Monatsarchiv: Februar 2014

Schützenhilfe vom Papst: Der neoliberale Kapitalismus und S21 von Hans-Eberhard Dietrich. 24. Februar 2014

Ein Grund unserer Kritik an S21: Es ist ein Paradebespiel des neoliberalen Kapitalismus
Wir haben auf unserem Blog und in unserem Buch „Stuttgart21 – Christen sagen nein“ in verschiedenen Beiträgen unsere Kritik an S21 damit begründet, dass es ein Paradebeispiel des neoliberalen Kapitalismus ist. Er befriedigt nicht die Bedürfnisse der Menschen, sondern will einzig die Anhäufung des Kapitals in den Händen weniger. Bei dieser Gier ist er blind für die sozialen, ökologischen, volkswirtschaftlichen und gesellschaftlichen Folgen und zerstört auf diese Weise letztlich Mensch und Natur.

Wir formulierten in unseren 6 Thesen u.a.:
S21 ist ein Projekt menschlicher Überheblichkeit
Es stellt nicht die Lebensqualität in den Mittelpunkt. Wir verstehen die Klagen der Propheten, ihre Anklagen gegen soziales Unrecht und Jesu Warnung vor dem Mammon als Absage an eine Haltung, mit der in erster Linie materieller Vorteil und Gewinn angestrebt werden. Sie schadet und widerspricht dem aus jüdisch-christlicher Tradition gewonnenen Menschenbild.
S21 bevorzugt die Starken zum Nachteil der Schwachen. Unantastbare Würde ist allen Menschen von Gott zugesprochen. Gleichwohl gilt nach biblischem Zeugnis die „vorrangige Option für die Schwachen“. Nach biblischer Tradition hat sich Gott selbst zum Anwalt der Schwachen gemacht. Deshalb sollen und müssen Christen deren Sache zu der ihren machen. Vorgebliche „Neutralität“ gegenüber Starken und Schwachen stellt sich faktisch auf die Seite der Starken.
Letztlich geht S21 fahrlässig mit der Schöpfung um. Durch die biblische Überlieferung von der Schöpfung, durch die darin enthaltene Vorstellung von der Gottesebenbildlichkeit sehen wir uns in der Verantwortung, zu Schutz und Pflege der Schöpfung aktiv beizutragen.“
Schützenhilfe von Papst Franziskus
Unerwartet und überraschend erhält unsere Kritik Schützenhilfe von Papst Franziskus. „Evangelii gaudium“ ist der Titel des Apostolischen Schreibens, das Papst Franziskus am 24. November 2013 im Verlauf der Heiligen Messe auf dem Petersplatz an 36 ausgewählte Repräsentanten aus 18 Ländern übergeben hat. Vor allem die Kapitalismuskritik hat ein lebhaftes Pressecho ausgelöst.
Wir können diese Kritik in ein paar Schlagworten zusammenfassen:
+ Nein zu einer Wirtschaft der Ausschließung
+ Nein zur neuen Vergötterung des Geldes
+ Nein zu einem Geld, das regiert, statt zu dienen
+ Wir dürfen nicht mehr auf die blinden Kräfte und die unsichtbare Hand des Marktes vertrauen.
+ Sich der Schwachen annehmen bedeutet heute, die Schöpfung bewahren

Die Schlagworte im Einzelnen:
+Nein zu einer Wirtschaft der Ausschließung
Heute spielt sich alles nach den Kriterien der Konkurrenzfähigkeit und nach dem Gesetz des Stärkeren ab, wo der Mächtigere den Schwächeren zunichte macht. Als Folge dieser Situation sehen sich große Massen der Bevölkerung ausgeschlossen und an den Rand gedrängt: ohne Arbeit, ohne Aussichten, ohne Ausweg. Der Mensch an sich wird wie ein Konsumgut betrachtet, das man gebrauchen und dann wegwerfen kann.

+ Nein zur neuen Vergötterung des Geldes
Wir haben neue Götzen geschaffen. Die Anbetung des antiken goldenen Kalbs (vgl. Ex 32,1-35) hat eine neue und erbarmungslose Form gefunden im Fetischismus des Geldes und in der Diktatur einer Wirtschaft ohne Gesicht und ohne ein wirklich menschliches Ziel.
+ Nein zu einem Geld, das regiert, statt zu dienen
Ethik wird als zu menschlich angesehen, weil sie das Geld und die Macht relativiert. Man empfindet sie als eine Bedrohung, denn sie verurteilt die Manipulierung und die Degradierung der Person.

