Monatsarchiv: November 2010

„Schlichtung“

Der Schlichter empfiehlt sich für weitere Aufgaben, findet die
Süddeutsche Zeitung, sogar für die schwierigste aller Schlichtungen:

Sich einmischen – Kirche hat schon Stellung bezogen

Immer wieder wird von Verantwortlichen in unserer württembergischen Landeskirche betont: Die Kirche muss sich beim Streit um Stuttgart 21 heraus- und neutral verhalten. Dabei wird leicht vergessen, dass die Kirche schon längst in amtlichen Verlautbarungen in guter Weise Stellung bezogen und im Hinblick auf Großprojekte klare Handlungsanweisungen gegeben hat. Da diese Texte schon aus früheren Jahren stammen, sind sie vielleicht nicht mehr allen bekannt. Deshalb soll an dieser Stelle daran erinnert werden.

Schöpfung bewahren – Kirche nimmt Stellung
Aus: „Frieden in Gerechtigkeit für die ganze Schöpfung.“ Text des Forums: „Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung der Arbeitsgemeinschaft christliche Kirchen in der Bundesrepublik Deutschland und Berlin (West) e.V. Stuttgart 1988, S. 103-106.

Worum geht es in diesen Stellungnahmen? Aus dem Glauben  an Gott als den Schöpfer der Welt folgt: Der Mensch ist ein Teil dieser Schöpfung und darf die Natur nicht einfach egoistisch ausbeuten. Vielmehr hat er die Pflicht, Verantwortung für diese Welt zu übernehmen. Das heißt z.B. Abschied nehmen von Allmachtsphantasien über die Schöpfung, Abschied nehmen vom Glauben an Wachstum ohne Grenzen und Fortschritt ohne Maß und um jeden Preis.

Im Hinblick auf S 21 sei besonders hingewiesen auf folgende Kriterien: „Vorhaben dieser Art (gemeint sind Großprojekte, Anm.d.Autors) dürfen nicht durchgeführt werden, bevor schwerwiegende Zweifel ausgeräumt sind…. Denn was alle angeht, soll auch von allen entschieden und vor allem öffentlich diskutiert  werden, insbesondere muss  die Umweltverträglichkeit geprüft werden und ob die Artenvielfalt bedroht ist.“

Was bedeutet dies für die Bewertung von S 21?
Dem Autor ist nicht bekannt, dass bei dem Bahn- und Immobilienprojekt S21 öffentlich, geschweige denn ausreichend der Interessenskonflikt im Hinblick auf die gravierenden Eingriffe in den Schlossgarten, die dortige Tierwelt und die Risiken für die Thermalquellen diskutiert wurden.

Hier ein Auszug (in kursiv wiedergegeben) aus: „Frieden in Gerechtigkeit für die ganze Schöpfung.“ Text des Forums: „Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung der Arbeitsgemeinschaft christlicher Kirchen in der Bundesrepublik Deutschland und Berlin (West) e.V. Stuttgart 1988, S. 103-106. 

Theologische Einleitung
Gott hat die Welt geschaffen und bleibt in seiner Schöpfung gegenwärtig. Ihre Be­wahrung ist allen Menschen von Gott aufgetragen (vgl. Gen 2,15). Wir Christen glauben, daß die gesamte Schöpfung von der Liebe Gottes getragen bleibt, die sich in Jesus Christus offenbart.
Christen aller Konfessionen bekennen den dreieinigen Gott als Schöpfer, Er­halter, Erlöser und Vollender der Welt. Sie preisen Gott als den Schöpfer des Himmels und der Erde: „Herr, wie zahlreich sind deine Werke! Mit Weisheit hast du sie alle gemacht, die Erde ist voll von deinen Geschöpfen.“(Ps 104,24) Von Jesus Christus bezeugt die Bibel: „Denn in ihm wurde alles geschaffen, im Himmel und auf Erden, das Sichtbare und das Unsichtbare, Throne und Herr­schaften, Mächte und Gewalten; alles ist durch ihn und auf ihn hin geschaffen. Er ist vor aller Schöpfung, in ihm hat alles Bestand.“(Kol 1,16 f.) Alles Geschaf­fene ist vom Geist Gottes, dem Liebhaber des Lebens, durchwaltet und wird dadurch geheiligt. …
Gott hat den Menschen als Teil seiner Schöpfung erschaffen. Alle Mitgeschöpfe haben ihren eigenen Wert, der darin begründet liegt, daß sie von Gott gewollt sind. Die Ehrfurcht vor dem Leben verbietet es, Tier- und Pflanzenwelt vor­nehmlich unter dem Gesichtspunkt ihres Nutzens und der Verwertbarkeit für den Menschen zu sehen. Das gilt auch für die unbelebte Natur. Gott hat dem Menschen jedoch auch eine besondere Stellung in seiner Schöp­fung vorbehalten: Er hat ihm den Auftrag gegeben, als sein Abbild Verantwor­tung für die Mitgeschöpfe wahrzunehmen.
Unsere Schuld besteht darin, daß wir immer wieder aus egoistischen Motiven die uns gezogenen Grenzen verletzen und der Schöpfung nicht mehr behebbare Schä­den zufügen. Die Natur ist vorwiegend zum Rohstoff für eine verschwenderische Produktion von Konsumgütern geworden.
D
ie Schöpfung ist uns zur Gestaltung und zur Pflege anvertraut. Mit der An­maßung grenzenloser Herrschaft über die Natur mißachten wir unseren Auf­trag und erweisen uns so als Sünder. Zudem gefährden wir das ökologische Gleichgewicht und riskieren unsere Zukunft wie die der kommenden Genera­tionen. Mit dieser Praxis tun wir der Schöpfung Gewalt an. Umkehr zu Gott ist daher notwendig. Begründet ist diese Umkehr in der tiefen Überzeugung, daß Gott Freude an seiner Schöpfung hat und sie liebt. Es gilt, die Dankbarkeit für das Geschenk der Schöpfung wiederzugewinnen und un­sere tägliche Verantwortung für das Geschaffene so wahrzunehmen, daß wir in den Lobpreis der gesamten Schöpfung einstimmen können. Der Mensch darf die Früchte und Schätze der Erde dankbar nutzen. Aber gerade darin soll er Ab­bild Gottes sein, daß er wie Gott fürsorglich, liebevoll die Schöpfung hegt und pflegt. Das aber heißt heute, viel größere Anstrengungen zu unternehmen, um die Gewalt gegen die Schöpfung zu vermindern. …  

Wahrnehmung der Verantwortung
Wenn wir als Christen, und sei es auch nur bruchstück- und zeichenhaft, den ver­heißenen Frieden Gottes in dieser Schöpfung aufzeigen wollen, müssen wir umdenken. Ausgehend vom biblischen Schöpfungsauftrag gilt es, mit Hilfe der menschlichen Vernunft Maximen für das konkrete Handeln in der Welt zu ent­wickeln.
Wir müssen ablassen von Machtphantasien über die Schöpfung und demütig die Grenzen unseres Handlungsspielraums und unsere eigene Begrenzung anerkennen. Wir müssen Abschied nehmen von dem Glauben an ein unbe­grenztes Wachstum und an Fortschritt ohne Ende und uns am Maßstab des Lebens und dessen, was dem Leben dient, orientieren. Bei der Verwirklichung dieses Umdenkens sind wir häufig konfrontiert mit star­ken Interessenkonflikten. Oft stehen z. B. Wirtschaftlichkeit, Besitzstandswah­rung und -Vermehrung, politisches Machtstreben und Sicherung von Arbeits­plätzen gegen die Bestrebungen der Umwelterhaltung; ökonomische Interes­sen beanspruchen im allgemeinen Vorrang vor ökologischen Interessen. Als Christen können wir uns der schwierigen Aufgabe nicht entziehen, uns für ein solches Umdenken in allen Lebensfeldern, auch im politischen Bereich, einzusetzen. Dazu gehört, z. B. in Wirtschaft und Politik immer wieder auf die Überprüfung und Einhaltung der folgenden Kriterien zu drängen:

  • die Umweltverträglichkeit,
  • die Sozialverträglichkeit,
  • die Generationenverträglichkeit,
  • die internationale Verträglichkeit.

Bei größeren Planungsvorhaben sind diese Kriterien zu berücksichtigen. Schon die Entstehung von Umweltschäden gilt es zu vermeiden. Deshalb soll­ten folgende Fragen vorab geklärt werden:

  • Zieht dieses Vorhaben tiefgreifende, dauerhafte und nicht wiedergutzu­machende Schäden nach sich?
  • Sind die Auswirkungen des Vorhabens in ihrer zeitlichen und räumlichen Erstreckung übersehbar?
  • Sind Nebenfolgen so erheblich, daß sie nicht in Kauf genommen werden können?
  • Sind die Würde der Menschen und die Artenvielfalt durch dieses Vorhaben bedroht? 

… Als Anwältinnen der Schöpfung stellen Kirchen diese Fragen öffentlich. Sie dringen darauf, daß Vorhaben dieser Art nicht durchgeführt werden, bevor schwerwiegende Zweifel ausgeräumt sind.
Zu einer solchen Vorsorge zählt insbesondere die Abschätzung der Folgen für die ökologischen Kreisläufe. Diese Naturkreisläufe dürfen nicht unterbrochen oder zerstört werden. … 
Die Auswirkungen eines Vorhabens müssen in ihren zeitlichen und räum­lichen Dimensionen übersehbar bleiben. Im Sinne der Fürsorgepflicht muß die Erde auch für die nachfolgenden Generationen bewohnbar und lebenswert sein. …

Generell sind sogenannte technische und wirtschaftliche Sachzwänge darauf­hin zu überprüfen, ob sie dem Leben der Menschen und der ganzen Schöpfung dienen und den oben genannten Kriterien genügen. Bei dem Entscheidungsprozeß, in dem diese Kriterien zur Anwendung kommen, muß die gesamte Gesellschaft mit einbezogen werden. Denn was alle angeht, soll auch von allen entschieden werden.

Verfasser: Hans-Eberhard Dietrich, Pfarrer i.R.

„Stuttgart 21“ – Der Mammon und die Kirchen

Nicht erst nach dem erschreckenden Polizeieinsatz vom 30. September 2010 haben immer mehr Kirchenmitglieder erwartet, dass die Kirchen Stellung nehmen sollten zu der Auseinandersetzung um das umstrittene Bauprojekt „Stuttgart 21“. Die ersten kirchlichen Reaktionen auf solche Erwartungen waren geprägt von dem Tenor, das Evangelium biete keine Handhabe, sich in diesen parlamentarisch-demokratisch entschiedenen Streit mit einer einseitigen Stellungnahme einzumischen. Betrachtet man allerdings näher, welche Politik bei Stuttgart 21 am Werk ist, wird eine kirchliche Stellungnahme unausweichlich.

