vaters.
Amen.