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S 21: Kein Bahnhof für die Menschen

„Das Projekt ist nicht für die Menschen (Reisenden, Pendler etc.), sondern die Menschen (Reisenden, Pendler etc.) haben sich diesem Projekt anzupassen.
Es ist ein Jahrhundertprojekt, doch es stammt aus vergangener Zeit. Es ist das Artefakt eines Denkens, das die New Economy hervorbrachte und in der Finanzkrise der Jahre 2009/10/11/12 … ihre Fortsetzung fand.“

So der Eisenbahner und Theologe Prof.  Ferdinand Rohrhirsch beim
13. Plädoyer für den Südflügel am 10. 10. 2011.

Hier gibt’s den vollständigen Text als PDF

Ein Eisenbahner spricht im Männerkreis

Wolfgang Grethen referierte am 4. Februar 2011 auf Einladung von Pfarrer Harr beim Männerkreis im evangelischen Gemeindehaus Großingersheim zum Thema Stuttgart 21.

Grethen, früher selbst Fahrdienstleiter in Stuttgart und langjähriger Mitarbeiter in der Bahnzentrale, hält einen grundlegend neuen Bahnhof in Stuttgart für nicht notwendig – ja für zukunftsfeindlich, weil gut funktionierende Infrastruktur zerstört und Optionen für die Zukunft zunichte gemacht würden. Der Bahnhof sei seinen heutigen Aufgaben in vollem Umfange gewachsen und verfüge sogar noch über freie Kapazitäten. Dies sei gegenüber früher auch auf eine erleichterte Betriebsabwicklung ohne Kurswagen und auf nur noch wenige Lokwechsel zurückzuführen. Leider sei der Hauptbahnhof mit Blick auf Stuttgart 21 baulich vernachlässigt worden und biete derzeit keinen schönen Anblick.

Zu S21 führte Grethen weiter aus, dass die geplante Infrastruktur für den künftigen Fahrplan voller Risiken sei, Pufferzeiten fehlen würden und der Bahnknoten Stuttgart zu einem Nadelöhr würde. Es würden nicht nur Folgeverspätungen in der Region sondern im gesamten Fernverkehrsnetz entstehen. Bei Störungen im S-Bahn-Tunnel könne nicht mehr auf andere Gleise ausgewichen werden, ein Notfallkonzept existiere nicht und sei auch nicht fahrbar. Dies habe die „Schlichtung“ vor kurzem verdeutlicht. Beispielhaft für das Nadelöhr Stuttgart sei die künftig unterdimensionierte Anbindung aus Richtung Norden. Schon heute müssten in der morgendlichen Spitzenstunde von Zuffenhausen nach Stuttgart 13 Züge gefahren werden. Die Fahrzeit auf dieser Strecke solle um 3 Min. gekürzt werden, Verspätungen könnten durch die kurzen Haltezeiten im Tiefbahnhof nicht mehr aufgeholt werden. Die von Schlichter Geißler ins Spiel gebrachten Nachbesserungen zu S21 seien nur von punktueller Wirkung, die systembedingten Nachteile gegenüber einem ertüchtigten Kopfbahnhof würden trotz zusätzlicher Kosten von über 500 Mio Euro damit nicht ausgeräumt.

Der entscheidende Faktor für einen funktionsfähigen Knoten Stuttgart sei jedoch die Verknüpfung von 10 Linien untereinander sowie mit dem Fernverkehr. Hierfür reichten die vorgesehenen 8 Gleise des Tiefbahnhofs nicht aus. Im Gegensatz dazu könnte der bestehende Bahnhof zu weitaus geringeren Kosten umgebaut und die Kapazität durch zusätzliche Gleise nach Cannstatt und Zuffenhausen nochmals entscheidend erhöht werden. Dies bedeute eine hohe Fahrplanstabilität und Flexibilität in der Betriebsführung. Auch die Möglichkeit der Anbindung einer Neubaustrecke nach Ulm und eine bessere Anbindung des Flughafens bliebe bestehen. Kurzfristig sei auch eine Expreß-S-Bahn im 30-Min-Takt über die Gäubahn realisierbar.

Für Experimente sei der Kopfbahnhof zu wertvoll , der Ruhm – die größte Baustelle Europas zu werden – nicht erstrebenswert.

„Suchet der Stadt Bestes“ – Fritz Röhm

Liebe Menschen, die sich für den Erhalt des Kopfbahnhofs einsetzen!

„Suchet der Stadt Bestes!“
Dieser Ruf des Propheten Jeremia müsste Maßstab sein für eine Partei, die sich christlich nennt, die nicht verstehen will, warum wir hier sind und protestieren, und für Volksvertreter, die sich dem Wohle des Volkes verpflichten.

Das Tiefbahnhofprojekt, die Konzeption, die Risiken, die Heimlichtuerei:
Das ist nicht das Beste für die Stadt.

Hört auf das Volk! Sucht den Dialog! Geht endlich ein auf die Warnungen vieler Experten!

Ein Wort zu mir:
Ich bin Industriekaufmann. In der Evangelischen Kirche habe ich mich ehrenamtlich in vielen Bereichen engagiert. Ich spreche jedoch nicht für die Evangelische Landeskirche und nicht für die Evangelische Vereinigung Offene Kirche, sondern ich sage meine Überzeugung.

Wovon ich überzeugt bin.

Ich bin überzeugt:
Mit dem Bahnhofsprojekt Stuttgart21 droht eine massive Verschlechterung des Bahnbetriebs. Die Risiken – die finanziellen, technischen, konzeptionellen – sind so gravierend. Es ist unverantwortlich, sie einfach beiseite zu wischen.