+Wir dürfen nicht mehr auf die blinden Kräfte und die unsichtbare Hand des Marktes vertrauen. Das Wachstum in Gerechtigkeit erfordert etwas, das mehr ist als Wirtschaftswachstum, auch wenn es dieses voraussetzt;

+ Sich der Schwachen annehmen bedeutet heute, die Schöpfung bewahren
Es gibt noch andere schwache und schutzlose Wesen, die wirtschaftlichen Interessen oder einer wahllosen Ausnutzung auf Gedeih und Verderb ausgeliefert sind. Ich beziehe mich auf die Gesamtheit der Schöpfung. Wir sind als Menschen nicht bloß Nutznießer, sondern Hüter der anderen Geschöpfe.

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Wer sich für einen ausführlichen Auszug interessiert, hier eine pdf Version. Und im Buchhandel ist die Schrift auch zu erhalten.

(pdf-Datei: Apostolisches Schreiben, Evangelii gaudium)

Ansprache beim Pargebet am 20.2.2014 zu Jak 5,1-6 von Pfr. i. R. Friedrich Gehring

Luther hat den Jakobusbrief nicht gemocht, er hat ihn eine stroherne Epistel genannt. Das darf im Blick auf die Reichenschelte des Jakobus nicht wundern. Denn Luther ist nach dem Bauernaufstand von 1525 auf die Seite der reichen Feudalherren getreten. Von diesen wurden die lutherischen Kirchen finanziert, da war es aus mit der Reichenkritik. Unsere lutherischen Kirchen sind bis heute dieser Scheu unterworfen. Der Sprecher der Ev. Landeskirche in Württemberg, Oliver Hoesch, hat im vergangenen Dezember vor laufender Kamera erklärt, die Landeskirche stehe neutral zwischen denen, die bei Stuttgart 21 eine Stellungnahme als zwingend erforderlich ansehen, und denen, die eine solche für verzichtbar halten. Nach den einfachen Gesetzen der Logik bedeutet das aber, dass wenn die Landeskirche keine Stellung bezieht, sie auf der Seite derer steht, die sie für überflüssig halten. Eine Stellungnahme müsste wohl zwangsläufig auch eine Kritik an den Profiteuren von Stuttgart 21 formulieren, die der Reichenschalte des Jakobus sehr nahe käme. Hier herrscht auch heute noch die klassisch lutherische Zurückhaltung.
Wenn wir uns allerdings an Jesus orientieren, dann kommen wir an der Kritik am Reichtum nicht vorbei. Denn nach Jesus kommt eher ein Kamel durch ein Nadelöhr als ein Reicher ins Reich Gottes (Mk 10,25). Wenn unsere Kirche den gierig Raffenden mit Jakobus zurufen würde: „Heulet über das Elend, das über euch kommen wird“, dann wäre dies zugleich hochaktuell. Wer wie Alice Schwarzer oder Uli Hoeneß Schätze sammelt und dabei noch Steuerverbrechen begeht, dem stünde wohl an zu heulen vor Scham. Dasselbe gilt für diejenigen, die sich an dem so brandgefährlichen wie nutzlosen und zerstörerischen Projekt Stuttgart 21 bereichern wollen. Denn das Geld, das derart dreist abgezogen wird, fehlt anderswo.
Michael Tsokos, Berlins oberster Rechtsmediziner, der regelmäßig zu Tode geprügelte Kinder obduzieren muss, sagt: „In Deutschland sterben Kinder für Geld“ (Frankfurter Rundschau, 5.2.14, S.38f). Aus 20-jähriger Erfahrung stellt er fest, dass Deutschland systematisch beim Kinderschutz versagt. Das hat natürlich auch mit den Mitteln zu tun, die für den Kinderschutz nicht ausgegeben werden. Ich habe verlässliche Information über eine Grundschulklasse im Großraum Stuttgart, in der ein Mädchen ist, deren familiärer sexueller Missbrauch seit über einem Jahr aktenkundig ist. Die Strafanzeige unterbleibt seitens der Familie wegen des faulen familiären Friedens, seitens des Jugendamts wegen Überlastung bzw. mangelnder finanzieller Mittel. Die Klassenlehrerin würde am liebsten Anzeige erstatten, aber dann würden die Eltern vermutlich durch Wegzug oder Umschulung das Kind ihrem Schutz entziehen. Wenn das Jugendamt mit mehr Stellen und mehr Mitteln zur außerfamiliären Unterbringung ausgestattet wäre, müssten weniger Kinder solche Martyrien erleiden. Aber die Millionen, die die Stadt Stuttgart für Stuttgart 21 ausgibt, stehen für einen wirksamen Kinderschutz nicht mehr zur Verfügung. Beim Geldausgeben zeigt sich, dass ihr die reichen Profiteure wichtiger sind als die armen Kinder.
Jakobus wagt es noch, den „ungerechten Mammon“ (Lk 16,9) der Reichen anzuprangern. Er kann sehen, was aus dem Raffen der Gierigen wird: „Euer Reichtum ist verfault, … euer Gold und Silber ist verrostet.“ Natürlich wissen wir alle, dass Gold nicht rostet, aber wir können heute gut verstehen was Jakobus meint. Der Goldpreis ist in enorme Höhen gestiegen, weil die reichen Anleger nicht mehr wussten wohin mit ihrem Geld. Nun ist der Goldpreis 2013 um 30 % gefallen, so „verrostet“ auch Gold. Weil zu viele zu viel gerafft haben, wird Geld anlegen schwierig: Zu viele wollen Zinsen einstecken, immer weniger wollen Zinsen zahlen. Nun ist das Jammern groß. Die Zinsen bleiben hinter der Inflation zurück, Reichtum „verfault“. Wir können auch zusehen, wie das Projekt der reichen Profiteure von Stuttgart 21 verfault. Ursprünglich meinten die bauernschlauen Planer, der Tiefbahnhof wäre aus den Spekulationsgewinnen beim Verkauf des Bahngeländes zu finanzieren. Diese Idee ist längst verrottet. Die gierige Deutsche Bahn AG meinte dann, durch die Sprechklausel die Kosten der Fehlspekulation auf die öffentlichen Haushalte abwälzen zu können. Dann kam überraschend die grün-rote Landesregierung an die Macht und beschloss den Kostendeckel, der auch bei der Volksabstimmung galt, nun ist auch diese geniale Idee verfault. Die kühne Idee des Nesenbachdükers verfault dadurch, dass kein Bauunternehmen diesen verrückten Plan verwirklichen will. Nun denkt man daran, den Tiefbahnhof ins Wasser zu betonieren. Wir dürfen gespannt sein, wann diese Idee verrottet. Die 121 Fäulnisrisiken, die der Fachmann Azer aufgelistet hat, sind nicht dadurch weg, dass Herr Azer nicht mehr Projektleiter ist.
Wir müssen also die Förderer des Projekts Stuttgart 21 nicht beneiden. Vor allem nach dem Volksentscheid wurde versucht, uns Projektgegner als die Verlierer hinzustellen. Jakobus öffnet uns die Augen für die andere Perspektive. Wir werden dabei nicht in Schadenfreude verfallen, aber nüchtern feststellen: „Wohlan nun, ihr Reichen, weinet und heulet über das Elend, das über euch kommen wird“. Als Nachfolger Jesu geben wir die Hoffnung nicht auf, dass die Reichen sich noch rechtzeitig vor ihrem Elend warnen lassen und umkehren. Amen.