„Stuttgart 21“ als neoliberales Schlüsselprojekt
Spätestens durch die Erklärung von Kanzlerin Merkel, über „Stuttgart 21“ werde bei den Landtagswahlen im März 2011 abgestimmt, ist dieses Projekt zum Test geworden für die neoliberale Politik, die seit etwa 30 Jahren zunehmend die Welt überschattet. Die Neoliberalen behaupten, wenn man nur die mächtigen Projektgewinnler ihre Profite machen lasse, dann sei das gut für alle. Natürlich sind die schlimmen Auswirkungen dieser Politik nicht erst bei diesem Projekt sichtbar geworden. Schon die Hartz IV – Gesetze und die Weltwirtschaftskrise haben die Folgen dieser Politik schmerzhaft erfahren lassen. Aber so schlimm diese Erfahrungen waren, die Gegner des Neoliberalismus konnten bisher als realitätsferne linke Spinner abgetan werden. Das Neue im Konflikt um „Stuttgart 21“ ist, dass der Widerstand aus der Mitte der Gesellschaft kommt. Das muss den Neoliberalen natürlich Angst machen, und wer Angst hat wird häufig aggressiv und reagiert so wenig souverän, wie das am 30. September im Stuttgarter Schlosspark zu sehen war.

Die Kirchen und der Mammon
Die Neoliberalen behaupten traditionell, die von ihnen betriebene Umverteilung von unten nach oben sei alternativlos. Jesus rät aber genau zu der geleugneten Alternative, nämlich zur Umverteilung von oben nach unten, wenn er empfiehlt: „Macht euch Freunde mit dem ungerechten Mammon.“ (Lk 16,9) Auch wenn niemand auf der Welt mehr weiß, dass der Mammon ungerecht ist, dann müssen es die Kirchen noch wissen. Der Begriff „Mammon“ bezeichnet in der Muttersprache Jesu die zerstörerische Kraft des Geldes, des Kapitals. Der Begriff war nicht ins Griechische des Neuen Testaments zu übersetzen, dort gab es keinen entsprechenden Begriff dafür, weil das Bewusstsein für diese zerstörerische Kraft bei den griechischen Sprachgestaltern nicht vorhanden war. Aber Jesus stand in der alttestamentlichen Tradition, in der schon Jesaja um 750 v. Chr. den Missbrauch der Macht durch Monopolisten geißelte und dessen verheerende Folgen ankündigte (Jes 5, 8 ff). Diese Konzentration wirtschaftlicher Macht in den Händen von Gewissenlosen wird im neoliberalen Casinokapitalismus zur Perfektion gebracht. Er ist genau das, was Jesus mit dem Begriff „Mammon“ angreift. Denn der Mammon ist die Gegenkraft, die der Botschaft Jesu vom Reich Gottes diametral gegenübersteht. Deshalb sagt Jesus: „Ihr könnt nicht Gott und dem Mammon zugleich dienen“ (Mt 6,24 par).

„Stuttgart  21“ und der Mammon
Der Bogen zu „Stuttgart 21“ ist leicht zu schlagen. Ziemlich am Anfang der Projektidee stand eine riesige Bodenspekulation. Das frei werdende Gleisgelände war zu phantastischen Preisen zu verkaufen. Bliebe der Kopfbahnhof, wäre dieser gewaltige Deal hinfällig, er müsste zu einem hohen Preis rückabgewickelt werden und enorme erhoffte Baugeschäfte wären verdorben. Die Rücksicht auf die dann leer ausgehenden Projektgewinnler hat offenbar größeres Gewicht als der Wille des Volkes, so darf eine Volksabstimmung nicht sein. So war Eile geboten, noch vor der Landtagswahl einen „point of no return“ zu erreichen. Gerade die Kirchen werden genau hinsehen müssen, für wen hier gegebenenfalls Arbeitsplätze entstehen, für tariflich bezahlte deutsche Bauhandwerker, die bisher arbeitslos waren, oder für ausgebeutete Billiglöhner aus Hungerländern. Kirchliche Achtsamkeit dürfte auch geboten sein hinsichtlich der Frage, ob die Profite der Ausbeuter am Ende auch in Kindergärten eingespart werden müssen.

Konsequenzen für die Kirchen
Der im Projekt Stuttgart 21 erkennbaren neoliberalen Regierungspolitik gegenüber, die das Christentum in seinen Grundsätzen bekämpft, kann es keine kirchliche Neutralität geben. Hier ist ein klares christliches Bekenntnis gefordert. Das mag für eine lutherische Kirche Neuland sein, weil sie sich Jahrhunderte lang den Landesherrn als ihren Geldgebern zur treuen Gefolgschaft verpflichtet gefühlt hat. Einer Partei, die sich christlich nennen will, muss kirchlicherseits klargemacht werden, dass sie dies erst dann wieder zu Recht tun kann, wenn sie sich wirksam von der bisherigen neoliberalen Mammonspolitik distanziert hat. Die Kirchen sollten den Regierungsverantwortlichen die Aufgabe des neoliberalen Schlüsselprojekts Stuttgart 21 als Chance zur Umkehr und zur Rückkehr zum Christentum anbieten.

(Eine ausführlichere Version dieses Beitrags in:
Deutsches Pfarrerblatt, Heft 11/2010, S. 609 ff)

Verfasser: Friedrich Gehring, Pfarrer i.R.

Kreuze im Schlossgarten – „aufgeräumt“

Am Bauzaun findet sich dieses Foto.  Es dokumentiert eine nachdenklich machende Installation von betroffenen und besorgten Bürgerinnen und Bürgern, die nach den Brutalitäten am 30. September errichtet worden ist. Dieses Memento ist spurlos verschwunden, „aufgeräumt“.
Gut, dass wenigstens ein Foto geblieben ist.

Immer sauber einfach pünktlich
Pflichtbewusst
Dem ganzen verantwortlich
Immer zur Stelle mit alten Hexen
Und Gaskammern
Immer nach dem Rechten sehend
Aufräumen
Da muss mal mit aufgeräumt werden
Damit muss man mal aufräumen
Ein deutsches Lieblingswort:
Aufräumen
Immer sauber einfach pünktlich

Hanns Dieter Hüsch: Aus dem Gedichtband „Das Schwere leicht gesagt“

Die Schöpfung bewahren, Aufgabe eines jeden Christen

Der biblische Auftrag
Ein Grund, sich als Theologe gegen das Projekt Stuttgart 21 zu positionieren, ist das biblische Anliegen, die Schöpfung zu bewahren. Ich spreche bewusst von Schöpfung, nicht von der Natur. Damit wird deutlich: Die ganze Natur, belebt und unbelebt, Pflanzen und Tiere samt Wasser, Land und Luft sind von Gott geschaffen. Der Mensch kann nicht einfach damit machen, was er will, sondern er ist Gott verantwortlich. Und das kann nur heißen: Er muss sorgsam mit dieser Schöpfung Gottes umgehen.

Das Anliegen, die Schöpfung zu bewahren, nimmt den Auftrag Gottes an den Menschen in der Schöpfungsgeschichte auf, wo es im 1. Buch Moses Kapitel 2 Vers 15 heißt: „Und Gott, der Herr nahm den Menschen und setzte ihn in den Garten Eden, dass er ihn bebaute und bewahrte.“
Der Ökumenische Rat der Kirchen ruft diese Aufgabe wieder ins Bewusstsein
Im Raum der Kirche wurde in der Vergangenheit diese Aufgabe nicht immer so vordringlich gesehen. Erst die ungeheure Umweltzerstörung der letzten Jahrzehnte schufen hierfür das Bewusstsein. Federführend war der Ökumenische Rat der Kirchen. Er rief 1983 in Vancouver  auf der VI. Vollversammlung seine Mitgliedskirchen auf, in einen konziliaren Prozess gegenseitiger Verpflichtung für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung einzutreten. In vielen Gemeinden und Initiativen der Kirchen nahmen Christen diese Herausforderung an. Ein paar Jahre später, im Jahre 1990 in Seoul, wurden alle Christen der Welt aufgefordert, sich aktiv für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung einzusetzen. Nur im Zusammenspiel dieser drei sind die Herausforderungen der Gegenwart wie Hunger, Krieg, Umweltzerstörung, sozialer Unfriede usw. zu bewältigen.

In den 80er Jahren stand eher die Friedensproblematik im Vordergrund. Es war die Zeit der Hochrüstung. Gleichwohl wurde der Zusammenhang gesehen, dass es Weltfrieden und Gerechtigkeit nicht geben kann, wenn nicht zugleich die Schöpfung bewahrt wird. Immer mehr wuchs im Laufe der Zeit die Einsicht, dass die Erhaltung des politischen Friedens und die Schaffung von mehr Gerechtigkeit vergeblich bleiben, wenn die natürlichen Grundlagen des Lebens zerstört werden. So trat die Aufgabe, die Schöpfung zu bewahren, zunehmend in den Vordergrund.

Gott liebt seine Schöpfung
Die damals schon formulierten Grundüberzeugungen sind bis heute gültig: „Wir bekräftigen, dass Gott die Schöpfung liebt. Land, Wasser, Luft, Wälder, Berge und alle Geschöpfe, einschließlich der Menschen, sind in Gottes Augen „gut“. Wir werden dem Anspruch widerstehen, alle geschaffenen Dinge dienten ledig­lich dazu, vom Menschen ausgebeutet zu werden.

Deshalb verpflichten wir uns als Mitglieder der lebendigen Schöpfungsgemeinschaft, in der wir eine unter vielen Arten sind, Mitarbeiter Gottes zu sein mit der moralischen Verantwortung, die Rechte kommender Generationen zu achten und die Ganzheit der Schöpfung zu bewahren; dafür wollen wir uns einsetzen um des eigenen Wertes willen, den die Schöpfung von Gott hat, und damit Gerechtigkeit geschaffen und erhalten werden kann.