Ich bin überzeugt:
Das Projekt Stuttgart21 führt zu einer beispiellosen Steuergeldverschwendung. Ich bin entsetzt, dass die Verantwortlichen die Kosten schon nicht mehr rechtfertigen, sondern den Neid im Land schüren.
Das Geld fließe in andere Landesteile, wenn es nicht für Stuttgart 21 ausgegeben werde – so Ministerin Gönner im SWR. Stuttgart21 sei ein Geschenk für Stuttgart, es werde aus anderen Quellen finanziert – so Bahnchef Grube. Das sind die letzten und hilflosesten Argumente, egoistisch und zynisch. Von Solidarität für das Gemeinwohl keine Spur. Wir wollen kein vergiftetes Geschenk, wir wollen den versprochenen Dialog, Herr Grube!
Von wegen Geschenk: Das Umgekehrte ist richtig. Stuttgart machte der Bahn ein Geschenk, kaufte der Bahn schon 2002 das Gleisfeld ab und verzichtete auf die Verzinsung dieser Vorauszahlung – zusammen rund 750 Millionen Euro. Und das alles nur, um das unsichere Bahnprojekt wieder auf die Schiene zu setzen. Immobilienprojekt nennt man das.

Ich bin überzeugt:
Der Widerstand kommt nicht zu spät. Von Anfang an wurde Widerspruch erhoben, aber nie aufgegriffen. Friederike Groß traf mit ihrer Karikatur in der Stuttgarter Zeitung schon 1996 den Nagel auf den Kopf, als sie das S21-Planungskomitee kommentierte mit: Mauschel, Tuschel, Zischel.
So erzeugt man Widerstand.

MAUSCHEL – TUSCHEL – ZISCHEL

Wie schön, ein Visionär zu sein,
im ruhigen, stillen Kämmerlein.
Doch könnt es nützen manchem Plan,
ließ man auch mal die Bürger ran.

Friederike Groß – Stuttgarter Zeitung, 16.03.1996

Wogegen ich Einspruch erhebe:
Ich erhebe Einspruch –
gegen die Unterstellung, der Widerstand sei ein Ergebnis des Zeitgeistes. Zitat Stuttgarter Zeitung vom 14. September, Reportage von Michael Ohnewald: „Verändert hat sich der Zeitgeist. Vorbei sind die Zeiten des Zutrauens. Dafürsein ist nicht mehr so sexy.“ Das verwechselt Ursache und Wirkung. Ich lasse meine Erkenntnisse und meine Überzeugung von Stuttgart21 nicht auf den Zeitgeist reduzieren.

Ich erhebe Einspruch –
gegen das Schüren von Angst. Noch einmal Zitat Ohnewald, er meint: „Die Umkehr von Stuttgart21 hätte weitreichende Folgen. Mit dem Ende des Verkehrsprojektes würde es auf Jahre keine Entwicklung mehr auf der Stuttgarter Schiene geben, weil es keinen bewilligten Plan B gibt.“ Zitat Ende. Nein, Herr Ohnewald, und Nein, Stuttgarter Zeitung! Ein intelligenter Kopfbahnhof ist die Zukunft. Die Alternative liegt vor. Die Alternative:
Es ist unentschuldbar, dass die Alternative K21 nicht aufgegriffen wurde. Angesichts der Dimension des Megaprojektes und der offenen Fragen ist es sträflich, diese Alternative nicht ernsthaft zu prüfen.

Ich bin überzeugt:
Das Konzept des Stuttgarter Kopfbahnhofs hat einen unschlagbaren Vorteil und Stuttgart21 hat den entscheidenden Nachteil, nämlich beim Integrierten Taktfahrplan ITF. Jedem geht ein Licht auf, wenn er sich den Film darüber ansieht auf der Internetseite Kopfbahnhof-21. Es ist einfach toll, wie am Stuttgarter Hauptbahnhof die Züge aus ganz Baden-Württemberg hinein und heraus fahren, über- und untereinander und dann Anschluss haben über 16 Gleise hinweg – und das im Halbstundentakt. (www.kopfbahnhof-21.de / Ja zum Kopfbahnhof )
Das dreistöckige Tunnelgebirge mit kreuzungsfreiem Zulauf auf 16 Gleise ist eine Meisterleistung der Bahningenieure, rund 100 Jahre alt, heute unter Denkmalschutz und die Voraussetzung für einen integrierten Taktfahrplan im Regionalbahnknoten Stuttgart. Mit dem Durchgangsbahnhof S21 ist dies nicht möglich. Das heißt für mich: Selbst wenn der Bahnhof und der halbe Schlossgarten abgerissen wären: Solange dieses Gleisvorfeld steht, ist das Verkehrsprojekt umkehrbar!

Eine andere wesentliche Kritik an S21.
Neue EU Richtlinien – seit 2009 auch deutsches Gesetz – verlangen Verbesserungen an Bahnhöfen für Menschen mit eingeschränkter Mobilität, für Alte und Behinderte. Dies ist eine zwingende Vorschrift.
Im Gegensatz dazu bringt der Tiefbahnhof S21 Verschlechterungen und damit eine entscheidende gesetzeswidrige Benachteiligung dieser Menschen. Zur Überwindung der verschiedenen Ebenen brauchen Viele von denen zusätzlich fremde Hilfe und mehr Zeit. Allein durch die Engpässe an Aufzügen sind dadurch viele Anschlüsse gefährdet.

„Es gibt wichtigeres im Leben, als ständig dessen Geschwindigkeit zu erhöhen.“ (Mahatma Gandhi.)
Ja, ich will besser reisen, nicht nur schneller fahren.

