Immer wieder wird von Verantwortlichen in unserer württembergischen Landeskirche betont: Die Kirche muss sich beim Streit um Stuttgart 21 heraus- und neutral verhalten. Dabei wird leicht vergessen, dass die Kirche schon längst in amtlichen Verlautbarungen in guter Weise Stellung bezogen und im Hinblick auf Großprojekte klare Handlungsanweisungen gegeben hat. Da diese Texte schon aus früheren Jahren stammen, sind sie vielleicht nicht mehr allen bekannt. Deshalb soll an dieser Stelle daran erinnert werden.
Schöpfung bewahren – Kirche nimmt Stellung
Aus: „Frieden in Gerechtigkeit für die ganze Schöpfung.“ Text des Forums: „Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung der Arbeitsgemeinschaft christliche Kirchen in der Bundesrepublik Deutschland und Berlin (West) e.V. Stuttgart 1988, S. 103-106.
Worum geht es in diesen Stellungnahmen? Aus dem Glauben an Gott als den Schöpfer der Welt folgt: Der Mensch ist ein Teil dieser Schöpfung und darf die Natur nicht einfach egoistisch ausbeuten. Vielmehr hat er die Pflicht, Verantwortung für diese Welt zu übernehmen. Das heißt z.B. Abschied nehmen von Allmachtsphantasien über die Schöpfung, Abschied nehmen vom Glauben an Wachstum ohne Grenzen und Fortschritt ohne Maß und um jeden Preis.
Im Hinblick auf S 21 sei besonders hingewiesen auf folgende Kriterien: „Vorhaben dieser Art (gemeint sind Großprojekte, Anm.d.Autors) dürfen nicht durchgeführt werden, bevor schwerwiegende Zweifel ausgeräumt sind…. Denn was alle angeht, soll auch von allen entschieden und vor allem öffentlich diskutiert werden, insbesondere muss die Umweltverträglichkeit geprüft werden und ob die Artenvielfalt bedroht ist.“
Was bedeutet dies für die Bewertung von S 21?
Dem Autor ist nicht bekannt, dass bei dem Bahn- und Immobilienprojekt S21 öffentlich, geschweige denn ausreichend der Interessenskonflikt im Hinblick auf die gravierenden Eingriffe in den Schlossgarten, die dortige Tierwelt und die Risiken für die Thermalquellen diskutiert wurden.
Hier ein Auszug (in kursiv wiedergegeben) aus: „Frieden in Gerechtigkeit für die ganze Schöpfung.“ Text des Forums: „Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung der Arbeitsgemeinschaft christlicher Kirchen in der Bundesrepublik Deutschland und Berlin (West) e.V. Stuttgart 1988, S. 103-106.
Theologische Einleitung
Gott hat die Welt geschaffen und bleibt in seiner Schöpfung gegenwärtig. Ihre Bewahrung ist allen Menschen von Gott aufgetragen (vgl. Gen 2,15). Wir Christen glauben, daß die gesamte Schöpfung von der Liebe Gottes getragen bleibt, die sich in Jesus Christus offenbart.
Christen aller Konfessionen bekennen den dreieinigen Gott als Schöpfer, Erhalter, Erlöser und Vollender der Welt. Sie preisen Gott als den Schöpfer des Himmels und der Erde: „Herr, wie zahlreich sind deine Werke! Mit Weisheit hast du sie alle gemacht, die Erde ist voll von deinen Geschöpfen.“(Ps 104,24) Von Jesus Christus bezeugt die Bibel: „Denn in ihm wurde alles geschaffen, im Himmel und auf Erden, das Sichtbare und das Unsichtbare, Throne und Herrschaften, Mächte und Gewalten; alles ist durch ihn und auf ihn hin geschaffen. Er ist vor aller Schöpfung, in ihm hat alles Bestand.“(Kol 1,16 f.) Alles Geschaffene ist vom Geist Gottes, dem Liebhaber des Lebens, durchwaltet und wird dadurch geheiligt. …
Gott hat den Menschen als Teil seiner Schöpfung erschaffen. Alle Mitgeschöpfe haben ihren eigenen Wert, der darin begründet liegt, daß sie von Gott gewollt sind. Die Ehrfurcht vor dem Leben verbietet es, Tier- und Pflanzenwelt vornehmlich unter dem Gesichtspunkt ihres Nutzens und der Verwertbarkeit für den Menschen zu sehen. Das gilt auch für die unbelebte Natur. Gott hat dem Menschen jedoch auch eine besondere Stellung in seiner Schöpfung vorbehalten: Er hat ihm den Auftrag gegeben, als sein Abbild Verantwortung für die Mitgeschöpfe wahrzunehmen.
Unsere Schuld besteht darin, daß wir immer wieder aus egoistischen Motiven die uns gezogenen Grenzen verletzen und der Schöpfung nicht mehr behebbare Schäden zufügen. Die Natur ist vorwiegend zum Rohstoff für eine verschwenderische Produktion von Konsumgütern geworden.