Eine weitere Grundüberzeugung, die seit Seoul gilt, lautet: „Wir bekräftigen, dass die Erde Gott gehört“. Das hat zur Konsequenz: „Der Mensch soll Boden und Gewässer so nutzen, dass die Erde regelmäßig ihre lebenspendende Kraft wie­derherstellen kann, dass ihre Unversehrtheit geschützt wird und dass die Tiere und Lebewesen den Raum zum Leben haben, den sie brauchen. Wir werden jeder Politik widerstehen, die Land als bloße Ware behandelt, die Bodenspekulation auf Kosten der Armen treibt, die Giftmüll auf das Land und ins Wasser entlädt, die Ausbeutung, ungleiche Verteilung und Vergiftung des Bodens und seiner Erzeugnisse fördert und die jenen, die unmittelbar von der Nutzung des Landes leben, die Verfügungsgewalt darüber vorenthält. Wir verpflichten uns außerdem, den ökologisch notwendigen Lebensraum anderer Lebewesen zu achten.
(Lesen Sie dazu auch: Die Kirche im konziliaren Prozess gegenseitiger Verpflichtung für Gerechtigkeit , Frieden und Bewahrung der Schöpfung. 1990. Texte der Evangelischen Kirche in Deutschland, Nr. 33)

Fragen an das Projekt – bisher ohne überzeugende Antwort
Gemessen an diesen Grundüberzeugungen sind an die Betreiber des Projekts Stuttgart 21 viele Fragen zu stellen:
Wie ist es zu verantworten, z.B.
–  das Fällen uralter Bäume, die für das Innenstadtklima unabdingbar sind,
–  die Gefährdung des gesamten alten Baumbestandes des ganzen Parks durch
–  das Absenken des Grundwasserspiegels,
–  der ungeheure Verbrauch an Land, insbesondere Grünflächen der Innenstadt, –  die Gefährdung der Mineralquellen in Bad Cannstatt,
–  die Vernichtung von Lebensraum von Tieren, darunter auch
artgeschützte  wie   Fledermaus und Juchtenkäfer und vom Aussterben
bedrohte Vogelarten wie Dohle, Gartenbaumläufer, Gelbkopfamazone,
Wacholderdrossel.
(Lesen Sie hierzu auch: Newsletter /2010, 8. Oktober, NABU, Gruppe Stuttgart)

Auf diese Fragen sind bisher keine Antworten bekannt. Vielmehr werden mit Stuttgart 21 Fakten geschaffen, die nicht mehr umkehrbar sind und deren Folgen nachwachsende Generationen zu tragen haben.

Verfasser: Hans-Eberhard Dietrich

Mit konservativer Grundhaltung gegen S21

Meine grundsätzlich theologisch und politisch konservative Grundeinstellung ließ mich lange zögern und Zurückhaltung üben gegenüber „Stuttgart 21“, wiewohl ich schon lange begründet gegen dieses Projekt bin. Die offensichtlich abhanden gekommene Basisverhaftung und Ignoranz dieser durch die Befürworter: Bahn, Politik und Wirtschaft, deren stures Festhalten an einem Projekt, das in der breiten Bevölkerung keine Mehrheit findet und die Unwilligkeit auf die Gegenseite überhaupt zu hören, die Gesprächsverweigerung gegenüber einer breiten bürgerlichen Bewegung und die Etikettierung als „Berufsdemonstranten“, dazu ein massiver Polizeieinsatz mit völlig unverhältnismäßigen Mitteln gegen Demonstranten im Schlossgarten, auch gegen minderjährige Schüler und alte Menschen, was alles eines demokratischen Rechtsstaates unwürdig ist, ließen mich umdenken, ohne damit meine grundsätzlich konservative Grundhaltung aufzugeben. Für meine Begriffe bedeutet die Durchführung des Projekts „Stuttgart 21“, allem Anschein nach jetzt nach dem Motto: „Augen zu und durch“, was politisches Versagen markiert: Architekturzerstörung, Demokratiegefährdung, Geologiemissachtung, Geldverschwendung, Ökologiezerstörung, Ökonomiebesessenheit, (Verkehrs)Unsicherheit, Unwirtschaftlichkeit.

Verfasser: Walter Rominger, evangelischer Theologe, Albstadt

„Suchet der Stadt Bestes“ – Jeremia 29,7

„Suchet der Stadt Bestes“ – Fritz Röhm

Liebe Menschen, die sich für den Erhalt des Kopfbahnhofs einsetzen!

„Suchet der Stadt Bestes!“
Dieser Ruf des Propheten Jeremia müsste Maßstab sein für eine Partei, die sich christlich nennt, die nicht verstehen will, warum wir hier sind und protestieren, und für Volksvertreter, die sich dem Wohle des Volkes verpflichten.

Das Tiefbahnhofprojekt, die Konzeption, die Risiken, die Heimlichtuerei:
Das ist nicht das Beste für die Stadt.

Hört auf das Volk! Sucht den Dialog! Geht endlich ein auf die Warnungen vieler Experten!

Ein Wort zu mir:
Ich bin Industriekaufmann. In der Evangelischen Kirche habe ich mich ehrenamtlich in vielen Bereichen engagiert. Ich spreche jedoch nicht für die Evangelische Landeskirche und nicht für die Evangelische Vereinigung Offene Kirche, sondern ich sage meine Überzeugung.

Wovon ich überzeugt bin.

Ich bin überzeugt:
Mit dem Bahnhofsprojekt Stuttgart21 droht eine massive Verschlechterung des Bahnbetriebs. Die Risiken – die finanziellen, technischen, konzeptionellen – sind so gravierend. Es ist unverantwortlich, sie einfach beiseite zu wischen.

Ich bin überzeugt:
Das Projekt Stuttgart21 führt zu einer beispiellosen Steuergeldverschwendung. Ich bin entsetzt, dass die Verantwortlichen die Kosten schon nicht mehr rechtfertigen, sondern den Neid im Land schüren.
Das Geld fließe in andere Landesteile, wenn es nicht für Stuttgart 21 ausgegeben werde – so Ministerin Gönner im SWR. Stuttgart21 sei ein Geschenk für Stuttgart, es werde aus anderen Quellen finanziert – so Bahnchef Grube. Das sind die letzten und hilflosesten Argumente, egoistisch und zynisch. Von Solidarität für das Gemeinwohl keine Spur. Wir wollen kein vergiftetes Geschenk, wir wollen den versprochenen Dialog, Herr Grube!
Von wegen Geschenk: Das Umgekehrte ist richtig. Stuttgart machte der Bahn ein Geschenk, kaufte der Bahn schon 2002 das Gleisfeld ab und verzichtete auf die Verzinsung dieser Vorauszahlung – zusammen rund 750 Millionen Euro. Und das alles nur, um das unsichere Bahnprojekt wieder auf die Schiene zu setzen. Immobilienprojekt nennt man das.

Ich bin überzeugt:
Der Widerstand kommt nicht zu spät. Von Anfang an wurde Widerspruch erhoben, aber nie aufgegriffen. Friederike Groß traf mit ihrer Karikatur in der Stuttgarter Zeitung schon 1996 den Nagel auf den Kopf, als sie das S21-Planungskomitee kommentierte mit: Mauschel, Tuschel, Zischel.
So erzeugt man Widerstand.

MAUSCHEL – TUSCHEL – ZISCHEL

Wie schön, ein Visionär zu sein,
im ruhigen, stillen Kämmerlein.
Doch könnt es nützen manchem Plan,
ließ man auch mal die Bürger ran.

Friederike Groß – Stuttgarter Zeitung, 16.03.1996

Wogegen ich Einspruch erhebe:
Ich erhebe Einspruch –
gegen die Unterstellung, der Widerstand sei ein Ergebnis des Zeitgeistes. Zitat Stuttgarter Zeitung vom 14. September, Reportage von Michael Ohnewald: „Verändert hat sich der Zeitgeist. Vorbei sind die Zeiten des Zutrauens. Dafürsein ist nicht mehr so sexy.“ Das verwechselt Ursache und Wirkung. Ich lasse meine Erkenntnisse und meine Überzeugung von Stuttgart21 nicht auf den Zeitgeist reduzieren.

Ich erhebe Einspruch –
gegen das Schüren von Angst. Noch einmal Zitat Ohnewald, er meint: „Die Umkehr von Stuttgart21 hätte weitreichende Folgen. Mit dem Ende des Verkehrsprojektes würde es auf Jahre keine Entwicklung mehr auf der Stuttgarter Schiene geben, weil es keinen bewilligten Plan B gibt.“ Zitat Ende. Nein, Herr Ohnewald, und Nein, Stuttgarter Zeitung! Ein intelligenter Kopfbahnhof ist die Zukunft. Die Alternative liegt vor. Die Alternative:
Es ist unentschuldbar, dass die Alternative K21 nicht aufgegriffen wurde. Angesichts der Dimension des Megaprojektes und der offenen Fragen ist es sträflich, diese Alternative nicht ernsthaft zu prüfen.

Ich bin überzeugt:
Das Konzept des Stuttgarter Kopfbahnhofs hat einen unschlagbaren Vorteil und Stuttgart21 hat den entscheidenden Nachteil, nämlich beim Integrierten Taktfahrplan ITF. Jedem geht ein Licht auf, wenn er sich den Film darüber ansieht auf der Internetseite Kopfbahnhof-21. Es ist einfach toll, wie am Stuttgarter Hauptbahnhof die Züge aus ganz Baden-Württemberg hinein und heraus fahren, über- und untereinander und dann Anschluss haben über 16 Gleise hinweg – und das im Halbstundentakt. (www.kopfbahnhof-21.de / Ja zum Kopfbahnhof )
Das dreistöckige Tunnelgebirge mit kreuzungsfreiem Zulauf auf 16 Gleise ist eine Meisterleistung der Bahningenieure, rund 100 Jahre alt, heute unter Denkmalschutz und die Voraussetzung für einen integrierten Taktfahrplan im Regionalbahnknoten Stuttgart. Mit dem Durchgangsbahnhof S21 ist dies nicht möglich. Das heißt für mich: Selbst wenn der Bahnhof und der halbe Schlossgarten abgerissen wären: Solange dieses Gleisvorfeld steht, ist das Verkehrsprojekt umkehrbar!

Eine andere wesentliche Kritik an S21.
Neue EU Richtlinien – seit 2009 auch deutsches Gesetz – verlangen Verbesserungen an Bahnhöfen für Menschen mit eingeschränkter Mobilität, für Alte und Behinderte. Dies ist eine zwingende Vorschrift.
Im Gegensatz dazu bringt der Tiefbahnhof S21 Verschlechterungen und damit eine entscheidende gesetzeswidrige Benachteiligung dieser Menschen. Zur Überwindung der verschiedenen Ebenen brauchen Viele von denen zusätzlich fremde Hilfe und mehr Zeit. Allein durch die Engpässe an Aufzügen sind dadurch viele Anschlüsse gefährdet.

„Es gibt wichtigeres im Leben, als ständig dessen Geschwindigkeit zu erhöhen.“ (Mahatma Gandhi.)
Ja, ich will besser reisen, nicht nur schneller fahren.