Die Alternativlosigkeit von S21 zeigt sich auch am Bürgerentscheid, wenn er kommt.
Die Fragestellung: „Stuttgart 21 – Ja oder Nein“ ist eine k-o-Frage, keine weiterführende Alternative.
Die Frage muss lauten: „Stuttgart21 oder Kopfbahnhof21?“ Beide Projekte müssen landesweit publiziert werden. Die einseitige Werbekampagne der Landesregierung für S21 muss vor dem Bürgerentscheid gestoppt werden.

Was ich will:
Ja, ich will mich nicht wie ein Maulwurf aus der Stadt schleichen. Ich will oben bleiben, wenn ich abreise. Ich will ankommen in der Stadt – bei den Hügeln und beim Grünen U. Ich will sehen, ob ich die Sonnenbrille oder den Regenschirm brauche für den Heimweg.

Ich will, dass Kritik am Verkehrskonzept nicht mit Werbung für die Ökologische Stadt übergangen wird. Die Architektur der Bibliothek21 – im Volksmund „Stammheim2“ oder „Urnenwand“ zeigt, was uns erwartet: Naturferner, phantasieloser und trostloser geht es kaum. Stuttgart zwischen Wald und Reben – das war wohl einmal.

Diese sogenannte Stadtentwicklung war von Anfang die Idee, die zur Parole führte: Bahnhof unter die Erde – Augen zu und durch! Jede Frage und jede Kritik stößt deshalb auf taube Ohren.

Ich hätte nicht gedacht, das ich nach der Anti-Atomkampagne, nach Mutlangen und nach der Menschenkette Stuttgart – Ulm mich noch einmal gezwungen sehe, auf die Straße zu gehen. Ich will, dass man die Kritik der Fachleute ernst nimmt und sich damit auseinandersetzt. Schluss mit Parolen. Experten endlich an einen Tisch!

Über das Wochenende hat sich etwas getan. Oberbürgermeister Schuster reicht die Hand und bittet um ein Gespräch. Bahnchef Grube bittet zu einem offenen Gespräch – und zwar im Namen aller Gesprächspartner. Dazu gehört meines Wissens auch die Landesregierung. Aber Ministerpräsident Mappus macht Wahlkampf und ergreift den Fehdehandschuh. Doch: Es bröckelt in der CDU: Die ersten öffentlichen Forderungen nach Baustopp von CDU-Mitgliedern wurden laut.

Das Erstaunlichste ist die Kehrtwendung von Bahnchef Grube, wenn er sagt: Die Wahrheit muss endlich auf den Tisch. Damit bestätigen Sie uns, Herr Grube: Die Wahrheit ist bisher nicht auf dem Tisch. Damit erkennen Sie endlich, warum wir protestieren.

Lasst uns den Stresstest mit diesen Gesprächsangeboten machen.

„Kirche ist nur Kirche, wenn sie für andere da ist.“
Als Protestant lernte ich dies von dem Theologen Dietrich Bonhoeffer, auch als politische Konsequenz.
Deshalb sage ich:
Kirche muss sich einmischen,
– wenn wir bei Stuttgart21 mit Parolen und mit Propaganda abgespeist werden,
– wenn nur Halbwahrheiten auf den Tisch kommen und vieles gar nicht,
– wenn der Frieden in der Stadt auf dem Spiel steht,
– wenn mit dem Totschlagsargument der Unumkehrbarkeit jeder Dialog getötet wird.

Bei veränderten Voraussetzungen werden viele politische Entscheidungen überprüft und korrigiert, wie der Atomausstieg und in Stuttgart die Cross-boarder-Leasing-Geschäfte.

Die Bischöfe der evangelischen und der katholischen Kirche haben am 6. September eine Erklärung abgegeben. Sie äußern große Sorge über den Riss in der Bürgerschaft, sie sehen die Menschenwürde bedroht durch die Art des Umgangs von Gegnern und Befürwortern miteinander und nehmen Partei für eine Art der Auseinandersetzung, die dem sozialen Frieden dient. Sie respektieren die Gründe der Protestierenden, aber ohne einseitig Partei zu ergreifen.

Der Stadtdekan und viele Pfarrerinnen und Pfarrer der Evangelischen Kirche in Stuttgart haben am 15. September gefordert, eine solche Gesprächskultur wieder herzustellen, die die Würde von Andersdenkenden wahrt.

Beide Erklärungen klammern den Grund der Auseinandersetzungen aus. Die Bischöfe respektieren den Grund der Protestierenden, benennen ihn aber nicht und ziehen auch keine Konsequenz.

Ich frage meine Kirche, warum sie sich nur allgemein um den Stil der Auseinandersetzung sorgt, warum sie sich nicht getraut, auch die Gründe des Konflikts konkret beim Namen zu nennen, nämlich die Risiken des Projekts, die daraus entstandenen Ängste und den fehlenden echten Dialog. Warum fehlt in den Erklärungen der Kirche der Satz: Die Wahrheit muss endlich auf den Tisch!

Diese Partei zu ergreifen, in den Riss zu treten, ist Sache der Kirche

Ich frage meine Kirche, warum sie nicht unmissverständlich sagt, dass ein Dialog am runden Tisch nur ein unwürdiges Scheinangebot ist, wenn gleichzeitig Abrissbagger und Baumsägen vollendete Tatsachen schaffen. Es dient nicht dem Frieden in der Stadt und in der Gesellschaft, wenn die Kirche ihre Zurückhaltung zu spät überwindet. Wenn Bahnchef Grube ernst meint, dass die Wahrheit auf den Tisch muss, dann sagte er mehr, als die Kirche bisher sagte.

