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Filderdialog – FilderdiaLÜG ?!

Der sogenannte „Filder-Dialog S21“ soll am Samstag, 16. Juni, einen zweiten Anlauf nehmen. Gisela Erler, beileibe nicht zuständig für „Gedöns“, vielmehr „Staatsrätin für Zivilgesellschaft und Bürgerbeteiligung“, lädt ein.
„Bürgerinnen und Bürger sollen in ein offenes Gespräch über ihre Vorstellungen zu den Planungen auf den Fildern eintreten und dabei über die Alternativen diskutieren, die von Experten vorgestellt werden“, schreibt sie.
Pfarrer Karl Martell – Unterzeichner  der Gemeinsamen Erlärung von Theologinnen und Theologen zu S21 – wurde wie etliche andere per Zufallsauswahl eingeladen zu diesem Dialog, der an drei Tagen im Juni und Anfang Juli stattfinden soll; er hat die Einladung wie folgt beantwortet:

Sehr geehrte Frau Staatsrätin,
meine Rückmeldung mit dem Bescheid der Nichtteilnahme am „Filder-Dialog“ möchte ich begründen:

1. Durch die Volksabstimmung ist das Projekt S21 nicht besser, vertrauenswürdiger oder gar plausibler geworden. Dafür steht insbesondere der Planungsabschnitt auf den Fildern, der nach zehn Jahren immer noch nicht sich als genehmigungsfähig erwiesen hat.
Erwiesen hat sich allerdings die Unfähigkeit der Planer.

2. Nun einen „Dialog“ mit Bürgerinnen und Bürgern überhastet zu veranstalten, zudem unter Bedingungen, die mehr als fragwürdig sind, halte ich für Augenwischerei.
Ein solcher „Dialog“ erscheint mir auch deshalb nicht sinnvoll, weil er den Zeitvorgaben der Bauherrin zu folgen hat. Einer Bauherrin, die bislang primär durch mehr als fragwürdige Propaganda, durch Unfähigkeit auch und gerade in der zeitlichen Planung und durch die Methode des Faktenschaffens aufgefallen ist.

3. Nach Äußerungen von Politikern (u.a. MdB Arnold, Gemeinderat Bauer in Filderstadt) soll eine „Verbesserung“ der S21-Planung auf den Fildern erreicht werden. Gleichzeitig wird betont, dass mögliche und nötige Verbesserungen selbstverständlich nur zu haben seien, wenn „das Dogma des Kostendeckels“ aufgegeben werde.
Nach meinem Verständnis ist bei der Volksabstimmung auch über die Kosten für S21 von maximal 4,5 Milliarden Euro abgestimmt worden.
Ich möchte mich nicht beteiligen an einem „Dialog“, der wahrscheinlich auch oder sogar primär dazu dient, die von kompetenter und vertrauenswürdiger Seite längst prognostizierte erhebliche Steigerung der Kosten für S21 zu rechtfertigen. Das wäre noch einmal eine Verhöhnung der Bürgerinnen und Bürger.

4. Dass nicht wenige, die sich in den Vorgängen gut auskennen, von einem „Filder-Dialüg“ sprechen, gibt zu denken.

Freundlich grüßt Sie
Karl Martell, Pfarrer i.R.

Stuttgart 21: Viel zerstört – nichts gewonnen !

… war das Motto der Demo am 26. 08.2011, gegliedert in sieben Unterthemen:
•    Nordflügel abgerissen – nichts gebaut.
•    Bäume ausgerissen – nichts erschaffen.
•    Stadt verschandelt – nichts geschafft.
•    Planung verpfuscht – nichts geleistet.
•    Steuergeld verbrannt – nichts geliefert.
•    Bürger missachtet – nichts gelernt.
•    Parlamente belogen – nichts respektiert.

