Immer wieder wird betont: Die Kirche muss sich beim Streit um Stuttgart 21 heraus- und neutral verhalten. Dabei wird leicht vergessen, dass die Kirche schon längst in amtlichen Verlautbarungen in guter Weise Stellung bezogen und im Hinblick auf Großprojekte klare Handlungsanweisungen gegeben hat. An dieser Stelle sei erinnert an: „Verantwortung wahrnehmen für die Schöpfung. Gemeinsame Erklärung des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Deutschen Bischofskonferenz“. Gütersloher Verlagshaus Gerd Mohn 1985.
Die Schrift fordert eine klare ethische Orientierung für ökologisches Handeln. Sie führt unter anderem aus: Ehrfurcht vor dem Leben führt zur Selbstbegrenzung; nicht was der Mensch kann, sondern was er verantworten kann, ist der Maßstab; Gefahren müssen ernst genommen und vorausschauend abgewogen werden.
Ehe ein Auszug aus der Schrift hier wieder gegeben wird, zuerst ein paar einführende Bemerkungen.
Ökologie und Schöpfung
Stuttgart 21 sei auch ein ökologisches Projekt, so die Befürworter. Zunächst ein paar Gedanken voraus, was mit Ökologie gemeint ist. Ökologie, ursprünglich die Lehre von den Häusern, ist nach Duden die Lehre der Beziehungen der Lebewesen zur Umwelt. Die Ökologie hat uns für diese Zusammenhänge in den letzten Jahrzehnten die Augen geöffnet, wie stark wir Menschen in diese Zusammenhänge eingebettet sind. Wir sind nur ein Teil dieser Welt, der belebten und unbelebten. Alles Leben ist aufs Engste mit der Natur verwoben. Nächstenliebe kann sich unter diesem Horizont nicht auf die Menschen beschränken, sondern auf alle Teile der Schöpfung. Die Menschheitsfamilie ist gerufen, so zu leben, dass die Beziehung mit der ganzen Schöpfung Leben ermöglicht und beidseitig Leben fördert. Es steht dahinter die Überzeugung, dass wir Menschen und die „Lebensgemeinschaft Erde“ in rechter Beziehung zueinander leben müssen und dass die menschliche Gemeinschaft nicht die übrige Schöpfung missbrauchen oder verkonsumieren darf.
S 21 und die Ökologie
Bei S 21 wird die Ökologie bei einer ganzen Reihe von gravierenden Maßnahmen tangiert. Man kann die Frage nicht allein auf die CO2 Bilanz reduzieren, obwohl sie sehr wichtig ist.
Es geht auch um die Gefährdung der Mineralquellen, die schweren Eingriffe in den Schlossgarten, die komplette Entfernung des Gleisvorfelds mit der dort vorhandenen Tier- und Pflanzenwelt.
Zum Beispiel: Der Schlossgarten
Unbestritten ist, dass er in allen seinen Teilen ein lebendiger und sehr sensibler Lebensraum von Tieren, Pflanzen und Bäumen darstellt, der neben der Erholung für die Menschen der Innenstadt mit seinen alten Bäumen der Luftreinhaltung der ganzen Großstadt dient. Was es bedeutet, in dieses sensible Ökosystem einzugreifen, belegen ein paar Beobachtungen, die M. Wetzler und Tomoko Arai im Zusammenhang mit den ersten Baumfällungen am 1. Oktober 2010 gemacht haben.
Bilder aus: „Stuttgarter Schlossgarten, ein Naturschatz mitten in der Stadt ist bedroht“, M. Wetzler und Tomoko Arai, 2010.