Das erste Plakat am Bauzaun lautete: Hört auf euer Gewissen. Stuttgart21 droht, der größte Irrtum in der Stuttgarter Geschichte zu werden. Neue Wege suchen ist nicht ehrenrührig. Darum: Kehret um!

Wer umkehrt, zeigt Einsicht und hört auf sein Herz. Nicht auf das neue Herz Europas. Sondern auf unser mutiges Herz. Dazu einige Gedanken des evangelischen Theologen Fulbert Steffensky *)

Das mutige Herz
Zwischen Ohnmacht und Mut!
Die Ohnmacht hat die besseren Argumente.
Zum Mut und zur Hoffnung braucht es die größere Liebe.
Das gebildete Herz schweigt nicht, wenn es sieht, wie die Welt verwüstet wird.
Hoffnung ist eine Qualität des Handelns und des Herzens.
Soweit Steffensky.

Dem Mut des Herzens füge ich hinzu: Die Stille. Mit dem Schwabenstreich dichtete Ludwig Uhland eine martialische, gewaltsame schwäbische Kunde. Unser Schwabenstreich ist laut, aber gewaltfrei. Er bringt uns in Aktion.

Aber wir brauchen auch die Stille, die Konzentration. Denn in der Stille liegt die Kraft. Kraft für das mutige Herz. – Deshalb bitte ich Sie jetzt um 1 Minute der Stille, der Konzentration und der Besinnung auf unser mutiges Herz, für unseren friedlichen Protest, für kreative Ideen, ohne Gewalt – und dass wir die Würde aller Beteiligten achten.

(Stille)

Oben bleiben!

*) Publik-Forum 15/2010, Seite 52-53

Fritz Röhm, Ehrenvorsitzender der Offenen Kirche,
Evangelische kirchenpolitische Gruppierung in Württemberg,
auf der Montagsdemo am 20.09.2010

Baustellen: Bahnhof und SPD – Siegfried Bassler

Mitbürger, Freunde, Stuttgarter, hört mich an!

Die Front unserer Widersacher wankt, das Kartell der Befürworter bröckelt, das Imperium der Macher zeigt Risse. Am letzten Mittwoch hat es noch einmal seine hässliche Fratze gezeigt, ungeschminkt, und den Abriss des Nordflügels dekretiert.

„Nieder mit euch in den Staub!“ lautete die Botschaft an uns. Euch braucht man nicht zu beachten, euch muss man nicht respektieren, euch darf man sogar demütigen!

Doch am Freitag war der Schock überwunden und 50.000 selbstbewusste Bürger haben den Landtag eingekesselt, Bannmeile hin, Bannmeile her. Die unheilige Dreifaltigkeit Mappus, Schuster, Grube hat ihre gläubigen Anhänger verloren. Das Imperium wankt. Mappus muss um seine Mehrheit bangen. Die erste Wahl, die er als Ministerpräsident zu bestehen hat, droht er zu verlieren. Darum muss er nun einlenken.

Schuster, der Wortlose, Hilflose, Orientierungslose, hat sich nun auch noch als ganz und gar stillos erwiesen. In der selben Stunde, da die Bagger den Nordflügel einzureißen begannen, hat er mit der hiesigen Schicki-Micki-Szene die Eröffnung des Weindorfs gefeiert. Mehr Provokation, mehr Stillosigkeit, mehr Zynismus geht nicht. Man könnte sich hier in der Tat an spätrömische Dekadenz erinnert fühlen.
Aber wir haben dem Schuster die Suppe gründlich versalzen. Schaut euch das gespäßige Schauspiel im Internet an, da habt ihr was zu lachen. Wie soll dieser sprachlose Mensch, der in der Stunde der Krise vollkommen versagt hat, diese Stadt noch zwei Jahre lang führen? Das geht doch nicht! Jetzt ist er abgereist nach Chile wie Honnecker seinerzeit, und der ist ja nicht wiedergekommen.

Der Herr Grube gerät durch die unaufhaltsam steigenden Kosten und das miserable Image der Firma, die er leitet, unserer Bundesbahn, immer mehr unter Druck. Jetzt sagt er: „Wir wollen mit diesen Gesprächen ein Signal der Vernunft an die Bevölkerung geben.“ Uns soll es recht sein, wenn er nun auch Vernunft annimmt.
Ob er es ehrlich meint, wird man ja sehen. Ist es nicht erschreckend, dass man von der Gegenseite nichts anderes erwartet als Trickserei und Täuschung? Es könnte ja sein, dass er die Gespräche bis zum Jahresende hinzieht und dann platzen lässt in der Hoffnung, unser Widerstand werde erlahmen, wenn es erst einmal kalt und dunkel wird.
Vorsicht ist geboten, denn das Imperium wankt. Die Ruine des Nordflügels mahnt.

Jetzt muss ich über eine andere Baustelle sprechen, die Stuttgarter SPD.

Seit 51 Jahren bin ich Mitglied dieser Partei und bleibe es! Sonst hätte ich nicht die Freiheit, sie heute harsch zu kritisieren.1959 eingetreten, um gegen Adenauers rheinischen Klüngel und für Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität, die Grundwerte der SPD zu kämpfen. Dann 12 Jahre im Stuttgarter Gemeinderat, vier Jahre davon (1972 – 1976) Fraktionsvorsitzender.

Als ich von 1996-1999 noch einmal in den Gemeinderat kam, vom 60. auf den 18. Platz vorgewählt, fing das mit Stuttgart 21, dem Monsterprojekt im Herzen Europas, gerade an.