Die Alternativlosigkeit von S21 zeigt sich auch am Bürgerentscheid, wenn er kommt.
Die Fragestellung: „Stuttgart 21 – Ja oder Nein“ ist eine k-o-Frage, keine weiterführende Alternative.
Die Frage muss lauten: „Stuttgart21 oder Kopfbahnhof21?“ Beide Projekte müssen landesweit publiziert werden. Die einseitige Werbekampagne der Landesregierung für S21 muss vor dem Bürgerentscheid gestoppt werden.

Was ich will:
Ja, ich will mich nicht wie ein Maulwurf aus der Stadt schleichen. Ich will oben bleiben, wenn ich abreise. Ich will ankommen in der Stadt – bei den Hügeln und beim Grünen U. Ich will sehen, ob ich die Sonnenbrille oder den Regenschirm brauche für den Heimweg.

Ich will, dass Kritik am Verkehrskonzept nicht mit Werbung für die Ökologische Stadt übergangen wird. Die Architektur der Bibliothek21 – im Volksmund „Stammheim2“ oder „Urnenwand“ zeigt, was uns erwartet: Naturferner, phantasieloser und trostloser geht es kaum. Stuttgart zwischen Wald und Reben – das war wohl einmal.

Diese sogenannte Stadtentwicklung war von Anfang die Idee, die zur Parole führte: Bahnhof unter die Erde – Augen zu und durch! Jede Frage und jede Kritik stößt deshalb auf taube Ohren.

Ich hätte nicht gedacht, das ich nach der Anti-Atomkampagne, nach Mutlangen und nach der Menschenkette Stuttgart – Ulm mich noch einmal gezwungen sehe, auf die Straße zu gehen. Ich will, dass man die Kritik der Fachleute ernst nimmt und sich damit auseinandersetzt. Schluss mit Parolen. Experten endlich an einen Tisch!

Über das Wochenende hat sich etwas getan. Oberbürgermeister Schuster reicht die Hand und bittet um ein Gespräch. Bahnchef Grube bittet zu einem offenen Gespräch – und zwar im Namen aller Gesprächspartner. Dazu gehört meines Wissens auch die Landesregierung. Aber Ministerpräsident Mappus macht Wahlkampf und ergreift den Fehdehandschuh. Doch: Es bröckelt in der CDU: Die ersten öffentlichen Forderungen nach Baustopp von CDU-Mitgliedern wurden laut.

Das Erstaunlichste ist die Kehrtwendung von Bahnchef Grube, wenn er sagt: Die Wahrheit muss endlich auf den Tisch. Damit bestätigen Sie uns, Herr Grube: Die Wahrheit ist bisher nicht auf dem Tisch. Damit erkennen Sie endlich, warum wir protestieren.

Lasst uns den Stresstest mit diesen Gesprächsangeboten machen.

„Kirche ist nur Kirche, wenn sie für andere da ist.“
Als Protestant lernte ich dies von dem Theologen Dietrich Bonhoeffer, auch als politische Konsequenz.
Deshalb sage ich:
Kirche muss sich einmischen,
– wenn wir bei Stuttgart21 mit Parolen und mit Propaganda abgespeist werden,
– wenn nur Halbwahrheiten auf den Tisch kommen und vieles gar nicht,
– wenn der Frieden in der Stadt auf dem Spiel steht,
– wenn mit dem Totschlagsargument der Unumkehrbarkeit jeder Dialog getötet wird.

Bei veränderten Voraussetzungen werden viele politische Entscheidungen überprüft und korrigiert, wie der Atomausstieg und in Stuttgart die Cross-boarder-Leasing-Geschäfte.

Die Bischöfe der evangelischen und der katholischen Kirche haben am 6. September eine Erklärung abgegeben. Sie äußern große Sorge über den Riss in der Bürgerschaft, sie sehen die Menschenwürde bedroht durch die Art des Umgangs von Gegnern und Befürwortern miteinander und nehmen Partei für eine Art der Auseinandersetzung, die dem sozialen Frieden dient. Sie respektieren die Gründe der Protestierenden, aber ohne einseitig Partei zu ergreifen.

Der Stadtdekan und viele Pfarrerinnen und Pfarrer der Evangelischen Kirche in Stuttgart haben am 15. September gefordert, eine solche Gesprächskultur wieder herzustellen, die die Würde von Andersdenkenden wahrt.

Beide Erklärungen klammern den Grund der Auseinandersetzungen aus. Die Bischöfe respektieren den Grund der Protestierenden, benennen ihn aber nicht und ziehen auch keine Konsequenz.

Ich frage meine Kirche, warum sie sich nur allgemein um den Stil der Auseinandersetzung sorgt, warum sie sich nicht getraut, auch die Gründe des Konflikts konkret beim Namen zu nennen, nämlich die Risiken des Projekts, die daraus entstandenen Ängste und den fehlenden echten Dialog. Warum fehlt in den Erklärungen der Kirche der Satz: Die Wahrheit muss endlich auf den Tisch!

Diese Partei zu ergreifen, in den Riss zu treten, ist Sache der Kirche

Ich frage meine Kirche, warum sie nicht unmissverständlich sagt, dass ein Dialog am runden Tisch nur ein unwürdiges Scheinangebot ist, wenn gleichzeitig Abrissbagger und Baumsägen vollendete Tatsachen schaffen. Es dient nicht dem Frieden in der Stadt und in der Gesellschaft, wenn die Kirche ihre Zurückhaltung zu spät überwindet. Wenn Bahnchef Grube ernst meint, dass die Wahrheit auf den Tisch muss, dann sagte er mehr, als die Kirche bisher sagte.

Das erste Plakat am Bauzaun lautete: Hört auf euer Gewissen. Stuttgart21 droht, der größte Irrtum in der Stuttgarter Geschichte zu werden. Neue Wege suchen ist nicht ehrenrührig. Darum: Kehret um!

Wer umkehrt, zeigt Einsicht und hört auf sein Herz. Nicht auf das neue Herz Europas. Sondern auf unser mutiges Herz. Dazu einige Gedanken des evangelischen Theologen Fulbert Steffensky *)

Das mutige Herz
Zwischen Ohnmacht und Mut!
Die Ohnmacht hat die besseren Argumente.
Zum Mut und zur Hoffnung braucht es die größere Liebe.
Das gebildete Herz schweigt nicht, wenn es sieht, wie die Welt verwüstet wird.
Hoffnung ist eine Qualität des Handelns und des Herzens.
Soweit Steffensky.

Dem Mut des Herzens füge ich hinzu: Die Stille. Mit dem Schwabenstreich dichtete Ludwig Uhland eine martialische, gewaltsame schwäbische Kunde. Unser Schwabenstreich ist laut, aber gewaltfrei. Er bringt uns in Aktion.

Aber wir brauchen auch die Stille, die Konzentration. Denn in der Stille liegt die Kraft. Kraft für das mutige Herz. – Deshalb bitte ich Sie jetzt um 1 Minute der Stille, der Konzentration und der Besinnung auf unser mutiges Herz, für unseren friedlichen Protest, für kreative Ideen, ohne Gewalt – und dass wir die Würde aller Beteiligten achten.

(Stille)

Oben bleiben!

*) Publik-Forum 15/2010, Seite 52-53

Fritz Röhm, Ehrenvorsitzender der Offenen Kirche,
Evangelische kirchenpolitische Gruppierung in Württemberg,
auf der Montagsdemo am 20.09.2010

„Erneuert euch in eurem Geist und Sinn“ – Predigt von Karl Martell

Schriftlesung:                 1. Mose 11, 1 – 9
Predigttext:             Epheser 4, 22 -32

Liebe Gottesdienst-Gemeinde,

in den letzten Monaten und Wochen wurde von manchen sehr häufig und sehr auftrumpfend von Unumkehrbarkeit geredet. Insbesondere solche bedienten sich dieser Sprachregelung gebetsmühlenartig, die ein Amt innehaben mit hoher Verantwortung für unser Gemeinwesen, für gelingendes Zusammenleben. Und mit provokativer Zerstörung sowie mit brachialer Gewalt haben diejenigen gleichsam sinnlich erfahrbar gemacht, dass unumkehrbar ist, was sie für unumkehrbar erklären: Wir definieren Unumkehrbarkeit.

Als wenn in menschlichen Verhältnissen nicht alles umkehrbar wäre! Die Möglichkeit zur Umkehr gehört geradezu grundlegend zu unserem Menschsein. Gäbe es diese Option nicht, wir gingen wahrlich – mit Fahrzeitverkürzung, ohne umzusteigen – zum Teufel.

Einen von vielen, einen sehr eindrücklichen Beleg für die Möglichkeit zur Umkehr bietet der biblische Text für den heutigen Sonntag. Im 4. Kap. des Epheserbriefes schreibt der Apostel Paulus:

22 Legt von euch ab den alten Menschen mit seinem früheren Wandel, der sich durch trügerische Begierden zugrunde richtet.
23 Erneuert euch aber in eurem Geist und Sinn
24 und zieht den neuen Menschen an, der nach Gott geschaffen ist in wahrer Gerechtigkeit und Heiligkeit.
25 Darum legt die Lüge ab und redet die Wahrheit, ein jeder mit seinem Nächsten, weil wir untereinander Glieder sind.
26 Zürnt ihr, so sündigt nicht; lasst die Sonne nicht über eurem Zorn untergehen
27 und gebt nicht Raum dem Teufel.
28 Wer gestohlen hat, der stehle nicht mehr, sondern arbeite und schaffe mit eigenen Händen das nötige Gut, damit er dem Bedürftigen abgeben kann.
29 Lasst kein faules Geschwätz aus eurem Mund gehen, sondern redet, was gut ist, was erbaut und was notwendig ist, damit es Segen bringe denen, die es hören.
30 Und betrübt nicht den Heiligen Geist Gottes, mit dem ihr versiegelt seid für den Tag der Erlösung.
31 Alle Bitterkeit und Grimm und Zorn und Geschrei und Lästerung seien fern von euch samt aller Bosheit.
32 Seid aber untereinander freundlich und herzlich und vergebt einer dem andern, wie auch Gott euch vergeben hat in Christus.

Vielleicht hat jetzt der eine oder die andere geseufzt und sich still gefragt:
Herr, bin ich’s? Ein ganzer Katalog von Übeltaten, die da aufgelistet werden. Noch einmal die Stichworte: Lüge, Zorn, Diebstahl, Geschwätz, Bitterkeit, Grimm, Geschrei, Lästerung, Bosheit. Durch das alles, sagt Paulus bildhaft, wird „der Heilige Geist Gottes betrübt“. Da bleibt einem fast der Atem weg:
Herr, bin ich’s?