S. 3 „Diese
Eichhörnchen wurden am 27.09. unter dem Haselnussbaum, der gerade viele Nüsse trug, fotografiert. Drei Hörnchen sammelten fleißig Nüsschen. Der Haselnussbaum wurde am 01.10. gefällt. Nach der offensichtlich illegalen Abholzung wurde beobachtet, wie ein Eichhörnchen vergeblich nach seinem Baum suchte …“

S. 11 „
Ein verirrter Feldhase wurde in der Nacht vom 29. Oktober auf dem Gelände beobachtet, wo die Bauarbeiten für das Wasser-Management stattfinden, ängstlich und bewegungslos … Die größte Feldhasenpopulation innerhalb deutscher Großstädte, die im Schlossgarten vorkommt, ist durch die Abholzung bedroht.
In der von S21 geplanten Parkerweiterung kann kein großer Baum wegen des unter der Erde liegenden Tiefbahnhofdachs wachsen. Kein Tier wird auf einer solchen künstlichen Fläche eine Heimat finden !“
S 21 – ein ökologisches Projekt?
Ob Stuttgart 21 wirklich ein ökologisches Projekt ist, entscheidet sich daran, wie die ökologische Bilanz am Ende aussieht, und ob ökologisches Handeln bei seiner Verwirklichung auch diesen Namen verdient. Die Leserinnen und Leser können sich selbst eine Antwort geben, wenn sie die folgende kirchliche Stellungnahme gelesen haben.
Hier ein Auszug aus der Schrift (im folgenden kursiv gedruckt und mit Zwischenüberschriften versehen): „Verantwortung wahrnehmen für die Schöpfung.“ Gemeinsame Erklärung des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Deutschen Bischofskonferenz. Gütersloher Verlagshaus Gerd Mohn 1985, S. 27-30.
Nicht was der Mensch kann, sondern was er verantworten kann, ist der Maßstab.
Beim Wahrnehmen der Verantwortung für Natur und Umwelt darf sich der Mensch nicht allein an seinen eigenen Interessen orientieren, auch nicht allein an dem, was er technisch machen kann. Er muß sich vielmehr darauf besinnen, was er als sittliches Subjekt tun darf und tun soll. Die heutigen ungeheuren Möglichkeiten, die Reichweite menschlichen Handelns und damit menschlicher Verantwortung ins Unfaßbare zu erweitern, legen dem Menschen neue Pflichten und neue Verantwortung auf. Welche grundlegenden ethischen Orientierungen lassen sich für eine ökologische Ethik gewinnen und benennen?
Ehrfurcht vor dem Leben führt zur Selbstbegrenzung
Nicht allein menschliches, sondern auch tierisches und pflanzliches Leben sowie die unbelebte Natur verdienen Wertschätzung, Achtung und Schutz. Die Ehrfurcht vor dem Leben setzt voraus, daß Leben ein Wert ist und daß es darum eine sittliche Aufgabe ist, diesen Wert zu erhalten. Das Leben ist dem Menschen vorgegeben; es ist seine Aufgabe, dieses Leben zu achten und zu bewahren. Es obliegt seiner Verantwortung, Sorge für seine Umwelt zu tragen. Dies erfordert Rücksicht, Selbstbegrenzung und Selbstkontrolle. Der Maßstab „Ehrfurcht vor dem Leben“ enthält ein Moment unbedingter Beanspruchung und Verpflichtung, ein Schaudern vor den Folgen des Gebrauchs der Macht, das den Menschen zurückhalten soll, diese Macht zur Selbstvernichtung zu mißbrauchen. Die Ehrfurcht vor der Bestimmung des Menschen und das Schaudern und Zurückschrecken vor dem, was aus dem Menschen und seiner Umwelt werden könnte und was uns als denkbare Möglichkeit der Zukunft vor Augen steht, enthüllt uns das Leben als etwas „Heiliges“, das zu achten und vor Verletzungen zu schützen ist.
