Schriftlesung: 1. Mose 11, 1 – 9
Predigttext: Epheser 4, 22 -32
Liebe Gottesdienst-Gemeinde,
in den letzten Monaten und Wochen wurde von manchen sehr häufig und sehr auftrumpfend von Unumkehrbarkeit geredet. Insbesondere solche bedienten sich dieser Sprachregelung gebetsmühlenartig, die ein Amt innehaben mit hoher Verantwortung für unser Gemeinwesen, für gelingendes Zusammenleben. Und mit provokativer Zerstörung sowie mit brachialer Gewalt haben diejenigen gleichsam sinnlich erfahrbar gemacht, dass unumkehrbar ist, was sie für unumkehrbar erklären: Wir definieren Unumkehrbarkeit.
Als wenn in menschlichen Verhältnissen nicht alles umkehrbar wäre! Die Möglichkeit zur Umkehr gehört geradezu grundlegend zu unserem Menschsein. Gäbe es diese Option nicht, wir gingen wahrlich – mit Fahrzeitverkürzung, ohne umzusteigen – zum Teufel.
Einen von vielen, einen sehr eindrücklichen Beleg für die Möglichkeit zur Umkehr bietet der biblische Text für den heutigen Sonntag. Im 4. Kap. des Epheserbriefes schreibt der Apostel Paulus:
22 Legt von euch ab den alten Menschen mit seinem früheren Wandel, der sich durch trügerische Begierden zugrunde richtet.
23 Erneuert euch aber in eurem Geist und Sinn
24 und zieht den neuen Menschen an, der nach Gott geschaffen ist in wahrer Gerechtigkeit und Heiligkeit.
25 Darum legt die Lüge ab und redet die Wahrheit, ein jeder mit seinem Nächsten, weil wir untereinander Glieder sind.
26 Zürnt ihr, so sündigt nicht; lasst die Sonne nicht über eurem Zorn untergehen
27 und gebt nicht Raum dem Teufel.
28 Wer gestohlen hat, der stehle nicht mehr, sondern arbeite und schaffe mit eigenen Händen das nötige Gut, damit er dem Bedürftigen abgeben kann.
29 Lasst kein faules Geschwätz aus eurem Mund gehen, sondern redet, was gut ist, was erbaut und was notwendig ist, damit es Segen bringe denen, die es hören.
30 Und betrübt nicht den Heiligen Geist Gottes, mit dem ihr versiegelt seid für den Tag der Erlösung.
31 Alle Bitterkeit und Grimm und Zorn und Geschrei und Lästerung seien fern von euch samt aller Bosheit.
32 Seid aber untereinander freundlich und herzlich und vergebt einer dem andern, wie auch Gott euch vergeben hat in Christus.
Vielleicht hat jetzt der eine oder die andere geseufzt und sich still gefragt:
Herr, bin ich’s? Ein ganzer Katalog von Übeltaten, die da aufgelistet werden. Noch einmal die Stichworte: Lüge, Zorn, Diebstahl, Geschwätz, Bitterkeit, Grimm, Geschrei, Lästerung, Bosheit. Durch das alles, sagt Paulus bildhaft, wird „der Heilige Geist Gottes betrübt“. Da bleibt einem fast der Atem weg:
Herr, bin ich’s?
Es gibt eine unselige Tradition in einem gewissen kirchlichen Milieu, in dem genau darauf abgehoben wird: Den einzelnen runter zu drücken, ihm Schuld aufzuladen und ihn so gefügig zu machen. – Gewiss, nach der Prozedur ist dann auch noch von Vergebung, von Gnade die Rede. Aber es bleiben Spuren, Abhängigkeiten, letztlich Unfreiheit.
Geht es Paulus darum? Nein – er will solche Mechanismen nicht verstärken,
so wortreich er auch die Untaten, das Ungute beim Namen nennt. Anscheinend war ein solches Gegensteuern nötig im Blick auf die Gemeinde von Ephesus,
an die sich sein Brief richtet. Wohlgemerkt an die Gemeinde! Das Untaten-Register zielt in seiner Fülle also nicht auf jeden einzelnen. Schon mal eine gewisse Entlastung!