Es gibt eine unselige Tradition in einem gewissen kirchlichen Milieu, in dem genau darauf abgehoben wird: Den einzelnen runter zu drücken, ihm Schuld aufzuladen und ihn so gefügig zu machen. – Gewiss, nach der Prozedur ist dann auch noch von Vergebung, von Gnade die Rede. Aber es bleiben Spuren, Abhängigkeiten, letztlich Unfreiheit.

Geht es Paulus darum? Nein – er will solche Mechanismen nicht verstärken,
so wortreich er auch die Untaten, das Ungute beim Namen nennt. Anscheinend war ein solches Gegensteuern nötig im Blick auf die Gemeinde von Ephesus,
an die sich sein Brief richtet. Wohlgemerkt an die Gemeinde! Das Untaten-Register zielt in seiner Fülle also nicht auf jeden einzelnen. Schon mal eine gewisse Entlastung!

Aber das ist nicht die Hauptsache. Das Entscheidende liegt noch woanders. Paulus nennt Alternativen:

Mit der Wahrheit geht’s besser. Macht euch unabhängig durch redliche Arbeit. Gebt den Bedürftigen etwas ab. Redet Gutes; das bringt Segen. Freundlichkeit, Herzlichkeit und Vergebung machen den Umgang miteinander leichter. Im Grunde Hinweise, mit denen nur gute Erfahrungen zu machen sind. Die Leben erleichtern, in Achtung vor sich selber und durch Wertschätzung gegenüber dem anderen.

Nun werden vielleicht manche mit Schillers Wilhelm Tell denken: „Es kann der Frömmste nicht in Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt.“ Oder: Was mache ich, wenn ich auf Lüge und Bosheit verzichte, aber von anderen genau das erfahre? Wenn ich mich nicht unrechtmäßig bereichere,
aber doch mit ansehen muss, wie Geld und Gier Leben beschädigen, Existenzen vernichten, ja ganze Volkswirtschaften ins Wanken bringen. Wie sich öffentliche Haushalte – parlamentarisch legitimiert – verschulden, überschulden … und dennoch kalt lächelnd Großprojekte in Angriff nehmen, deren Nutzen im Vergleich zu den Kosten zumindest fragwürdig ist. Wenn ich mich bemühe, mit der Schöpfung behutsam, respektvoll umzugehen, und erleben muss, wie Eingriffe in die Natur vorgenommen werden, damit – angeblich – wirtschaftliches Wachstum gewährleistet ist? Im übertragenen Sinn: Wenn mir sehr deutlich vor Augen geführt wird, dass Mülltrennung allein nicht reicht?
Wie verhalte ich mich, wie entscheide ich mich bei wirklich schwerwiegenden Konflikten?

Es hängt an dem Bild, das ich von mir und meinen Mitmenschen habe.
Es kommt auf das Menschenbild an.

Wer meint, die Menschen sind halt so, also muss ich sehen, wie ich für mich den größtmöglichen Vorteil herausholen kann, wird mit den Wölfen heulen. Wer die Welt und die Mitmenschen (vielleicht bis auf wenige aus dem eigenen Umfeld) für grundsätzlich schlecht hält, wird sich abwenden und in seinem Biotop ausharren. Wer gewohnt ist, bei den Stärkeren, den zahlenmäßig Größeren mitzulaufen, vielleicht auch weil’s bequem ist, wird immer dort applaudieren. Egal, was geschieht.

Paulus weist eine andere Blickrichtung. Er traut Menschen zu, dass sie „sich erneuern in Geist und Sinn“ (V.23). Er hält sie für fähig zum Umdenken.

Er sagt das in dem Bildwort vom „alten“ Menschen, der in einer früheren, falschen Denkungsart befangen ist, und vom „neuen“ Menschen, der sich zu „Gerechtigkeit und Heiligkeit geschaffen“ weiß. Und der darauf vertraut, dass ihm Erlösung zuteil wird. Der also weiß, woher er kommt und wohin er gehen wird.

Das ist ein anderes Menschenbild. Nicht statisch, einfach: Es ist, wie es ist. Sondern: Du hast Zukunft, in der neues, gewandeltes Leben möglich ist.
Nicht mit den Wölfen heulen, vielmehr: Sein Leben verantwortlich in die Hand nehmen und gestalten. Nicht nachplappern, was die vielen reden oder die das Sagen haben, sondern kritisch hinhören und hinschauen.

Dann tut sich was. Du kannst dich entwickeln, du kannst die dir gegebene Freiheit wahrnehmen. Im ganz wörtlichen Sinn: wahr, als deine Option,
deine Möglichkeit nehmen.

Nun allerdings nicht, weil du dich entscheidest, ab morgen ein anständiger Mensch zu werden. Solche Wandlungen von heute auf morgen sind fragwürdig und wenig glaubhaft. Sie brauchen meist länger, wenn auch nicht unbedingt
15 Jahre. Vor allem aber: Sie brauchen Besinnung und Orientierung.

Besinnung: Was war bisher? Ist das gut gewesen? Haben sich neue Gesichtspunkte ergeben? Habe ich ein neues Ziel vor Augen? Und Orientierung: Welche Maßstäbe und Werte sind mir wirklich wichtig? Gerechtigkeit? Heiligkeit? Erlösung? Die nennt Paulus. Und er fügt hinzu:
Die habt ihr von Gott in Christus. Zieht sie an wie ein neues Gewand.

Nun sind das sehr hohe und hehre Maßstäbe und Werte. Sie werden unterschiedlich verstanden und sehr verschieden gefüllt. Manchmal wird mir ganz schlecht, wenn ich bestimmte Großsprecher mit solchen Worten tönen höre. Man hört die falschen Töne. Auch wenn einer auf einmal von der „ausgestreckten Hand“ spricht, aber tatsächlich seine Faust präsentiert. Es sind also nicht die großen Töne, sondern es ist die Stimmigkeit von Worten und Taten, von Reden und Tun.  Und da ist es gut, wenn wir Christen uns an dem orientieren, dem wir unseren Namen verdanken: Jesus Christus. An ihm, immer wieder an ihm! Nicht an einem Etikett, auf dem nur sein Name steht!

Mich hat sehr berührt, was der frisch benannte chinesische Friedens-nobelpreisträger in einem Interview gesagt hat, als er von den Machthabern seines Landes noch nicht kriminalisiert wurde. Er sagte: „In Würde zu leben,
das heißt für mich, ein ehrlicher Mensch zu sein.“ Er meinte damit: Die herrschenden Verhältnisse in seinem Land offen und ehrlich beim Namen zu nennen. So sehr mich das schlichte Wort des chinesischen Nobelpreisträgers beeindruckt hat, so sehr befremdet hat mich ein Unternehmer aus unserem Land, der Tunnelbaumaschinen vertreibt. Er zitierte einen chinesischen Geschäftspartner, Deutschland sei ein „lebendes Museum“. Und plädierte damit für einen angeblich dringend notwendigen wirtschaftlich-technologischen Fortschritt in unserem Land, u.a. durch Tunnelbauten.

Und schließlich noch eine Episode, in der einer – auch ein Chinese – einen Hinweis gibt, wie Menschen mit ihrer Zeit umgehen. Zeit, die ja erforderlich ist zu Besinnung, zum Umdenken.

Ein chinesischer Gelehrter kam nach Berlin. Sein deutscher Kollege erwartete ihn auf dem Bahnsteig. Von dort gingen sie zum Bahnhofsvorplatz. Als sie aus der Halle traten, stand der Bus schon an der Haltestelle gegenüber. Er musste jeden Augenblick abfahren. Da ergriff der deutsche Professor die Hand des Chinesen: „Kommen Sie! Kommen Sie!“ rief er ihm zu. Die beiden hasteten über den Platz und erreichten gerade noch den Bus. Kaum waren sie drinnen, setzte er sich in Bewegung. Aufatmend schaute der Deutsche auf die Uhr. „Gott sei Dank“, sagte er, „jetzt haben wir zehn Minuten gewonnen.“ Der Chinese aber schaute ihn fragend an und meinte lächelnd: „Und was machen wir mit den zehn Minuten?“

Drei Gewährsleute aus einem fernen, wirtschaftlich aufstrebenden Land. Drei Denkungsarten, drei Haltungen zu der Frage, was dem Leben dienlich ist. Welche davon der Vorstellung des Apostels Paulus entspricht oder nahe kommt, möge jeder und jede für sich entscheiden.

Dienlich ist unserem Leben jedenfalls zu wissen, dass nichts unumkehrbar ist, was offensichtlich verkehrt, falsch, schädlich ist. Das hat der Apostel Paulus auf nicht überbietbare Weise dargelegt. Letztlich in dem Vertrauen darauf:
Nur einer kehrt nicht um. Er hat sich für uns Menschen, für das Leben zu uns gekehrt in Jesus Christus.
Unserem Gott sei Ehre, jetzt und in Ewigkeit.

Amen.

Karl Martell, Pfarrer i.R., am 19. Sonntag nach Trinitatis – 10. Okt.2010

„Suchet der Stadt Bestes“ – Jeremia 29,7

„Mütter stellen sich quer“ – Guntrun Müller-Enßlin

Statement zu „Stuttgart 21“ anlässlich der Aktion „Mütter stellen sich quer“ am 06.08.2010

Liebe Bürgerinnen und Bürger,

Mütter aus Stuttgart haben sich heute Abend hier versammelt und angekettet. Wir Mütter protestieren dagegen, dass Milliarden von Steuergeldern in einem großen Loch namens Stuttgart 21 verbuddelt werden sollen. Als Mütter stehen wir ein für die Zukunft unserer Kinder und setzen mit dieser Aktion ein Zeichen dafür. Die Zukunft unserer Kinder steht für uns an erster Stelle. Für diese Zukunft fehlt  das Geld derzeit an allen Ecken und Enden.

Beim Blick auf die Verteilung der Finanzmittel hier in Stuttgart ergibt sich ein groteskes Bild: Die Stadt steckt mit über einer Milliarde Euro im Projekt Stuttgart 21, bringt aber beispielsweise nicht die 340 Millionen €uro auf, die für Schulsanierungen gebraucht würden.

Bei der Betreuung von Kindern zwischen 0 und 12 Jahren sind gerade mal 30% abgedeckt, der Bedarf liegt bei über 50%. Und laut neuesten Erhebungen lebt jedes achte Kind unter 7 Jahren in Baden-Württemberg an der Armutsgrenze, Ten denz steigend.