Ehrfurcht vor dem Leben heißt: Der Mensch muss sich als Hirte verstehen
Die Ehrfurcht vor dem Leben bewirkt auch eine Scheu vor dem rein nutzenden Gebrauch, eine Haltung der Beachtung und Schonung. So gesehen schließt sie eine „Ehrfurcht vor dem Gegebenen“ mit ein, sie weckt Wertebewußtsein und Schadenseinsicht. Diese Ehrfurcht vermittelt auch Einsicht in gegebene Grenzen, Einsicht in die Endlichkeit und Vergänglichkeit, vor allen Dingen Einsicht in die Verletzlichkeit der Schöpfung und Mitkreatur. Ehrfurcht vor dem Leben bezieht sich nicht nur auf menschliches, tierisches und pflanzliches Leben, sondern im weiteren Sinn auf die „unbelebte“ Natur mit ihren Lebenselementen (Wasser, Boden, Luft) und ihren funktionalen Kreisläufen als Lebensraum. Sie sind nicht als tote Gebrauchsgegenstände zu verstehen, sondern als Teil der Lebensbedingungen des Menschen und seiner Mitkreatur. Wir Menschen müssen uns, um mit Sokrates zu sprechen, auf die Kunst des Hirten verstehen, dem am Wohl der Schafe gelegen ist, dürfen sie also nicht bloß unter dem Blickwinkel des Metzgers betrachten.
Gefahren müssen ernst genommen und vorausschauend abgewogen werden
Die Tugend der Klugheit im Sinne der klassischen „Besonnenheit“ (lat. prudentia) gebrauchte die Menschheit, um die Folgen ihres Tuns abzuschätzen und in Konfliktfallen das geringere Übel zu wählen. Weil wir heute Folgen besser voraussehen können als frühere Generationen, ist unsere Verantwortung gewachsen. Unsere Klugheit muß weitsichtiger sein. Dies gilt besonders für langfristige und unumkehrbare Wirkungen. Weil die heute möglichen und erforderlichen Eingriffe aber tiefer in das Gefüge der Umwelt eingreifen, sind Neben- und Folgewirkungen weniger absehbar als zu früheren Zeiten. Unsere Klugheit muß deshalb auch vorsichtiger sein. Ein Schaudern vor den Folgen des Gebrauchs seiner Macht müßte den Menschen die Furcht lehren, in naiver Unvorsichtigkeit zerstörerische Folgen seines Handelns zu übersehen. Dies bedeutet nicht den Verzicht auf jegliches Risiko, wohl aber die Einschränkung und Verteilung möglicher Risiken. Im Zweifelsfall ist daher eher nach der Überlegung zu handeln, ein gewagtes Unternehmen könne mißlingen, als nach der gegenteiligen Überlegung, es werde schon alles gut gehen.
Eingriffe in die Natur dürfen nur begrenzt vorgenommen werden
Konkret bedeutet dies: Eingriffe in den Haushalt der Natur sind möglichst sparsam und begrenzt vorzunehmen, selbst wenn unmittelbare Nachteile nicht voraussehbar sind. Dieses Verhalten ist auch deswegen vernünftig, weil es der Natur möglichst viel Spielraum für selbstheilende Eigenkräfte läßt. Die Eigengesetzlichkeiten der Natur haben sich als flexibler und erfinderischer erwiesen als die Fremdsteuerung durch Mechanismen, die menschliche Erfindungskraft und Technik hervorgebracht haben.
Abwägen von Schaden und Nutzen
Kurzfristige ökonomische und technische Interessen und langfristige Interessen der Erhaltung von Natur und Umwelt sowie Belange des Überlebens der Menschheit können in Kollision geraten. In diesem Fall ist das langfristige Interesse gerade dann einer besonderen ethischen und gesellschaftliche Unterstützung bedürftig, wenn kurzfristiger Nutzen langfristige Schäden verursacht. In solchen Konfliktlagen bewährt sich ethische Verantwortung. Eine Abwägung zwischen kurzfristigen und langfristigen Schäden, zwischen Schäden und Nutzen sowie Wertvorzugsüberlegungen (Prioritätensetzungen) sind möglich und notwendig. Fragen der Umkehrbarkeit und der Regenerierbarkeit von Naturgütern sind ebenso mit zu bedenken wie die Interessen der heutigen und der künftigen Generationen.
Verfasser: Hans-Eberhard Dietrich, Pfarrer i.R.