Aber das ist nicht die Hauptsache. Das Entscheidende liegt noch woanders. Paulus nennt Alternativen:
Mit der Wahrheit geht’s besser. Macht euch unabhängig durch redliche Arbeit. Gebt den Bedürftigen etwas ab. Redet Gutes; das bringt Segen. Freundlichkeit, Herzlichkeit und Vergebung machen den Umgang miteinander leichter. Im Grunde Hinweise, mit denen nur gute Erfahrungen zu machen sind. Die Leben erleichtern, in Achtung vor sich selber und durch Wertschätzung gegenüber dem anderen.
Nun werden vielleicht manche mit Schillers Wilhelm Tell denken: „Es kann der Frömmste nicht in Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt.“ Oder: Was mache ich, wenn ich auf Lüge und Bosheit verzichte, aber von anderen genau das erfahre? Wenn ich mich nicht unrechtmäßig bereichere,
aber doch mit ansehen muss, wie Geld und Gier Leben beschädigen, Existenzen vernichten, ja ganze Volkswirtschaften ins Wanken bringen. Wie sich öffentliche Haushalte – parlamentarisch legitimiert – verschulden, überschulden … und dennoch kalt lächelnd Großprojekte in Angriff nehmen, deren Nutzen im Vergleich zu den Kosten zumindest fragwürdig ist. Wenn ich mich bemühe, mit der Schöpfung behutsam, respektvoll umzugehen, und erleben muss, wie Eingriffe in die Natur vorgenommen werden, damit – angeblich – wirtschaftliches Wachstum gewährleistet ist? Im übertragenen Sinn: Wenn mir sehr deutlich vor Augen geführt wird, dass Mülltrennung allein nicht reicht?
Wie verhalte ich mich, wie entscheide ich mich bei wirklich schwerwiegenden Konflikten?
Es hängt an dem Bild, das ich von mir und meinen Mitmenschen habe.
Es kommt auf das Menschenbild an.
Wer meint, die Menschen sind halt so, also muss ich sehen, wie ich für mich den größtmöglichen Vorteil herausholen kann, wird mit den Wölfen heulen. Wer die Welt und die Mitmenschen (vielleicht bis auf wenige aus dem eigenen Umfeld) für grundsätzlich schlecht hält, wird sich abwenden und in seinem Biotop ausharren. Wer gewohnt ist, bei den Stärkeren, den zahlenmäßig Größeren mitzulaufen, vielleicht auch weil’s bequem ist, wird immer dort applaudieren. Egal, was geschieht.
Paulus weist eine andere Blickrichtung. Er traut Menschen zu, dass sie „sich erneuern in Geist und Sinn“ (V.23). Er hält sie für fähig zum Umdenken.
Er sagt das in dem Bildwort vom „alten“ Menschen, der in einer früheren, falschen Denkungsart befangen ist, und vom „neuen“ Menschen, der sich zu „Gerechtigkeit und Heiligkeit geschaffen“ weiß. Und der darauf vertraut, dass ihm Erlösung zuteil wird. Der also weiß, woher er kommt und wohin er gehen wird.
Das ist ein anderes Menschenbild. Nicht statisch, einfach: Es ist, wie es ist. Sondern: Du hast Zukunft, in der neues, gewandeltes Leben möglich ist.
Nicht mit den Wölfen heulen, vielmehr: Sein Leben verantwortlich in die Hand nehmen und gestalten. Nicht nachplappern, was die vielen reden oder die das Sagen haben, sondern kritisch hinhören und hinschauen.
Dann tut sich was. Du kannst dich entwickeln, du kannst die dir gegebene Freiheit wahrnehmen. Im ganz wörtlichen Sinn: wahr, als deine Option,
deine Möglichkeit nehmen.