Wir Mütter sagen: Die Qualität der Zukunft unserer Kinder hängt nicht davon ab, ob sie künftig in einem tiefer gelegten Bahnhof ankommen und abfahren können. Wenn sie eines Tages hier in Stuttgart keine Zukunft mehr haben, werden sie so oder so einen Weg finden, um wegzukommen. Die Zukunft unserer Kinder hängt davon ab, ob sie ein gutes Bildungsangebot und die entsprechenden Rahmenbedingungen bekommen. Sie hängt davon ab, dass ihnen nicht nur ein Minimum an sozialer Absicherung zuteil wird, sondern eine finanzielle Förderung, die auch Kindern aus ärmeren Bevölkerungsschichten eine echte Chance bietet. Die Ganztagesbetreuung muss gefördert werden, Schulküchen müssen eingerichtet werden, die Möglichkeiten der Hausaufgabenbetreuung intensiviert werden. Wenn die 14.000 Kinder, die in Stuttgart an der Armutsgrenze leben, monatlich 50,- €uro auf die Bonuscard bekämen, würde das die Stadt jährlich gerade mal schlappe achteinhalb Millionen Euro kosten, ein Klacks gegenüber den Tausend Millionen, die unsere Stadt für Stuttgart 21 locker macht.

Wir wissen ganz genau: Für all diese wichtigen Dinge, die unseren Kindern nützen würden, ist im Prinzip Geld da, es muss nur entsprechend eingesetzt werden.

Gleiches gilt für die Finanzmittel auf Bundesebene. Da hat doch Ministerpräsident Mappus kürzlich bei der Bekanntgabe der Kostenneuberechnung für die Neubaustrecke Wendlingen – Ulm sinngemäß verlauten lassen, die zusätzlichen Mehrkosten von fast 900 Millionen €uro brauchten uns nicht zu bekümmern, die zahle sowieso der Bund. Seine Aussage ist an Zynismus nicht zu überbieten! Da fragen wir Mütter uns:  Ja, sind das etwa keine Steuergelder von Bürgerinnen und Bürgern, nur weil sie vom Bund kommen? Steuergelder, die zwischen Stuttgart und Ulm auf der Strecke bleiben und ebenfalls ohne Not verbuddelt werden sollen, in einem Projekt, das eine überwältigende Bürger-Mehrheit gar nicht will? Während gleichzeitig auf Bundesebene ein Sparpaket geschnürt wird, das in skandalöser Weise die sozial Schwachen benachteiligt? Es schreit zum Himmel, wenn die Kürzung des Elterngeldes ausgerechnet  auf dem Rücken von Hartz IV-Empfängern ausgetragen wird,  man fasst es nicht! Die Leidtragenden sind hier insbesondere allein erziehende Mütter und, abhängig von ihnen, wiederum die Kinder.

Und hier ist die Botschaft von uns Müttern, die wir heute Abend hier sind – an alle, die es angeht – an die Stadt, an das Land und nach Berlin: Wir brauchen beide Projekte nicht! Wir brauchen weder den Bahnhof, noch die Neubaustrecke Wendlingen-Ulm. Was wir brauchen, ist eine solide und großzügige Finanzierung der Zukunft unserer Kinder. Erfolgt kein Ausstieg aus dem Großprojekt, so wird das nicht nur uns, sondern auch noch unsere Kinder auf Jahrzehnte hinaus finanziell in Ketten legen.

Wir appellieren an die Verantwortlichen an den Schaltstellen:  Tun Sie alles, um das Bauprojekt Stuttgart 21 zu stoppen, noch ist nichts wirklich begonnen! Lassen Sie das Projekt Neubaustrecke erst gar nicht beginnen! Ergreifen Sie die Chance! Nie wieder haben Sie die Möglichkeit, mit soviel Bürgerunterstützung so schnell zu Geld zu kommen. Geld, das Sie dann dort investieren können, wo es nötig ist: Bei unseren Kindern, auf eine Weise, die ihnen ein lebenswürdiges qualitätsvolles Heranwachsen ermöglicht. Und da soll uns keiner erzählen, dass das nicht geht! Es soll uns keiner erzählen, dass unser Geld nicht umverteilt werden kann. Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg! Der Wille von uns Bürgerinnen und Müttern ist da! Nun liegt es an unseren gewählten Vertreterinnen und Vertreter, diesen Willen auch umzusetzen.

Pfarrerin Guntrun Müller-Enßlin

Predigt im Schlossgarten, Ostern 2010 – Guntrun Müller-Ensslin

Predigt beim Gottesdienst im Grünen mit Fürbitte um Frieden und Bewahrung der Schöpfung in der Stadt im Stuttgarter Schlossgarten am Ostermontag, 05.04.2010 um 17 Uhr.

Predigttext: „Sucht der Stadt Bestes!“ Jeremia 29,7

Liebe Gemeinde,

Städte waren von jeher faszinierende und gefährdete Orte zugleich. Nirgendwo liegen Schönes und Hässliches, Positives und Negatives, Anziehendes und Abstoßendes, Jammer  und Glück so nahe beieinander wie in den Städten. Stadtluft kann frei, aber sie kann auch krank machen. In Städten können Menschen aufblühen, aber sie können auch verzweifeln.

Stadtleben, das heißt Kunst und Kultur, das heißt Innovation und Tempo, das heißt Bildung und Architektur. Aber Stadtleben heißt auch Lärm, Verkehrschaos, Abgase, Stress, Anonymität, Kriminalität. Städte sind Zentren von Macht und Geld, aber jede größere Stadt hat auch ihre sozialen Brennpunkte. Nirgendwo sind die Gegensätze zwischen Arm und Reich größer als in Städten. Nirgendwo leben Menschen näher beieinander, sind derart angewiesen aufeinander und nirgendwo sind sie einander fremder. Nirgendwo gibt es soviel Vielfalt auf engstem Raum, im Guten wie im Schlechten und darum liegt auch nirgendwo soviel Potential an Sprengstoff herum wie in einer Stadt. Das ist in Stuttgart nicht anders als in jeder anderen Stadt der Welt.

Weil das so ist, deswegen bedürfen gerade die Städte einer besonderen Sorgfalt im Umgang mit ihren Belangen. Es lohnt sich, dass diejenigen, die das Stadtgeschehen lenken, viel investieren in die Pflege und die Fürsorge daraufhin, was einer Stadt gut tut und was nicht. Man tut gut daran, sich in Bezug auf  Zukunftsplanungen viel Zeit zu nehmen, auch mal etwas wieder zu kippen, wenn es nicht mehr aktuell ist,  Besonnenheit und Achtsamkeit  walten zu lassen daraufhin, welche Prioritäten man setzen will. Insbesondere bei Bauvorhaben ist Fingerspitzengefühl und Feingefühl vonnöten in Bezug auf das, was angebracht ist und was die Menschen wirklich brauchen. Wer das Augenmaß verliert, steht allzu schnell vor einem Trümmerhaufen.

Diese Erfahrung haben Bewohner von Städten  immer wieder gemacht, auch die Bibel erzählt von ihnen. In der Stadt Babel schätzten die Menschen ihre Kräfte falsch ein, so dass der kühne Plan eines Turmbaus bis in den Himmel in einem Fiasko endete. Die Stadt Jerusalem wurde im Lauf ihrer Geschichte mehrmals platt gemacht, weil ihre Tribunen immer wieder mit den falschen Leuten paktierten. Das Bewusstsein um das Gefährdungspotential von Städten war sehr präsent, weswegen Menschen in der Bibel das Phänomen Stadt auch immer wieder explizit zum Thema gemacht haben. Die Gedanken kreisten darum, es wurde über Städte nachgedacht, es wurde über Städte geweint und es wurde in Städten geweint. „An den Wassern von Babylon saßen wir und weinten“ …heißt es in einem Psalm.

Auf dem Hintergrund der Erfahrungen, die Menschen in alter Zeit mit ihren Städten gemacht haben, ist wohl auch der Aufruf zu hören: „Sucht der Stadt Bestes!“
Sucht der Stadt Bestes – das sagt der Prophet Jeremia ausgerechnet den Menschen, die  aus dem wieder einmal zerstörten Jerusalem weggeschleppt im fernen Babylon Zwangsarbeit leisten müssen. Sie finden sich wieder, gezwungen zum Leben in einer Stadt, die ihnen fremd ist und in der ihnen die Freiheit verloren gegangen ist. Und offenbar stand es mit dieser Stadt selber auch nicht gerade zum Besten. Das Wort Sündenbabel kommt nicht von ungefähr. Macht und Korruption, Ausbeutung der Schwachen, Prunk und Willkür auf  Kosten der Armen waren an der Tagesordnung.  Jeremia ermutigt die Gefangenen, sich in der fremden Stadt nicht rauszuhalten, in der Hoffnung, dass sie bald wieder nach Hause können. Er ermutigt sie, eben nicht zu sagen, macht, was ihr wollt, das geht mich nichts an, sondern ihr Schicksal anzunehmen, die Stadt zu ihrer Stadt zu machen, für sie zu beten und sich aktiv zu beteiligen an der Sorge um das Wohl dieser Stadt. „ Sucht der Stadt Bestes!“ appelliert er. „Denn wenn es ihnen gut geht, dann geht es auch euch gut. …Ich will euer Glück und nicht euer Unglück. Ich habe im Sinn euch eine Zukunft zu schenken, wie ihr sie erhofft.“

Sucht der Stadt Bestes also. Aber was ist das Beste für eine Stadt? Woran kann sich dieses Beste orientieren?
Auch hier haben biblische Menschen weitergefragt. Und aus dem Bewusstsein des Negativpotentials von Städten  heraus haben sie den Prototypen einer vollkommenen, einer vollkommen  neuen Stadt entworfen. In einer kühnen Vision, die wir vorhin gehört haben, entwirft der Seher Johannes das neue Jerusalem als Modellstadt, an dem sich unsere Städte messen können.

Diese Stadt hat ihre besondere Qualität vor allem darin, dass sie eine durch und durch einladende Stadt ist, zu erkennen an der Zahl ihrer Tore, die nie geschlossen werden. Ein Zeichen dafür, dass bei Gott  alle Ausgrenzungen aufhören,  alle dürfen teilnehmen am Leben in dieser Stadt und an ihren Geschicken.. Die Stadt ist außerdem eine kommunikative Stadt. Die kommunalen Belange haben Vorrang vor den Privaten, Gemeinnutz geht vor Eigennutz. Es ist eine begrünte Stadt mit einem Fluss, an dem Bäume wachsen, deren Blätter und Früchte den Menschen zur Lebengrundlage und zur Gesundheit dienen. Des Weiteren ist die Stadt Gottes eine wirklich demokratische Stadt, in der die Regierenden einhergehen wie jedermann, und in der sogar Gott mitten unter den Menschen wohnt, ansprechbar für alle. „Gleichheit“ lautet also der erste und einzige Verfassungssatz dieser Stadt. Und schließlich: In dieser Stadt kommen alle kriminellen Machenschaften an ihr Ende: „Nichts Böses dringt in sie ein, obwohl sie absolut offen ist.“

An dieser Modellstadt also können wir uns orientieren, wenn wir nach der Stadt Bestem suchen, wenn wir nach dem suchen, was für unsere Stadt Stuttgart das Beste ist. Und das wollen wir tun an diesem Ostermontagnachmittag 2010, an dem außer der Osterfreude und der Freude über den Einzug des Frühlings in Stuttgart nach dem langen Winter auch so viel Unruhe und Besorgnis über der Stadt liegt, gerade in den letzten Tagen.