Ich gestehe, dass auch ich die Grausamkeiten, die durch dieses babylonische Vorhaben verursacht werden, nicht gleich begriffen habe. Die Befürworter, der Herr Heimerl, Professor an der hiesigen Uni, und der Herr Kußmaul, auch Professor und Fraktionsführer der SPD, haben uns die Sache dadurch schmackhaft zu machen versucht, dass sie behaupteten, man sei ein paar Minuten schneller in Bratislava, wenn man die unverzichtbare Magistrale von Paris nach Budapest ausbaue. Auf dieses sensationelle Angebot wollten natürlich die meisten Gemeinderäte Stuttgarts, des Partners der Welt, nicht verzichten.

In der Gemeinderats-Debatte nach der Entscheidung der Jury im Herbst 1997 habe ich zwar meine Skepsis gegen das Projekt zum Ausdruck gebracht, aber dann doch mit der Fraktion gestimmt. Das war ein Fehler, das war zuviel Rücksicht auf die Partei, das habe ich bald bereut.

Dass durch den Plan von Ingenhoven, diesem arroganten Architekten, unser schöner Hauptbahnhof kaputt gemacht würde, haben damals nicht einmal die Architektur-Professoren in der Jury gemerkt. Man hat die Katarakte in der Planung elegant umschifft, d.h. die unvermeidlichen Scheußlichkeiten einfach totgeschwiegen.

Es ist keine Schwäche, wenn man seine Meinung ändert, weil man dazugelernt hat, vielmehr ein Zeichen von Lernfähigkeit und Stärke. Immer mehr Architekten tun es gerade, wie der Herr Lederer und zuletzt Frei Otto.
Nichts dazugelernt hat leider unser verehrter Alt-Oberbürgermeister Manfred Rommel, der sich jetzt vor den Karren der Stuttgart 21-Befürworter spannen lässt. Nicht genug damit, dass er uns seinerzeit den Herrn Schuster als besten aller Kandidaten empfohlen hat, bezeichnet er jetzt das Monster-Projekt als „unverzichtbar“.
Ich habe vor ein paar Jahren ein Büchlein mit Schüttelreimen veröffentlicht, dass ich ihm, dem OB gewidmet habe. Es trägt den Titel: „Der macht hier manchmal Schwaben-Witze, dass ich aus allen Waben schwitze.“ Subsummieren wir sein Eintreten für S 21 unter die Rubrik „Schwabenwitze“ und erklären das Thema im Hinblick auf sein ehrwürdiges Alter für erledigt.

Ich bin vor 77 Jahren in Stuttgart geboren und hier aufgewachsen, ich habe als junger Mensch die furchtbaren Fliegerangriffe erlebt, in denen all die schönen Gebäude des alten Stuttgart, die in Jahrhunderten entstanden waren, zerstört wurden Deshalb möchte ich heute helfen zu verhindern, dass die wenigen Zeugen der Vergangenheit, die den Krieg überstanden haben, jetzt einer geschichtsvergessenen Planung geopfert werden.

Es ist spät, gewiss, aber noch nicht zu spät, es ist fünf vor zwölf, aber die Geisterstunde hat noch nicht geschlagen. Ich weiß, dass viele SPD-Mitglieder mit der sturen Festlegung der Fraktion auf das Koste-es-was-es-wolle-Projekt nicht einverstanden sind, vielen begegne ich seit Wochen bei jeder Demonstration, es gibt eine schweigende Mehrheit der Genossen, denen es geht wie mir, sie genieren sich im Augenblick, bei diesem Haufen zu sein. Und auch zwei unserer Landtagskandidaten, der Dejan Perc und der Matthias Tröndle fordern Baustopp und Bürgerbefragung.
Wenn der Genosse Reißig, Kreisvorsitzender der SPD, von Hermann Scheer Solidarität einfordert, darf man schon fragen: Solidarität, wofür eigentlich?
Solidarität für ein Projekt, das von der Mehrheit der Bevölkerung abgelehnt wird, weil es in seiner Großspurigkeit ganz und gar nicht schwäbischer Mentalität entspricht?
Solidarität für ein Projekt, das den Befürwortern keine Bürgerbeteiligung wert war?
Vor drei Jahren habe ich dem Fraktionsvorsitzenden der SPD dringend geraten, ein Bürgerbegehren zu beantragen: Antwort: Das sei juristisch gar nicht möglich. Man wollte es nicht einmal versuchen. Formaljuristische Beschwichtigungen hat man über den politischem Willen gestellt.

Solidarität für ein Projekt, von dem die Macher zurecht befürchten, dass es bei einem Bürgerentscheid mit großer Mehrheit abgelehnt würde? Solidarität ist einer der ehernen Werte der Sozialdemokratie von Anfang an. Solidarität kommt aus dem Mitgefühl mit den Schwachen und Benachteiligten. Der Genosse Reißig versteht unter Solidarität aber nichts anderes als Fraktionszwang: Die da oben wissen, was richtig ist, und wir Zurückgebliebenen da unten haben ihnen gefälligst zu folgen.
Leider geht es gerade so weiter. Die Genossen Schmiedel und Drexler von der Landtagsfraktion versuchen jetzt die parteiinternen Gegner von S21, den Hermann Scheer, den Peter Conradi und alle, die sich aus der Deckung wagen, als „Einzelmeinungen“ abzuqualifizieren. Ich befürchte, dass die Befürworter der SPD nach der nächsten Gemeinderatswahl eine Einzelmeinung im Stuttgarter Rathaus bilden werden, wenn nur noch ein einziger übriggeblieben ist.

Ein Demonstrant, Mitglied der SPD, hat mir dieser Tage einen Zettel zugesteckt mit einem schönen Spruch von Egon Bahr, dem Weggenossen Willi Brandts: „Wer alles für richtig erklärt, was die eigene Partei macht, ist entweder strohdumm oder total verlogen.“

Ich habe die SPD-Mitglieder, die gegen S 21 sind, gebeten, heute etwas Rotes zu tragen, damit man sieht, wie viele es sind. Außerdem liegen an der Mahnwache Listen für SPD-Mitglieder auf, in die sie sich als Gegner des Projekts eintragen können.