Die Schöpfung ist uns zur Gestaltung und zur Pflege anvertraut. Mit der Anmaßung grenzenloser Herrschaft über die Natur mißachten wir unseren Auftrag und erweisen uns so als Sünder. Zudem gefährden wir das ökologische Gleichgewicht und riskieren unsere Zukunft wie die der kommenden Generationen. Mit dieser Praxis tun wir der Schöpfung Gewalt an. Umkehr zu Gott ist daher notwendig. Begründet ist diese Umkehr in der tiefen Überzeugung, daß Gott Freude an seiner Schöpfung hat und sie liebt. Es gilt, die Dankbarkeit für das Geschenk der Schöpfung wiederzugewinnen und unsere tägliche Verantwortung für das Geschaffene so wahrzunehmen, daß wir in den Lobpreis der gesamten Schöpfung einstimmen können. Der Mensch darf die Früchte und Schätze der Erde dankbar nutzen. Aber gerade darin soll er Abbild Gottes sein, daß er wie Gott fürsorglich, liebevoll die Schöpfung hegt und pflegt. Das aber heißt heute, viel größere Anstrengungen zu unternehmen, um die Gewalt gegen die Schöpfung zu vermindern. …
Wahrnehmung der Verantwortung
Wenn wir als Christen, und sei es auch nur bruchstück- und zeichenhaft, den verheißenen Frieden Gottes in dieser Schöpfung aufzeigen wollen, müssen wir umdenken. Ausgehend vom biblischen Schöpfungsauftrag gilt es, mit Hilfe der menschlichen Vernunft Maximen für das konkrete Handeln in der Welt zu entwickeln.
Wir müssen ablassen von Machtphantasien über die Schöpfung und demütig die Grenzen unseres Handlungsspielraums und unsere eigene Begrenzung anerkennen. Wir müssen Abschied nehmen von dem Glauben an ein unbegrenztes Wachstum und an Fortschritt ohne Ende und uns am Maßstab des Lebens und dessen, was dem Leben dient, orientieren. Bei der Verwirklichung dieses Umdenkens sind wir häufig konfrontiert mit starken Interessenkonflikten. Oft stehen z. B. Wirtschaftlichkeit, Besitzstandswahrung und -Vermehrung, politisches Machtstreben und Sicherung von Arbeitsplätzen gegen die Bestrebungen der Umwelterhaltung; ökonomische Interessen beanspruchen im allgemeinen Vorrang vor ökologischen Interessen. Als Christen können wir uns der schwierigen Aufgabe nicht entziehen, uns für ein solches Umdenken in allen Lebensfeldern, auch im politischen Bereich, einzusetzen. Dazu gehört, z. B. in Wirtschaft und Politik immer wieder auf die Überprüfung und Einhaltung der folgenden Kriterien zu drängen:
- die Umweltverträglichkeit,
- die Sozialverträglichkeit,
- die Generationenverträglichkeit,
- die internationale Verträglichkeit.
Bei größeren Planungsvorhaben sind diese Kriterien zu berücksichtigen. Schon die Entstehung von Umweltschäden gilt es zu vermeiden. Deshalb sollten folgende Fragen vorab geklärt werden:
- Zieht dieses Vorhaben tiefgreifende, dauerhafte und nicht wiedergutzumachende Schäden nach sich?
- Sind die Auswirkungen des Vorhabens in ihrer zeitlichen und räumlichen Erstreckung übersehbar?
- Sind Nebenfolgen so erheblich, daß sie nicht in Kauf genommen werden können?
- Sind die Würde der Menschen und die Artenvielfalt durch dieses Vorhaben bedroht?
… Als Anwältinnen der Schöpfung stellen Kirchen diese Fragen öffentlich. Sie dringen darauf, daß Vorhaben dieser Art nicht durchgeführt werden, bevor schwerwiegende Zweifel ausgeräumt sind.
Zu einer solchen Vorsorge zählt insbesondere die Abschätzung der Folgen für die ökologischen Kreisläufe. Diese Naturkreisläufe dürfen nicht unterbrochen oder zerstört werden. …
Die Auswirkungen eines Vorhabens müssen in ihren zeitlichen und räumlichen Dimensionen übersehbar bleiben. Im Sinne der Fürsorgepflicht muß die Erde auch für die nachfolgenden Generationen bewohnbar und lebenswert sein. …
Generell sind sogenannte technische und wirtschaftliche Sachzwänge daraufhin zu überprüfen, ob sie dem Leben der Menschen und der ganzen Schöpfung dienen und den oben genannten Kriterien genügen. Bei dem Entscheidungsprozeß, in dem diese Kriterien zur Anwendung kommen, muß die gesamte Gesellschaft mit einbezogen werden. Denn was alle angeht, soll auch von allen entschieden werden.
Verfasser: Hans-Eberhard Dietrich, Pfarrer i.R.