Was also gehört zu einer Stadt im Sinne von Gottes Prototyp?

Zunächst: Eine Stadt muss atmen können. Wer ein Empfinden für Städte hat, der weiß wie wichtig es ist, Natur in ihr zu haben, und wie schwer es ist, Natur zu erhalten. Zu einer Stadt gehört eine grüne Lunge, die nicht amputiert werden darf, auch nicht Teile von ihr, auch nicht auf Zeit. Auch nicht für 10 oder 15 Jahre. 10/15 Jahre, das ist eine ganze Kindheit. Das ist eine Spanne, an deren Ende viele von uns nicht mehr da sein werden. Und auch hinterher wird diese Lunge für die Lebenszeit einer ganzen Generation nicht mehr das sein, was sie einmal war. Diese Stadt und wir Menschen in ihr leben von den Bäumen. Wir bekommen von ihnen unendlich viel mehr, als wir ihnen je geben können. Und deswegen leihen wir den Bäumen, die keine Stimme haben, an dieser Stelle unsere Stimme und wir rufen: Diese Bäume, die unsere Freunde sind und die Freunde der Vögel und der Insekten, deren Lebensraum sie bilden: Diese Bäume wollen wir nicht hergeben, diese Bäume wollen wir behalten! Diese Bäume müssen wir nicht erst suchen, sondern die sind schon da; die sind der Stadt Bestes; die sind etwas vom Besten, was diese Stadt hat. Und wir werden alles tun, damit wir Euch Bäume behalten.

Wenn wir bei der Suche nach dem Besten für unsere Stadt Maß nehmen an der neuen Stadt Gottes, dann gehört dazu auch der soziale Friede. Das heißt zum Beispiel, dass nicht vorhandenes Geld nicht ausgegeben werden darf, weil es diese und künftige Generationen in Armut stürzt. Es heißt, dass wir vorhandenes Geld so verteilen müssen, dass alle in gleicher Weise etwas davon haben und von Kultur, Bildung, Unterhaltung, den Aushängeschildern unserer Stadt, profitieren.

Und schließlich: Bei der Suche  nach dem Besten für diese Stadt darf eine gepflegte, respektvolle Kommunikation der Bürger untereinander nicht fehlen. Kultur ist auch Gesprächskultur, und zwar auf Augenhöhe. Wenn Menschen in einer Stadt etwas Wichtiges zu sagen haben, dann zeugt es von Kommunikationskultur, wenn man sie anhört. Wenn Menschen erst mit ihrem Anliegen auf die Straße gehen und laut werden müssen, dann lässt das darauf schließen, dass da in Sachen Anhören offenbar etwas versäumt worden ist. Zur Gesprächskultur  würde gehören, dass man den Protestierenden spätestens jetzt intensiv zuhört und sie ernst nimmt, insbesondere wenn es sich bei ihren Anliegen um so vernünftige Dinge wie maßvollen Umgang mit Geld, Lebensqualität und Erhaltung der Schlossgartenbäume handelt. Eine kluge Stadtverwaltung, die merkt, dass da eine Protestbewegung im Gang ist, würde noch mal in sich gehen und ihr Vorhaben prüfen. Wenn so viele Bürger einer Stadt signalisieren, hier stimmt was nicht – und es sind ja nicht die Dümmsten, die das signalisieren – dann würde eine souveräne Führung, die auf Demokratie setzt, innehalten und sagen: Moment mal, vielleicht sehen die was, was wir nicht sehen. Anstatt sich diese Menschen zu Gegnern zu machen, würde sie aufs reine Kräftemessen verzichten; sie würde verzichten, schon um Polarisierung  und Eskalation bis hin zum irreparablen Vertrauensschaden – dem sicheren Herztod einer Stadt – zu verhindern. Denn die Menschen, deren Kräfte, deren Phantasie im Moment gebunden sind im blanken Widerstehen gegen Brachialgewalten, das sind ja Menschen, die sorgen sich um ihre Stadt, die wollen sich mitkümmern, mitreden, mithandeln! Darüber müsste eine kluge, am Besten für ihre Stadt orientierte Crew von städtischen Abgeordneten in Jubel ausbrechen und begeistert sagen: Prima! Was für ein großartiges Kapital, was für eine Chance für unsere Stadt! Jede Regierung  könnte darauf stolz sein. Und sie würde, aus Erfahrung klug und wissend, dass man bei einem so anspruchsvollen stadtplanerischen Projekt alles an Erkenntnis zu Hilfe nehmen muss, was zu haben ist, sie würde sich die Ideen, Phantasien, Kompetenzen dieser Bürgerbewegung zu Nutze machen und sie  bündeln. Alle gemeinsam  würden wir unsere Kräfte in den Dienst der gewaltigen Aufgabe stellen, miteinander überlegen, Zwischentöne äußern – auch das wäre wieder möglich, nicht nur das für und das Gegen -, wir würden vielleicht verwerfen, wieder überlegen, um am Ende das zu finden, was für unsere Stadt das Beste ist.

Noch ist es dazu nicht zu spät! Noch ist Zeit! Noch ist nichts passiert, was nicht gestoppt, modifiziert und  in eine andere Richtung gelenkt werden könnte. Noch ist Zeit, der Stadt Bestes zu suchen! Nichts ist unumkehrbar! Das Wort unumkehrbar ist eines, das es in der Bibel nicht gibt. Dort findet sich vielmehr sehr oft der Aufruf zur Umkehr. So oft, dass es einen Grund haben muss. Die Bibel kennt verfahrene Situationen, Situationen, wo sich Menschen vertan, geirrt, verstiegen oder einfach falsch geplant haben. Solche Situationen sind menschlich. Sie kommen häufig vor.  In diesen Situationen ist das Wort von der Umkehr der Schlüssel. Es sagt: Man kommt wieder heraus. Weil Verirrungen so menschlich, so normal sind, wird niemand ausgelacht, der umkehrt. Es kann jedem passieren. Auf niemanden, der umkehrt, wird hämisch mit dem Finger gezeigt. Nach dem Motto: Wir habens ja schon immer gewusst. Umkehr löst auch keine Schadenfreude aus, sondern nur reine Freude. Und niemand, der umkehrt, wird sein Gesicht verlieren; er wird es im Gegenteil wieder gewinnen.

Der Umkehr ist eigen, dass sie nicht aufschiebbar ist. Sie kann sofort anfangen. Zum Beispiel heute, am Ostermontag 2010. Denn auch Ostern ist das Datum einer beispiellosen Umkehr, der Umkehr vom Tod ins Leben. An Ostern hat alles unter umgekehrten Vorzeichen neu angefangen. Ostern wäre ein guter Termin auch für einen Neubeginn in Stuttgart.

Amen.

Pfarrerin Guntrun Müller-Enßlin

Baustellen: Bahnhof und SPD – Siegfried Bassler

Mitbürger, Freunde, Stuttgarter, hört mich an!

Die Front unserer Widersacher wankt, das Kartell der Befürworter bröckelt, das Imperium der Macher zeigt Risse. Am letzten Mittwoch hat es noch einmal seine hässliche Fratze gezeigt, ungeschminkt, und den Abriss des Nordflügels dekretiert.

„Nieder mit euch in den Staub!“ lautete die Botschaft an uns. Euch braucht man nicht zu beachten, euch muss man nicht respektieren, euch darf man sogar demütigen!

Doch am Freitag war der Schock überwunden und 50.000 selbstbewusste Bürger haben den Landtag eingekesselt, Bannmeile hin, Bannmeile her. Die unheilige Dreifaltigkeit Mappus, Schuster, Grube hat ihre gläubigen Anhänger verloren. Das Imperium wankt. Mappus muss um seine Mehrheit bangen. Die erste Wahl, die er als Ministerpräsident zu bestehen hat, droht er zu verlieren. Darum muss er nun einlenken.

Schuster, der Wortlose, Hilflose, Orientierungslose, hat sich nun auch noch als ganz und gar stillos erwiesen. In der selben Stunde, da die Bagger den Nordflügel einzureißen begannen, hat er mit der hiesigen Schicki-Micki-Szene die Eröffnung des Weindorfs gefeiert. Mehr Provokation, mehr Stillosigkeit, mehr Zynismus geht nicht. Man könnte sich hier in der Tat an spätrömische Dekadenz erinnert fühlen.
Aber wir haben dem Schuster die Suppe gründlich versalzen. Schaut euch das gespäßige Schauspiel im Internet an, da habt ihr was zu lachen. Wie soll dieser sprachlose Mensch, der in der Stunde der Krise vollkommen versagt hat, diese Stadt noch zwei Jahre lang führen? Das geht doch nicht! Jetzt ist er abgereist nach Chile wie Honnecker seinerzeit, und der ist ja nicht wiedergekommen.

Der Herr Grube gerät durch die unaufhaltsam steigenden Kosten und das miserable Image der Firma, die er leitet, unserer Bundesbahn, immer mehr unter Druck. Jetzt sagt er: „Wir wollen mit diesen Gesprächen ein Signal der Vernunft an die Bevölkerung geben.“ Uns soll es recht sein, wenn er nun auch Vernunft annimmt.
Ob er es ehrlich meint, wird man ja sehen. Ist es nicht erschreckend, dass man von der Gegenseite nichts anderes erwartet als Trickserei und Täuschung? Es könnte ja sein, dass er die Gespräche bis zum Jahresende hinzieht und dann platzen lässt in der Hoffnung, unser Widerstand werde erlahmen, wenn es erst einmal kalt und dunkel wird.
Vorsicht ist geboten, denn das Imperium wankt. Die Ruine des Nordflügels mahnt.

Jetzt muss ich über eine andere Baustelle sprechen, die Stuttgarter SPD.

Seit 51 Jahren bin ich Mitglied dieser Partei und bleibe es! Sonst hätte ich nicht die Freiheit, sie heute harsch zu kritisieren.1959 eingetreten, um gegen Adenauers rheinischen Klüngel und für Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität, die Grundwerte der SPD zu kämpfen. Dann 12 Jahre im Stuttgarter Gemeinderat, vier Jahre davon (1972 – 1976) Fraktionsvorsitzender.