Ansprache zum 2. Jahrestag der Parkräumung am 14.2. 2014 von Pfr. i.R. Friedrich Gehring

Als wir im März 2012 einen Trauergottesdienst für den zerstörten mittleren Schlossgarten gehalten haben, wurde uns von Kritikern vorgehalten, dies sei im Vergleich zur Trauer um verstorbene Menschen unangemessen. Es wurde an unserem Verstand gezweifelt und uns eine übertriebene Sensibilität für die 176 Bäume vorgeworfen angesichts weltweiter riesiger Abholzungen und täglicher tausendfacher Tierschlachtungen in Deutschland.

Ich ziehe mir den Schuh, den mir diese Kritiker anbieten, nicht an, sondern reiche ihn zurück: Es ist für mich auffällig, dass dort, wo Tiere auf engstem Raum eingepfercht werden, auch Menschen eingepfercht werden, die für Hungerlöhne diese Tiere schlachten sollen. Wer massenhaft Antibiotika verfüttert, dem ist auch die menschliche Gesundheit egal. Hier ist die mangelnde Sensibilität für das Leid der Tiere gepaart mit der fehlenden Empathie für Mitmenschen. Wer sein Mitgefühl mit der Mitkreatur verdrängt, tut sich auch schwer mit der Einfühlung in den Schmerz seiner Mitmenschen. Wer Tiere und Pflanzen im Schlossgarten der Profitgier weniger opfert, für den sind dann auch Menschen, die in Tunneln ersticken, eine zu vernachlässigende Größe.