Nun allerdings nicht, weil du dich entscheidest, ab morgen ein anständiger Mensch zu werden. Solche Wandlungen von heute auf morgen sind fragwürdig und wenig glaubhaft. Sie brauchen meist länger, wenn auch nicht unbedingt
15 Jahre. Vor allem aber: Sie brauchen Besinnung und Orientierung.
Besinnung: Was war bisher? Ist das gut gewesen? Haben sich neue Gesichtspunkte ergeben? Habe ich ein neues Ziel vor Augen? Und Orientierung: Welche Maßstäbe und Werte sind mir wirklich wichtig? Gerechtigkeit? Heiligkeit? Erlösung? Die nennt Paulus. Und er fügt hinzu:
Die habt ihr von Gott in Christus. Zieht sie an wie ein neues Gewand.
Nun sind das sehr hohe und hehre Maßstäbe und Werte. Sie werden unterschiedlich verstanden und sehr verschieden gefüllt. Manchmal wird mir ganz schlecht, wenn ich bestimmte Großsprecher mit solchen Worten tönen höre. Man hört die falschen Töne. Auch wenn einer auf einmal von der „ausgestreckten Hand“ spricht, aber tatsächlich seine Faust präsentiert. Es sind also nicht die großen Töne, sondern es ist die Stimmigkeit von Worten und Taten, von Reden und Tun. Und da ist es gut, wenn wir Christen uns an dem orientieren, dem wir unseren Namen verdanken: Jesus Christus. An ihm, immer wieder an ihm! Nicht an einem Etikett, auf dem nur sein Name steht!
Mich hat sehr berührt, was der frisch benannte chinesische Friedens-nobelpreisträger in einem Interview gesagt hat, als er von den Machthabern seines Landes noch nicht kriminalisiert wurde. Er sagte: „In Würde zu leben,
das heißt für mich, ein ehrlicher Mensch zu sein.“ Er meinte damit: Die herrschenden Verhältnisse in seinem Land offen und ehrlich beim Namen zu nennen. So sehr mich das schlichte Wort des chinesischen Nobelpreisträgers beeindruckt hat, so sehr befremdet hat mich ein Unternehmer aus unserem Land, der Tunnelbaumaschinen vertreibt. Er zitierte einen chinesischen Geschäftspartner, Deutschland sei ein „lebendes Museum“. Und plädierte damit für einen angeblich dringend notwendigen wirtschaftlich-technologischen Fortschritt in unserem Land, u.a. durch Tunnelbauten.
Und schließlich noch eine Episode, in der einer – auch ein Chinese – einen Hinweis gibt, wie Menschen mit ihrer Zeit umgehen. Zeit, die ja erforderlich ist zu Besinnung, zum Umdenken.
Ein chinesischer Gelehrter kam nach Berlin. Sein deutscher Kollege erwartete ihn auf dem Bahnsteig. Von dort gingen sie zum Bahnhofsvorplatz. Als sie aus der Halle traten, stand der Bus schon an der Haltestelle gegenüber. Er musste jeden Augenblick abfahren. Da ergriff der deutsche Professor die Hand des Chinesen: „Kommen Sie! Kommen Sie!“ rief er ihm zu. Die beiden hasteten über den Platz und erreichten gerade noch den Bus. Kaum waren sie drinnen, setzte er sich in Bewegung. Aufatmend schaute der Deutsche auf die Uhr. „Gott sei Dank“, sagte er, „jetzt haben wir zehn Minuten gewonnen.“ Der Chinese aber schaute ihn fragend an und meinte lächelnd: „Und was machen wir mit den zehn Minuten?“
Drei Gewährsleute aus einem fernen, wirtschaftlich aufstrebenden Land. Drei Denkungsarten, drei Haltungen zu der Frage, was dem Leben dienlich ist. Welche davon der Vorstellung des Apostels Paulus entspricht oder nahe kommt, möge jeder und jede für sich entscheiden.
Dienlich ist unserem Leben jedenfalls zu wissen, dass nichts unumkehrbar ist, was offensichtlich verkehrt, falsch, schädlich ist. Das hat der Apostel Paulus auf nicht überbietbare Weise dargelegt. Letztlich in dem Vertrauen darauf:
Nur einer kehrt nicht um. Er hat sich für uns Menschen, für das Leben zu uns gekehrt in Jesus Christus.
Unserem Gott sei Ehre, jetzt und in Ewigkeit.
Amen.
Karl Martell, Pfarrer i.R., am 19. Sonntag nach Trinitatis – 10. Okt.2010