Als ich von 1996-1999 noch einmal in den Gemeinderat kam, vom 60. auf den 18. Platz vorgewählt, fing das mit Stuttgart 21, dem Monsterprojekt im Herzen Europas, gerade an.

Ich gestehe, dass auch ich die Grausamkeiten, die durch dieses babylonische Vorhaben verursacht werden, nicht gleich begriffen habe. Die Befürworter, der Herr Heimerl, Professor an der hiesigen Uni, und der Herr Kußmaul, auch Professor und Fraktionsführer der SPD, haben uns die Sache dadurch schmackhaft zu machen versucht, dass sie behaupteten, man sei ein paar Minuten schneller in Bratislava, wenn man die unverzichtbare Magistrale von Paris nach Budapest ausbaue. Auf dieses sensationelle Angebot wollten natürlich die meisten Gemeinderäte Stuttgarts, des Partners der Welt, nicht verzichten.

In der Gemeinderats-Debatte nach der Entscheidung der Jury im Herbst 1997 habe ich zwar meine Skepsis gegen das Projekt zum Ausdruck gebracht, aber dann doch mit der Fraktion gestimmt. Das war ein Fehler, das war zuviel Rücksicht auf die Partei, das habe ich bald bereut.

Dass durch den Plan von Ingenhoven, diesem arroganten Architekten, unser schöner Hauptbahnhof kaputt gemacht würde, haben damals nicht einmal die Architektur-Professoren in der Jury gemerkt. Man hat die Katarakte in der Planung elegant umschifft, d.h. die unvermeidlichen Scheußlichkeiten einfach totgeschwiegen.

Es ist keine Schwäche, wenn man seine Meinung ändert, weil man dazugelernt hat, vielmehr ein Zeichen von Lernfähigkeit und Stärke. Immer mehr Architekten tun es gerade, wie der Herr Lederer und zuletzt Frei Otto.
Nichts dazugelernt hat leider unser verehrter Alt-Oberbürgermeister Manfred Rommel, der sich jetzt vor den Karren der Stuttgart 21-Befürworter spannen lässt. Nicht genug damit, dass er uns seinerzeit den Herrn Schuster als besten aller Kandidaten empfohlen hat, bezeichnet er jetzt das Monster-Projekt als „unverzichtbar“.
Ich habe vor ein paar Jahren ein Büchlein mit Schüttelreimen veröffentlicht, dass ich ihm, dem OB gewidmet habe. Es trägt den Titel: „Der macht hier manchmal Schwaben-Witze, dass ich aus allen Waben schwitze.“ Subsummieren wir sein Eintreten für S 21 unter die Rubrik „Schwabenwitze“ und erklären das Thema im Hinblick auf sein ehrwürdiges Alter für erledigt.

Ich bin vor 77 Jahren in Stuttgart geboren und hier aufgewachsen, ich habe als junger Mensch die furchtbaren Fliegerangriffe erlebt, in denen all die schönen Gebäude des alten Stuttgart, die in Jahrhunderten entstanden waren, zerstört wurden Deshalb möchte ich heute helfen zu verhindern, dass die wenigen Zeugen der Vergangenheit, die den Krieg überstanden haben, jetzt einer geschichtsvergessenen Planung geopfert werden.

Es ist spät, gewiss, aber noch nicht zu spät, es ist fünf vor zwölf, aber die Geisterstunde hat noch nicht geschlagen. Ich weiß, dass viele SPD-Mitglieder mit der sturen Festlegung der Fraktion auf das Koste-es-was-es-wolle-Projekt nicht einverstanden sind, vielen begegne ich seit Wochen bei jeder Demonstration, es gibt eine schweigende Mehrheit der Genossen, denen es geht wie mir, sie genieren sich im Augenblick, bei diesem Haufen zu sein. Und auch zwei unserer Landtagskandidaten, der Dejan Perc und der Matthias Tröndle fordern Baustopp und Bürgerbefragung.
Wenn der Genosse Reißig, Kreisvorsitzender der SPD, von Hermann Scheer Solidarität einfordert, darf man schon fragen: Solidarität, wofür eigentlich?
Solidarität für ein Projekt, das von der Mehrheit der Bevölkerung abgelehnt wird, weil es in seiner Großspurigkeit ganz und gar nicht schwäbischer Mentalität entspricht?
Solidarität für ein Projekt, das den Befürwortern keine Bürgerbeteiligung wert war?
Vor drei Jahren habe ich dem Fraktionsvorsitzenden der SPD dringend geraten, ein Bürgerbegehren zu beantragen: Antwort: Das sei juristisch gar nicht möglich. Man wollte es nicht einmal versuchen. Formaljuristische Beschwichtigungen hat man über den politischem Willen gestellt.

Solidarität für ein Projekt, von dem die Macher zurecht befürchten, dass es bei einem Bürgerentscheid mit großer Mehrheit abgelehnt würde? Solidarität ist einer der ehernen Werte der Sozialdemokratie von Anfang an. Solidarität kommt aus dem Mitgefühl mit den Schwachen und Benachteiligten. Der Genosse Reißig versteht unter Solidarität aber nichts anderes als Fraktionszwang: Die da oben wissen, was richtig ist, und wir Zurückgebliebenen da unten haben ihnen gefälligst zu folgen.
Leider geht es gerade so weiter. Die Genossen Schmiedel und Drexler von der Landtagsfraktion versuchen jetzt die parteiinternen Gegner von S21, den Hermann Scheer, den Peter Conradi und alle, die sich aus der Deckung wagen, als „Einzelmeinungen“ abzuqualifizieren. Ich befürchte, dass die Befürworter der SPD nach der nächsten Gemeinderatswahl eine Einzelmeinung im Stuttgarter Rathaus bilden werden, wenn nur noch ein einziger übriggeblieben ist.

Ein Demonstrant, Mitglied der SPD, hat mir dieser Tage einen Zettel zugesteckt mit einem schönen Spruch von Egon Bahr, dem Weggenossen Willi Brandts: „Wer alles für richtig erklärt, was die eigene Partei macht, ist entweder strohdumm oder total verlogen.“

Ich habe die SPD-Mitglieder, die gegen S 21 sind, gebeten, heute etwas Rotes zu tragen, damit man sieht, wie viele es sind. Außerdem liegen an der Mahnwache Listen für SPD-Mitglieder auf, in die sie sich als Gegner des Projekts eintragen können.

Die Quittung für ihre Sturheit und Bürgerferne haben CDU und SPD bei der letzten Gemeinderatswahl erhalten. Leider nicht die FDP. Es werden aber noch mehr Quittungen ausgestellt werden, denn es kommen noch mehr Wahlen, die nächste am 27.März nächstes Jahr zum Landtag.

Mit dem Abbruch hat das Imperium ja schon angefangen, wenn nun noch das große Verkehrschaos dazukommt, wenn Hunderte von Lastwagen durch die Innenstadt fahren, wenn die Stadtbahnhaltestelle Staatsgalerie platt gemacht wird, wenn die uralten Bäume in den Anlagen umgehauen werden, dann möchte ich nicht Kandidat einer Partei sein, der diese Barbarei begründen und verteidigen muss. Es ist ein Szenario des Schreckens, aber man kann nicht nur zu Tode erschrecken, man kann auch angesichts des Schreckens zum Nachdenken, zum Umdenken kommen, Ich hoffe, dass die Genossen und Genossinnen der SPD-Gemeinderatsfraktion einen heilsamen Schreck erleben und einsehen, dass der Preis für diesen Bahn-Größen-Wahn in jeder Hinsicht zu hoch ist: für die Stadt, für die Bürger und erst recht für die SPD.

Als ich Fraktionsvorsitzender war, hatte die SPD im Stuttgarter Gemeinderat 27 Sitze von 60, heute sind es 10. Es wird langsam Zeit für meine Genossen, sich ein anderes Volk zu wählen. Ich hoffe, dass ich am 28.März nächsten Jahres nicht in der Zeitung lesen muss: „SPD in Stuttgart knapp über 5% “
Damit das nicht passiert, schicke ich einen Stoßseufzer zum Himmel hinauf:
„O Herr, schmeiß Hirn ra, ond an bsonders großa Batza ens Fraktionszemmer von der SPD em Stuagerter Rothaus.“

Lasst mich zum Schluss noch etwas Versöhnliches, Hoffnungsvolles sagen:
Ich bin 1933 in dieser Stadt geboren und habe den größten Teil meiner Lebenszeit hier zugebracht, aber so einen schönen Sommer habe ich, trotz des vielen Regens, in 77 Jahren  nicht erlebt. Es ist doch so etwas wie ein demokratisches Sommermärchen, dessen Zeugen wir gerade sind.
Ich habe unsere Stadt und die Mehrzahl ihrer Bürger immer für ziemlich spießig, muffig und provinziell gehalten und war bei politischen Entscheidungen meistens auf Seiten der Minderheit, bei denen, die sich zwar im Recht sahen, aber  trotzdem verloren haben.
Und nun ist auf einmal so etwas wie ein Wunder geschehen.So viele Menschen, Frauen und Männer, Junge und Alte, Einheimische und Reingeschmeckte, Feuerbacher, Heslacher und Degerlocher sind mit einem Mal aus ihrer politischen Unmündigkeit herausgetreten und haben ein großes gemeinsames Ziel gefunden: die Erhaltung unseres schönen Bahnhofs, eines Stücks des guten alten Stuttgart. Was die Politiker jeder Couleur so oft und so gerne fordern, man müsse sich auf Werte besinnen und sie hochhalten, das ist hier geschehen.

Unser Bahnhof steht für einen solchen Wert, gut und schön, bewährt und praktisch, ein Stück Heimat, ein Stück von uns, das wir uns nicht nehmen lassen.  Wir sind die echten Konservativen, die Wert-Konservativen.
Ich gehe jedes Mal beseligt von der Demonstration nach Hause, weil ich es nie für mögliche gehalten hätte, dass meine Landsleute zu einem solchen Fest des Widerstands  fähig wären und das zweimal in der Woche.
Unsere Widerstandsfeste sind Signale, die man in der ganzen Bundesrepublik hört und sieht und wie auch immer es ausgeht, sie werden eine bleibende, beispielhafte Wirkung haben. Ja wir können wie Goethe nach der Kanonade von Malmy, das war 1792, sagen, rufen, schreien:  „Von hier und heute geht eine neue Epoche der demokratischen Geschichte aus und ihr könnt sagen, dass ihr dabei gewesen seid.“

Rede von Siegfried Bassler, Pfarrer i.R., am 30.08.2010 bei der Montagsdemo