Schöpfungsverachtung und Menschenverachtung liegen beim Dienst an dem Götzen Mammon nahe beieinander. Auch bei der Loveparade in Duisburg hat wohl das Interesse an dem Geschäft mit dem Großereignis blind gemacht für die Risiken. Man darf gespannt sein, wann das Eisenbahnbundesamt angeklagt wird für die fahrlässige Genehmigung von Stuttgart 21 ohne ausreichende Berücksichtigung des Brandrisikos.

Wir sind heute zusammen, weil wir unseren Schmerz nicht verdrängen, sondern öffentlich zeigen, und dabei unsere Empathie in fremden Schmerz bewahren. Wir schämen uns nicht unserer öffentlichen Trauer. Unsere Trauer hat nicht das Ziel, den verlorenen Teil des Schlossgartens einfach nur loszulassen. Lange Zeit war in der professionellen Begleitung Trauernder das Loslassenkönnen die hauptsächliche Zielsetzung. Der Theologe und Psychotherapeut Roland Kachler hat als professioneller Trauerbegleiter dieses Ziel lange Zeit verfolgt, bis er seinen 16-jährigen Sohn bei einem Verkehrsunfall verlor und am Grab spürte, dass er zum Loslassen überhaupt nicht bereit war. Er hat über dieser Erfahrung zu einer neuen Praxis der Trauer gefunden, die nicht auf das Abschied nehmen zielt, sondern kreativ an der Beziehung zu dem verlorenen geliebten Menschen arbeitet. Er erlebte, dass er – trotz tiefer Trauer – in seiner Liebe seinem Sohn nahe blieb, dass das gemeinsam Erlebte durch die Erinnerung bewahrt wurde und nicht verloren gehen konnte, dass der geliebte Sohn in seinem Herzen weiter lebendig war. Er konnte sagen: „Du bleibst bei mir in den Bäumen, im Wind und in den Sternen“.

Ich habe den Eindruck, dass wir mit unserem heutigen Gedenken eine sehr ähnliche Erfahrung machen können. In kreativer Weise beleben wir die Erinnerung an den verlorenen Teil unseres wunderschönen Schlossparks. Wir sorgen dafür, dass das Schöne, das wir hier genossen haben, in unserer Erinnerung bewahrt bleibt und uns nicht mehr genommen werden kann. Wenn ein Vater sich seinem verstorbenen Sohn nahe fühlt „in den Bäumen, im Wind und in den Sternen“, dann müsste uns das mit dem verlorenen Teil des Schlossparks auch möglich sein.
Ich kann mir vorstellen, dass für nicht wenige unter uns die Trauer um die Bäume und Tiere hier im Park verbunden ist mit anderen Verlusterfahrungen ihres Lebens. Möge unsere heutige Trauerarbeit uns helfen, ohne zu verdrängen mit anderen Verlusten unseres Lebens ebenso kreativ und heilsam umzugehen im Sinne der Seligpreisung Jesu: „Glückselig sind, die Leid tragen, denn sie sollen getröstet werden“. Amen.

Ansprache beim Parkgebet am 6.2.2014 zu Mk 10,13-16 von Pfr. i. R. Friedrich Gehring