Die Quittung für ihre Sturheit und Bürgerferne haben CDU und SPD bei der letzten Gemeinderatswahl erhalten. Leider nicht die FDP. Es werden aber noch mehr Quittungen ausgestellt werden, denn es kommen noch mehr Wahlen, die nächste am 27.März nächstes Jahr zum Landtag.

Mit dem Abbruch hat das Imperium ja schon angefangen, wenn nun noch das große Verkehrschaos dazukommt, wenn Hunderte von Lastwagen durch die Innenstadt fahren, wenn die Stadtbahnhaltestelle Staatsgalerie platt gemacht wird, wenn die uralten Bäume in den Anlagen umgehauen werden, dann möchte ich nicht Kandidat einer Partei sein, der diese Barbarei begründen und verteidigen muss. Es ist ein Szenario des Schreckens, aber man kann nicht nur zu Tode erschrecken, man kann auch angesichts des Schreckens zum Nachdenken, zum Umdenken kommen, Ich hoffe, dass die Genossen und Genossinnen der SPD-Gemeinderatsfraktion einen heilsamen Schreck erleben und einsehen, dass der Preis für diesen Bahn-Größen-Wahn in jeder Hinsicht zu hoch ist: für die Stadt, für die Bürger und erst recht für die SPD.

Als ich Fraktionsvorsitzender war, hatte die SPD im Stuttgarter Gemeinderat 27 Sitze von 60, heute sind es 10. Es wird langsam Zeit für meine Genossen, sich ein anderes Volk zu wählen. Ich hoffe, dass ich am 28.März nächsten Jahres nicht in der Zeitung lesen muss: „SPD in Stuttgart knapp über 5% “
Damit das nicht passiert, schicke ich einen Stoßseufzer zum Himmel hinauf:
„O Herr, schmeiß Hirn ra, ond an bsonders großa Batza ens Fraktionszemmer von der SPD em Stuagerter Rothaus.“

Lasst mich zum Schluss noch etwas Versöhnliches, Hoffnungsvolles sagen:
Ich bin 1933 in dieser Stadt geboren und habe den größten Teil meiner Lebenszeit hier zugebracht, aber so einen schönen Sommer habe ich, trotz des vielen Regens, in 77 Jahren  nicht erlebt. Es ist doch so etwas wie ein demokratisches Sommermärchen, dessen Zeugen wir gerade sind.
Ich habe unsere Stadt und die Mehrzahl ihrer Bürger immer für ziemlich spießig, muffig und provinziell gehalten und war bei politischen Entscheidungen meistens auf Seiten der Minderheit, bei denen, die sich zwar im Recht sahen, aber  trotzdem verloren haben.
Und nun ist auf einmal so etwas wie ein Wunder geschehen.So viele Menschen, Frauen und Männer, Junge und Alte, Einheimische und Reingeschmeckte, Feuerbacher, Heslacher und Degerlocher sind mit einem Mal aus ihrer politischen Unmündigkeit herausgetreten und haben ein großes gemeinsames Ziel gefunden: die Erhaltung unseres schönen Bahnhofs, eines Stücks des guten alten Stuttgart. Was die Politiker jeder Couleur so oft und so gerne fordern, man müsse sich auf Werte besinnen und sie hochhalten, das ist hier geschehen.

Unser Bahnhof steht für einen solchen Wert, gut und schön, bewährt und praktisch, ein Stück Heimat, ein Stück von uns, das wir uns nicht nehmen lassen.  Wir sind die echten Konservativen, die Wert-Konservativen.
Ich gehe jedes Mal beseligt von der Demonstration nach Hause, weil ich es nie für mögliche gehalten hätte, dass meine Landsleute zu einem solchen Fest des Widerstands  fähig wären und das zweimal in der Woche.
Unsere Widerstandsfeste sind Signale, die man in der ganzen Bundesrepublik hört und sieht und wie auch immer es ausgeht, sie werden eine bleibende, beispielhafte Wirkung haben. Ja wir können wie Goethe nach der Kanonade von Malmy, das war 1792, sagen, rufen, schreien:  „Von hier und heute geht eine neue Epoche der demokratischen Geschichte aus und ihr könnt sagen, dass ihr dabei gewesen seid.“

Rede von Siegfried Bassler, Pfarrer i.R., am 30.08.2010 bei der Montagsdemo

Kirche kann nicht unparteiisch sein

Darf Kirche in der Auseinandersetzung um das Bahnprojekt Stuttgart 21 Partei ergreifen? Muss sie nicht für alle da sein? So fragen immer wieder Christen in Leserbriefen oder Gesprächen. Dahinter verbergen sich zwei Missverständnisse: das eine, Gott liebe doch alle Menschen, dann dürfe man doch auch als Mensch nicht einseitig Partei ergreifen. Das andere, es gebe überhaupt die Möglichkeit, unparteiisch zu sein.

Für das zweitgenannte Missverständnis gebrauche ich gerne das Bild: Ich sehe auf dem Schulhof zwei Jungs raufen: einen muskulösen 8.-Klässler mit einem mageren 2.-Klässler. Wollte ich mich in dieser Situation neutral verhalten und in der Zuschauerrolle verharren – für wen würde ich damit faktisch Partei ergreifen? Eben: Durch meine neutrale Haltung würde ich faktisch den Starken unterstützen. Das gilt für alle auch gesellschaftlichen Situationen: Sobald ich mich neutral verhalte, unterstütze ich den Stärkeren, ob ich will oder nicht.

