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Schöpferische Nachfolge

Eine theologische Analyse zum politischen Engagement von Kirche – auch gegen Stuttgart 21

„In der Bibel finden wir keine konkrete Weisung für oben bleiben oder nach unten bauen“ – schrieb der Stuttgarter Prälat Ulrich Mack im Blick auf das umstrittene Projekt „Stuttgart 21“ in seinem Neujahrsbrief 2011 an kirchliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, Freunde und Bekannte sowie an der Kirche Interessierte.
Seit Luther ist es unter Protestanten üblich, Streitfragen sowohl bei theologisch – kirchlichen als auch bei gesellschaftlich – politischen Themen von der Bibel und schwerpunktmäßig vom Neuen Testament her, von dem, „was Christum treibet“ (Luther), zu entscheiden. Das Dilemma hierbei ist, wie so oft im theologischen Disput, dass sich alle Konfliktparteien flugs auf die Bibel berufen, um ihren Meinungen die nötige theologische Legitimation und Autorität zu verleihen.
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Gibt es theologische Argumente für Stuttgart 21 ?

Befürworter von Stuttgart 21 verweisen darauf, dass nach der Wahl vom 27. März immer noch eine Zweidrittelmehrheit pro S 21 aus CDU, SPD und FDP im Landtag sitzt. Die meisten dieser Abgeordneten und ihre Wähler verstehen sich wohl als Christen. Wie kommen sie als Christen dazu?

Gelegentlich wurde schon gefragt, weshalb in der „Gemeinsamen Erklärung“ eingeräumt werde, „dass es auch Argumente pro S21 gibt“ und „sich auch Christen pro S21 aussprechen können“. Noch spannender erscheint mir die Frage, wie Christen für S 21 theologisch argumentieren, denn dann wäre eine theologische Auseinandersetzung mit ihnen möglich.

Der Evangelische Oberkirchenrat in Stuttgart macht das Schweigen zu S 21 zum christlichen Programm und folgt damit offenbar dem in lutherischen Kirchen seit Jahrhunderten gültigen Grundsatz aus Römer 13: „Jedermann sei untertan der Obrigkeit.“  Sich zu S 21 zu äußern, brächte die Gefahr mit sich, der Obrigkeit widersprechen zu müssen, was zugleich Aufruhr gegen Gott wäre, der alle Obrigkeit einsetzt. Mit dieser Theologie könnten Christen sogar für die Meinung, am 30.9.2010 sei eine strafrechtlich relevante Sitzblockade von der Polizei rechtmäßig aufgelöst worden, biblisch argumentieren. Denn in dieser theologischen Sichtweise ist die Staatsmacht „Gottes Dienerin, eine Rächerin zur Strafe über den, der Böses tut.“ (Röm 13,5)

Dass diese theologische Argumentation heute nur noch selten vorgetragen wird, hat zunächst historische Gründe. Diese Theologie hat im 3. Reich dazu geführt, dass nicht nur die „Deutschen Christen“, sondern auch die „Bekennende Kirche“ in Hitler den von Gott gesandten Führer gesehen und deshalb seinen vaterländischen Krieg mitgemacht haben. Diese fatale Konsequenz aus Römer 13 ist bis heute kirchlich nicht wirklich aufgearbeitet. Die „Bekennende Kirche“ hat im „Stuttgarter Schuldbekenntnis“ vom Oktober 1945 nur die Schuld des Volkes, nicht aber die Schuld der Kirchenleitung und der herrschenden Theologie bekannt. Unbekannte Schuld wirkt erfahrungsgemäß weiter. So hat der Württembergische Landesbischof von Keler z. B. 1983 noch den Atomkrieg vor der Landessynode befürwortet, obwohl er eingestehen musste, dass dabei die Freiheit zerstört wird, die verteidigt werden sollte. Er hat dabei nicht mehr offen mit Römer 13 argumentiert, war aber dieser Theologie entsprechend regierungstreu.

Der zweite Grund, warum mit Römer 13 kaum noch offen argumentiert wird, liegt darin, dass die Schwarzweißmalerei, hier gute Obrigkeit, da böses Volk, das mit dem Schwert in Schach zu halten ist, im Widerspruch steht zu dem, was Jesus seinen Jüngern sagt: „Ihr wisset, dass die weltlichen Fürsten ihre Völker niederhalten, und ihre Mächtigen tun ihnen Gewalt. Aber so soll es nicht sein unter euch; sondern wer groß sein will unter euch, der sei euer Diener; und wer unter euch der Erste sein will, der sei aller Knecht“ (Mk 10, 42-43). Jesus fordert also von uns Christen, dass wir der Gewaltkultur der Herrschenden eine Kultur des Dienens entgegensetzen. Anders als in Römer 13 sieht Jesus, dass auch Regierende Menschen sind, die Fehler machen können.

Dass Stefan Mappus für seinen gutsherrnartigen Regierungsstil nach Römer 13 nur so geringfügig abgestraft worden ist und immer noch 39 Prozent der Wähler ihn weiter haben wollen, lässt darauf schließen, dass die Theologie von Römer 13 in den Herzen vieler Christen in Baden-Württemberg immer noch lebendig ist. Einiges spricht dafür, dass der württembergische Pietismus, der im 18. Jahrhundert noch eine bürgerliche Befreiungsbewegung war, im 19. Jahrhundert von lutherischer Theologie derart dominiert wurde, dass er der Entwicklung zum  „autoritären Charakter“ mit seinem Untertanengeist Vorschub leistete, den die analytische Sozialpsychologie ab 1930 näher beschrieb. Die Proteste gerade auch von Christen gegen das Projekt Stuttgart 21  und seine gutsherrnartige Durchsetzung sind ein Zeichen der Hoffnung, dass württembergische Christen wieder zurückfinden zu der Protestkultur der bürgerlichen Befreiungsbewegung, die der württembergische Pietismus ursprünglich war.

Nachdem das Problem der Atomkraft auf tragische Weise neue Aufmerksamkeit erfährt und die Kanzlerin auch die Kirchen an einer Atomkraftethikkommission beteiligen will, können wir nur inständig hoffen, dass die dorthin berufenen kirchlichen Verantwortungsträger nicht wieder wie bei Stuttgart 21 regierungsergeben den Kopf in den Sand stecken und sagen, sie könnten in der Bibel keine Weisung finden für Abschaltung oder Laufzeitverlängerung.

Friedrich Gehring, Pfarrer i. R.