Anrühren soll Jesus die Kinder, das wünschen sich die Eltern. Wahrscheinlich erhoffen sie sich von der Berührung durch einen heiligen Mann so etwas wie magischen Schutz für ihre Kleinen. Aber Jesus tut etwas, wozu man kein heiliger Mann sein muss: Er umarmt die Kinder. Damit gibt er den Eltern einen Hinweis: So sollen sie mit ihren Kindern umgehen, das macht sie stark fürs Leben. Denn Zärtlichkeit ist Lebenskraft, nicht nur für Kinder: Am vergangenen Sonntag war in der Presse zu lesen, dass in vielen deutsche Städten therapeutische Kuschelgruppen angeboten werden.
Es mag überraschen, diese Szene mit den Kindern bei einem Parkgebet anzubieten, bei dem wir doch eher gesellschaftskritische politische Themen behandeln. Ich möchte aber zeigen, dass diese Szene mehr ist als eine Idylle für Bilder in Kindergärten. Denn Zärtlichkeit ist ein Lebensprinzip, das die konsequenteste Gegenkultur darstellt zur Gewalttätigkeit und Machtausübung. Wenn ich jemandem zärtlich begegne, achte ich in jedem Augenblick darauf, ob meine Berührung meinem Gegenüber angenehm ist, und ich bin sofort bereit zurückzuweichen, wenn dies nicht mehr der Fall ist. Ich biete an, zwinge aber zu nichts. Ich achte ständig auf Einvernehmlichkeit. Zärtlichkeit ist konsequentester Gewaltverzicht.
Wenn ich an jene waffennärrische Lehrerin in Newtown in Connecticut denke, deren Sohn zuerst mit der mütterlichen Waffe seine Mutter erschoss, ehe er in ihrer Schule Amok lief, so kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass diese Mutter zu ihrem Sohn jemals zärtlich war. Ich kann mir aber sehr gut vorstellen, dass sein Zärtlichkeitsbedürfnis derart frustriert war, dass aus dieser Frustration die Wut wurde, die schließlich in den Amoklauf mündete. Wenn wir solchen grauenhaften Gewaltexzessen junger Menschen vorbeugen wollen, müssen wir ihnen rechtzeitig Zärtlichkeit schenken. Zärtlichkeit beugt Gewalt vor.
Wir werden als Kopfbahnhoffreunde und Gegner des Projekts Stuttgart 21 ja immer wieder Wutbürger genannt. Tatsächlich kann vieles, was wir im Rahmen dieses Bauprojekts erleben, Wut aufkommen lassen. Im Schwäbischen sagen wir gelegentlich: Da geht einem das Messer in der Tasche auf. Es hat keinen Sinn, diese Emotionen zu leugnen oder sie verdrängen zu wollen. Aber ich meine, wir sollten uns von ihnen nicht auffressen lassen. Wir sollten uns besinnen auf die Gegenkultur der Zärtlichkeit, denn sonst können wir so destruktiv werden wie unsere Gegner. Zärtlichkeit ist ein Gegengewicht zu destruktivem Hass und zerstörerischer Machtausübung.
Ich habe viele Jahre lang im Religionsunterricht den Heranwachsenden die Gelegenheit geboten, ihre Geschlechterrollen zu reflektieren. Anhand einer Liste von männlichen und weiblichen Rollenstereotypen konnten sie sich bewusst machen, wo sie selbst standen. Ich gab aber auch die Gelegenheit zu formulieren, was jeweils vom anderen Geschlecht erwartet wurde. Auffälliger Weise haben sehr häufig die jungen Männer geäußert, sie erwarten von ihren Partnerinnen „Sanfte Autorität“. In der Verliebtheit suchen und finden wir ja im geliebten Gegenüber gerade das, was wir selbst nicht haben. Natürlich habe ich den jungen Männern geraten, diese sanfte Autorität nicht nur bei ihren Freundinnen zu suchen, sondern in den eigenen Lebensvollzug zu intergieren, wie Jesus uns das vorlebt.
In der Talkshow von Markus Lanz, die vor Wochen heftige Kritik erfuhr, hat m. E. Sarah Wagenknecht diese „sanfte Autorität“ hervorragend verkörpert. Sie hat mit großer Sachkenntnis kritisch argumentiert, ohne zu verletzen, so konnte sie vorbildlich gelassen bleiben, als ihre Gegner bissig wurden. Ihre beiden männlichen Kontrahenten täten gut daran, in dieser Hinsicht von ihr zu lernen. Denn es kann nicht angehen, dass wir diese Qualität den Frauen zuschieben, während Männer weiter ihre aggressiven Spiele treiben und Virtuosität erstreben im Niedermachen anderer. In unserem Widerstand gegen Stuttgart 21 brauchen wir Frauen und Männer, die sanfte Autoritäten sein können.
In der nächsten Woche steht ein schwieriger Termin an, zu dem wir diese Tugend dringend brauchen. Es jährt sich zum zweiten Mal die Zerstörung im Schlossgarten. Die Erinnerung wird bei vielen unter uns erneut Trauer und Wut auslösen. Das wollen wir nicht verstecken, aber ich denke, wir sollten uns dabei auf die Lebenskraft spendende Zärtlichkeit Jesu besinnen. Wenn unsere Trauer in tröstende Umarmungen mündet, dann werden wir als Frauen und Männer nicht die Destruktivität unserer Gegner nachahmen, sondern die Alternative leben, die Jesus uns anbietet. Dann werden wir die Verheißung der Bergpredigt erfahren (Mt 5,5): Glücklich zu preisen sind die Sanftmütigen, denn sie werden das Erdreich besitzen. Amen.