Und was ist mit Gott, der doch alle Menschen liebt? Durch unsere Bibel ziehen sich wie zwei rote Fäden zwei Überzeugungen: 1. Gott liebt alle Menschen, 2. Gottes besonderer Schutz gilt den Schwachen. Wir nennen das die „vorrangige Option für die Schwachen“. Es gibt keinen alttestamentlichen Propheten, der sich nicht an diesem Maßstab orientiert hätte. Kern christlicher Ethik ist: Wir stehen grundsätzlich auf der Seite der Schwachen. Dass Gott alle Menschen liebt, bedeutet für uns: Auch den Starken begegnen wir mit Liebe und achten deren Würde. Aber wir ergreifen Partei für die, die sich unter ihnen beugen müssen.

Was heißt das für die augenblicklichen Auseinandersetzungen um das Bahnhofsprojekt Stuttgart 21? Wo sind da die Starken, wo die Schwachen?

Stuttgart 21 wurde auf den Weg gebracht und wird betrieben von einem begrenzten Kreis von Wirtschaftsakteuren auf der einen Seite und Inhabern politischer Ämter auf der anderen. Diese Allianz ist nicht typisch für Stuttgart 21, aber sie ist auch bei diesem Projekt die entscheidende Größe. Das ist dann kein wirkliches Problem, wenn diese Allianz sich rückbindet an die Interessen der Bevölkerung, in deren Namen sie zu handeln vorgibt.

Genau diese Rückbindung muss auch Kirche fordern. Mit einer neutralen Haltung würde sie den Mächtigen in Staat und Wirtschaft das Feld überlassen. Die „Schwachen“ sind in dieser Situation die Wählerinnen und Wähler, die zwar vor langer Zeit ihre Stimmen abgegeben haben, aber nun zusehen müssen, dass mit ihren Stimmen gar nicht in ihrem Interesse gehandelt wird.

Das Argument, das sei ja gar nicht erwiesen, dass hier nicht im Interesse der Wähler gehandelt werde, ist nur berechtigt, wenn man mit ihm die Forderung verbindet, dass geklärt wird, ob hier der Wille der Wähler geschehe.

Kirche darf deshalb nicht nur als Moderator auftreten, der dafür sorgt, dass die Akteure friedlich miteinander umgehen. Sondern Kirche muss deutlich machen, wo sie steht: auf der Seite derer, die nicht die Macht haben, mit einem Federstrich Fakten zu schaffen; die nicht die Macht haben, ihre einmal gefällten Beschlüsse mit dem Gewaltmonopol des Staates umsetzen zu lassen; die nicht die Macht haben, diejenigen in ihrem Lauf aufzuhalten, die mit formalem Recht im Hintergrund meinen, keine Rechenschaft ablegen zu müssen über ihr tun.

Kirche – wenn sie Kirche Christi sein will – muss erkennbar parteiisch sein für die Schwachen.

Martin Poguntke, 31.10.2010

Kirche muss für Baustopp sein

Die Kirche müsste meines Erachtens sich dringend für einen sofortigen Baustopp des Bahnprojekts Stuttgart 21 einsetzen. Wenn ihr Angebot, als Vermittler zum Frieden beitragen zu wollen, Sinn machen soll, darf sie nicht zusehen, wie unumkehrbare Fakten geschaffen werden, noch bevor entscheidende Fragen geklärt sind.

Was ich an kirchlichen Äußerungen lese, ist durchweg das Bemühen, sich heraushalten zu dürfen oder gar zu müssen: Es sei durch S21 nicht die Menschenwürde bedroht. Es stünden lediglich verkehrswissenschaftliche oder geologische Fragen zur Diskussion, zu denen Kirche nichts beizutragen habe etc.

Das übersieht, dass jede dieser Fragen auch eine ethische Dimension hat. Wenn durch einen neuen Bahnhof der Bahnverkehr nicht verbessert, sondern behindert wird, ist dies eine wichtige schöpfungstheologische Frage, weil wir zur Erhaltung unserer Schöpfung unbedingt einen immer besseren öffentlichen Verkehr brauchen. Wenn durch einen tief ins Grundwasser gesetzten Bahnhof den Bäumen des Stadtparks das Wasser entzogen wird, ist dies nicht nur ein schöpfungstheologisches Thema, sondern auch ein sozialethisches, weil die Frage der Lebensqualität damit angesprochen ist. Wenn Milliarden eingesetzt werden für ein Projekt, das so wie es aussieht viel mehr Schaden als Nutzen bringt, dann stehen Fragen der Gerechtigkeit im Raum, weil es wahrhaftig Bereiche gibt, in denen Milliarden dringend nutzbringend eingesetzt werden müssten.

Das Argument, man wisse doch aber noch gar nicht, ob all diese Befürchtungen zutreffen, ist das entscheidende Argument, warum Kirche sich nicht heraus halten darf. Denn sie muss gerade deshalb (weil man das noch nicht weiß) auf Klärung dieser Fragen drängen. Und zwar bevor wirklich unumkehrbare Fakten geschaffen sind. Kirche muss sich deshalb vor allem für einen sofortigen und vollständigen Baustopp aussprechen – damit die Fragen nicht erst geklärt werden, wenn unwiederbringlich Natur und Stadt beschädigt sind.

Martin Poguntke, 31.10.2010

„Sucht das Beste für die Stadt“ – Martin Klumpp

Liebe engagierte Bürgerinnen und Bürger unserer Stadt!

Beim Propheten Jeremia (29,7) hieß es einst: „Sucht das Beste für die Stadt“. Darum geht es jetzt.
In fünf kurzen Punkten sage ich, was mir wichtig ist.

