Liebe engagierte Bürgerinnen und Bürger unserer Stadt!
Beim Propheten Jeremia (29,7) hieß es einst: „Sucht das Beste für die Stadt“. Darum geht es jetzt.
In fünf kurzen Punkten sage ich, was mir wichtig ist.
1. Es wird uns vorgehalten, wir seien viel zu emotional.
Was sollen wir denn sonst sein? Ich habe als Kind den Krieg erlebt, sah sogar, wie Stuttgart brannte. Wenn ich heute sehe, wie ein völlig intakter Bahnhof, der als Denkmal gilt, einfach so brutal zerstört wird, dann tut’s doch weh im Magen.
Wenn die alten Platanen, Naturdenkmale, einfach so verschwinden sollen, dann zieht’s das Herz zusammen.
Wir sind keine technokratisch verbildeten Monster. Wir sind Menschen mit Herz und Seele, die sich freuen an dem Schönen, was Krieg und Nachkriegszeit übrig ließen von der Stadt.
2. Man hält uns vor, der Widerstand käme viel zu spät.
Das kommt auch daher, weil die Projektbetreiber bis heute statt Information nur billige Emotionalisierung betrieben mit Slogans wie vom „Herz Europas“, mit Videoanimationen, als ob die schöne neue Welt entstünde.
Aber die Bürgerschaft will nicht durch Werbung überredet werden. Sie hat sich langsam selber informiert.
Ein Szenario von Schrecken über Schrecken hat sich eingestellt: Die Kosten explodieren laufend, geologische Probleme sind nicht sicher abgeklärt, der Güterverkehr hat dabei keine gute Zukunft, der Anschluss an den Nahverkehr verschlechtert sich; und was ganz schlimm ist: Wer durch Stuttgart reist, sieht nichts mehr von der schönen Stadt, nur noch dunkle Wände. Das ist ein Akt von Selbstzerstörung.
3. Nun wird gesagt. das alles sei doch längst beschlossen.
Als demokratischer Bürger fragt man sich: Was sind das für Beschlüsse, wenn zum Zeitpunkt der Entscheidung die wahren Kosten gar nicht klar sind, wenn Gutachten verheimlicht werden, wenn nur die Werbung zählt, statt Hören auf
die Sach- und Fachkritik? Stimmt man in Parlamenten nur über wage Visionen ab oder erfordern neue Sachverhalte neue Überprüfung?
Das kennt doch jeder Unternehmer: Ein Projekt, das im Entstehen scheitert, kommt nicht auf den Markt.
Nach dem Grundgesetz geht „alle Staatsgewalt vom Volke aus“ (Art.20.2).
Deshalb sollen Regierende und Parlamentarier hörbereit sein auf das, was man im Volke denkt und fühlt. Wenn man uns nur die kalte Schulter zeigt, stellt man uns als Bürger vor die Wahl, entweder wütend zu werden oder resigniert zu schweigen. Ein solcher Vorgang wirkt wie Gift für demokratische Kultur.
4. Jetzt kommt vielleicht der Runde Tisch. Das wäre durchaus gut. Wenn aber eine Seite meint, es ginge nur um Nettigkeit, der Abriss unseres Bahnhofs sei doch schon vollzogen, dann wird der Ärger umso größer. Da fühlt sich keiner ernst genommen. Die Wut nimmt weiter zu.
Das wäre doch ein Kompromiss: Erhaltet uns den Bahnhof, stellt ihn wieder her, saniert ihn für die Zukunft. Hände weg vom grünen U. Dann bleiben Mittel für die Strecken, auch für die in Richtung Ulm. Die Güter gehören auf die Bahn,
nicht alles auf die Straße. Macht eure Hausaufgaben, dass wir nicht täglich hören müssen: Wir bitten um Entschuldigung. Das ist doch peinlich. Das arme Personal erlebt den ganzen Unmut der Kunden.
5. Viele von Euch wissen, dass ich mehr als vierzig Jahre in der Evangelischen Kirche engagiert und tätig war. Ich spreche nicht für die ganze Kirche. Dazu gehören auch Menschen, die anders denken als wir auf diesem Platze. Trotzdem: Zwei Aspekte aus der Bibel nenne ich.
Zum Einen: Der Staat hat vor allem die Aufgabe, für Frieden und Gerechtigkeit zu sorgen.
Zum Frieden hilft nicht Stuttgart 21. Es entzweit die Bürgerschaft.
Das ist genau wie beim Turmbau zu Babel, wo die Oberen sich einen Namen machen wollen, aufs Volk nicht hören, nur Unterwerfung fordern und Chaos produzieren.
Gerechtigkeit meint: Das Gemeinwesen soll sich konzentrieren auf kulturelle Bildung und Entwicklung aller Bürger, auf Chancengleichheit für die Armen und für jene, die von sich aus wenig Chancen haben. Wo so Gerechtigkeit
gedeiht, da wächst auch Frieden.
Zum Zweiten: Die christliche Botschaft beginnt mit dem Satz: Kehrt um, denkt um, seid kritisch zu euch selbst.
Wenn die Politiker, z. B. Herr Grube, Herr Mappus, Herr Schuster und alle, die da mit entschieden haben, sagen würden: Jawohl! Wir haben uns getäuscht, es kommt doch viel zu teuer und bringt nicht, was es soll, es ist zu grob für dieses Tal und wird nicht angenommen, dann wäre das für mich nicht peinlich und nicht feige, sondern mutig.Es gehört zur Würde von uns Menschen, dass wirumdenken und umkehren können. Ich wünsche den Politikern, dass sie in diesem Sinne Mut und Würde zeigen. Dafür würden wir sie achten. Dann wachsen wieder Friede und Gerechtigkeit. Und wir sind engagiert dabei.
Rede von Martin Klumpp, Prälat i.R. der Evangelischen Landeskirche, bei der Montagsdemo am 6. Sept. 2010