Sieben Tage und Nächte schwiegen die Freunde Hiobs in Trauer mit ihm. Sieben Tage sind nun vergangen in der Trauer um die gefällten Bäume im Schlossgarten. Noch ist die Wucht dieses Frevels nicht ganz bei mir angekommen. Noch wirkt eine Art Narkotisierung der Seele, die den Schmerz dämpft. Aber nun ist die Zeit, das Trauma zu bearbeiten.
Nach dem 2. Weltkrieg haben viele Deutsche gefragt: „Wie konnte Gott das zulassen?“ Sie meinten nicht den Krieg, sondern die Niederlage. Aus dem Abstand der späten Geburt habe ich zu fragen gelernt: „Wie konnten so viele Deutsche bei diesem Krieg so begeistert mitmachen?“ So frage ich auch jetzt nicht: „Wie konnte Gott die Rodung im Schlossgarten zulassen?“ Ich versuche zu begreifen, warum diese sinnlose Zerstörung möglich wurde.
Ich möchte bei allem Schmerz unsere Gegner verstehen. Das Verstehen der Gegner erscheint mir als ein erster Schritt der Feindesliebe. Zugleich ist dieses Verstehen Voraussetzung für ein gelingendes Widerstehen.
Warum musste die DB AG in dieser Eile vorgehen? Warum musste unsere Regierung den Weg dazu ebnen mit dem Gestattungsvertrag und der Bereitstellung der Polizeikräfte?
Die Bahn
Die Bahn steht bei der Durchführung des Projekts Stuttgart 21 schon seit längerem mit dem Rücken an der Wand. Nicht einmal das Technikgebäude am abgerissenen Nordflügel erscheint technisch machbar, noch viel weniger die Unterführung des Nesenbachs, erst recht hat die Bahn noch nicht einmal eine Einschätzung, wie viel Grundwasser abzupumpen ist. Als Damoklesschwert über der Grundstücksspekulation und der Finanzierung schwebt nach Bau des Tiefbahnhofs die Übernahme des Kopfbahnhofs und seiner Zufahrtsgleise durch die Stuttgarter Netz AG.
All dies spricht dafür, dass die Bahn gar kein Interesse mehr am Bau von Stuttgart 21 hat. Die Rodung im Schlosspark war das einzige Signal, das für die scheinbare Bauwilligkeit noch gesetzt werden konnte. Die Bahn fühlte sich dem neoliberalen Mainstream verpflichtet, der behauptet, wenn einige wenige Wirtschaftmächtige völlig frei Hand bekommen, würde alles gut. Sie wollte Mut machen, das Projekt komme voran und die neoliberalen Heilsversprechen würden schon noch eintreffen. Aber damit ist nur das Eingeständnis hinausgeschoben worden, dass das Projekt sinnlos und nicht machbar ist.
Wenn all dies auch nur annähernd zutrifft, dann war die Rodung zugleich ein gemeiner Racheakt. Rache setzt voraus, dass Schmerz zugefügt wurde, der vergolten wird. Welchen Schmerz könnten die Parkschützer der Bahn zugefügt haben? Spätestens seit der Schlichtung sind die Unzulänglichkeiten des Projekts in einer Art und Weise aufgedeckt worden, die für die neoliberalen Planer äußerst peinlich sein mussten. Die Unzulänglichkeiten des Stresstests konnten zwar vor der Volksabstimmung unter den Tisch gekehrt werden, aber sie blieben den Projektbetreibern selbst natürlich nur allzu schmerzhaft bewusst, denn im künftigen Betrieb würden sie täglich sichtbar werden. Selten waren scheinbare Sieger derart blamiert.
Die Landesregierung
Bleibt noch die Frage nach der Landesregierung: Warum hat sie bei diesem üblen und zugleich aussichtslosen Spiel mitgemacht? Auch die Landesregierung will sich dem neoliberalen Mainstream anbiedern. Staatssekretär Murawski war in seinem Brief an die Bahn nur scheinbar an der Befriedung von Stadt und Land interessiert, es ging ihm vor allem um den Nachweis, dass nicht die Regierung das angeblich so segensreiche Projekt behindert, sondern die Bahn selbst. Beide, Bahn und Regierung, wollten sich den Neoliberalen gegenüber im besten Licht darstellen.
Konsequenzen
Wenn dies alles auch nur annähernd zutrifft, dann ist klar, was zu tun ist: Wir werden unsere Trauer nicht verstecken, sondern öffentlich zeigen und dabei die Zerstörungskraft des neoliberalen Projekts anprangern. Wir werden unsere Finger in die Wunden legen, wo immer sich die Gelegenheit bietet. Das klingt vordergründig unchristlich, aber bei uneinsichtigen Alkoholsüchtigen z. B. muss Leidensdruck aufgebaut werden, um sie zur Therapie zu bewegen. Dasselbe gilt bei Machtsüchtigen. Wir werden die Rückschrittlichkeit des Projekts, seine Nutzlosigkeit und Geldverschwendung und nicht zuletzt seine Gefährlichkeit an die Öffentlichkeit zerren, bis die Bürger der Stadt und des Landes erkennen, wie sie mit diesem Projekt betrogen werden. Stuttgart 21 wird in die Geschichte eingehen als ein warnendes Beispiel für die Gier einer Clique von Mensch und Natur verachtenden Profiteuren.
Friedrich Gehring