1.   Es wird uns vorgehalten, wir seien viel zu emotional.
Was sollen wir denn sonst sein? Ich habe als Kind den Krieg erlebt, sah sogar, wie Stuttgart brannte. Wenn ich heute sehe, wie ein völlig intakter Bahnhof, der als Denkmal gilt, einfach so brutal zerstört wird, dann tut’s doch weh im Magen.
Wenn die alten Platanen, Naturdenkmale, einfach so verschwinden sollen, dann zieht’s das Herz zusammen.
Wir sind keine technokratisch verbildeten Monster. Wir sind Menschen mit Herz und Seele, die sich freuen an dem Schönen, was Krieg und Nachkriegszeit übrig ließen von der Stadt.

2.   Man hält uns vor, der Widerstand käme viel zu spät.
Das kommt auch daher, weil die Projektbetreiber bis heute statt Information nur billige Emotionalisierung betrieben mit Slogans wie vom „Herz Europas“, mit Videoanimationen, als ob die schöne neue Welt entstünde.
Aber die Bürgerschaft will nicht durch Werbung überredet werden. Sie hat sich langsam selber informiert.
Ein Szenario von Schrecken über Schrecken hat sich eingestellt: Die Kosten explodieren laufend, geologische Probleme sind nicht sicher abgeklärt, der Güterverkehr hat dabei keine gute Zukunft, der Anschluss an den Nahverkehr verschlechtert sich; und was ganz schlimm ist: Wer durch Stuttgart reist, sieht nichts mehr von der schönen Stadt, nur noch dunkle Wände. Das ist ein Akt von Selbstzerstörung.

3.   Nun wird gesagt. das alles sei doch längst beschlossen.
Als demokratischer Bürger fragt man sich: Was sind das für Beschlüsse, wenn zum Zeitpunkt der Entscheidung die wahren Kosten gar nicht klar sind, wenn Gutachten verheimlicht werden, wenn nur die Werbung zählt, statt Hören auf
die Sach- und Fachkritik? Stimmt man in Parlamenten nur über wage Visionen ab oder erfordern neue Sachverhalte neue Überprüfung?
Das kennt doch jeder Unternehmer: Ein Projekt, das im Entstehen scheitert, kommt nicht auf den Markt.
Nach dem Grundgesetz geht „alle Staatsgewalt vom Volke aus“ (Art.20.2).
Deshalb sollen Regierende und Parlamentarier hörbereit sein auf das, was man im Volke denkt und fühlt.  Wenn man uns nur die kalte Schulter zeigt, stellt man uns als Bürger vor die Wahl, entweder wütend zu werden oder resigniert zu schweigen. Ein solcher Vorgang wirkt wie Gift für demokratische Kultur.

4. Jetzt kommt vielleicht der Runde Tisch. Das wäre durchaus gut. Wenn aber eine Seite meint, es ginge nur um Nettigkeit, der Abriss unseres Bahnhofs sei doch schon vollzogen, dann wird der Ärger umso größer. Da fühlt sich keiner ernst genommen. Die Wut nimmt weiter zu.
Das wäre doch ein Kompromiss: Erhaltet uns den Bahnhof, stellt ihn wieder her, saniert ihn für die Zukunft. Hände weg vom grünen U. Dann bleiben Mittel für die Strecken, auch für die in Richtung Ulm. Die Güter gehören auf die Bahn,
nicht alles auf die Straße. Macht eure Hausaufgaben, dass wir nicht täglich hören müssen: Wir bitten um Entschuldigung. Das ist doch peinlich. Das arme Personal erlebt den ganzen Unmut der Kunden.

5. Viele von Euch wissen, dass ich mehr als vierzig Jahre in der Evangelischen Kirche engagiert und tätig war. Ich spreche nicht für die ganze Kirche. Dazu gehören auch Menschen, die anders denken als wir auf diesem Platze. Trotzdem: Zwei Aspekte aus der Bibel nenne ich.
Zum Einen: Der Staat hat vor allem die Aufgabe, für Frieden und Gerechtigkeit zu sorgen.
Zum Frieden hilft nicht Stuttgart 21. Es entzweit die Bürgerschaft.
Das ist genau wie beim Turmbau zu Babel, wo die Oberen sich einen Namen machen wollen, aufs Volk nicht hören, nur Unterwerfung fordern und Chaos produzieren.
Gerechtigkeit meint: Das Gemeinwesen soll sich konzentrieren auf kulturelle Bildung und Entwicklung aller Bürger, auf Chancengleichheit für die Armen und für jene, die von sich aus wenig Chancen haben. Wo so Gerechtigkeit
gedeiht, da wächst auch Frieden.
Zum Zweiten: Die christliche Botschaft beginnt mit dem Satz: Kehrt um, denkt um, seid kritisch zu euch selbst.
Wenn die Politiker, z. B. Herr Grube, Herr Mappus, Herr Schuster und alle, die da mit entschieden haben, sagen würden: Jawohl! Wir haben uns getäuscht, es kommt doch viel zu teuer und bringt nicht, was es soll, es ist zu grob für dieses Tal und wird nicht angenommen, dann wäre das für mich nicht peinlich und nicht feige, sondern mutig.Es gehört zur Würde von uns Menschen, dass wirumdenken und umkehren können.  Ich wünsche den Politikern, dass sie in diesem Sinne Mut und Würde zeigen.  Dafür würden wir sie achten.   Dann wachsen wieder Friede und Gerechtigkeit. Und wir sind engagiert dabei.

Rede von Martin Klumpp, Prälat i.R. der Evangelischen Landeskirche, bei der Montagsdemo am 6. Sept. 2010

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