Zu Bürger missachtet – nichts gelernt
hier das Votum von Karl Martell,
Mitunterzeichner der Gemeinsamen Erklärung
„Pfarrerinnen und Pfarrer gegen S21“:
http://www.youtube.com/watch?v=19lo4sBRDEw

Vaniloquus de deo pacis

Antwort an den Stuttgarter Stiftskirchenpfarrer Matthias Vosseler zu dem Artikel in der Stuttgarter Zeitung am 1.August 2011: http://www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.kombiloesung-fuer-stuttgart-21-geburtsort-liegt-im-zug-nach-schaffhausen-page1.fce14731-ad60-4e35-9f1b-a5c77849b1fe.html
Nach altbekanntem, in schlechten Predigten zu hörendem Schema:
Spannung – oder was der Prediger dafür hält – aufbauen, eher wohl aufbauschen („bewegender Tag“, „Herzschlag“, „mittendrin“), eine dramatische, aber unzutreffende Situationsbeschreibung geben („Krieg in Stuttgart“), schließlich wie das Vögelchen aus der Kuckucksuhr „Friede – ich bin dabei“ flöten. Das Ganze garniert mit besserwisserischen Appellen des scheinbar Unparteiischen, tatsächlich wohl Unberührten, an Bahn und Bündnis.
Wer ist denn – bitteschön – nicht für Frieden?
Sehr geehrter Kollege Vosseler,
es herrscht kein „Krieg in Stuttgart“. Solches Vokabular ist nicht nur angesichts der tatsächlichen Kriege im Mittleren Osten sowie der Befreiungsbewegungen in Nordafrika und im Vorderen Orient unangemessen.
Unangemessen, wenn Menschen – wie in Stuttgart – ein elementares Grundrecht in Anspruch nehmen. Und das friedlich!
Unangemessen angesichts von mehr als undurchsichtigen Machenschaften und offensichtlichen Lügen, bei denen es eben nicht „nur um einen Bahnhof“ geht, wie manche verharmlosend glauben machen wollen.
Unangemessen; denn schon im so genannten Schlichterspruch war von „gleichberechtigter Teilnahme von Bürgern aus der Zivilgesellschaft“ die Rede. Durch das bisherige Verfahren wurde dieser Anspruch nicht annähernd eingelöst.
Unangemessen, weil Ihr pseudoneutrales, bequemes „die einen – die anderen“-Geschaukel, das Sie schon früher – auch zynisch – zum Besten gegeben haben, der Situation in keiner Weise gerecht wird.
In der Kritik an S21 engagieren sich Bürgerinnen und Bürger unterschiedlichster Provenienz ohne Eigennutz mit beachtlicher Sachkompetenz und sehr großem zeitlichem Aufwand.
Sie zitieren einen der für Sie „schönsten Verse der Bibel“ (Römer 15,33) mit dem Hinweis auf den „deus pacis“, den Gott des Friedens. Schön und gut, ist nie falsch! Aber soweit sind wir noch nicht.
Bis es dahin kommt, gilt das Wort des Propheten Jeremia: „Sie gieren alle, Klein und Groß, nach unrechtem Gewinn, und gehen mit Lüge um und heilen den Schaden meines Volks nur obenhin, indem sie sagen: »Friede! Friede!«, und ist doch nicht Friede. Sie werden mit Schande dastehen, … aber sie wollen sich nicht schämen und wissen nichts von Scham.“ (Jer.6,13f)
Spätestens seit den Ereignissen in Norwegen sollte davon Abstand genommen werden, vom „Frieden“ zu schwadronieren, aber „Krieg“ zu propagieren.
Karl Martell

„Erneuert euch in eurem Geist und Sinn“ – Predigt von Karl Martell

Schriftlesung:                 1. Mose 11, 1 – 9
Predigttext:             Epheser 4, 22 -32

Liebe Gottesdienst-Gemeinde,

in den letzten Monaten und Wochen wurde von manchen sehr häufig und sehr auftrumpfend von Unumkehrbarkeit geredet. Insbesondere solche bedienten sich dieser Sprachregelung gebetsmühlenartig, die ein Amt innehaben mit hoher Verantwortung für unser Gemeinwesen, für gelingendes Zusammenleben. Und mit provokativer Zerstörung sowie mit brachialer Gewalt haben diejenigen gleichsam sinnlich erfahrbar gemacht, dass unumkehrbar ist, was sie für unumkehrbar erklären: Wir definieren Unumkehrbarkeit.

Als wenn in menschlichen Verhältnissen nicht alles umkehrbar wäre! Die Möglichkeit zur Umkehr gehört geradezu grundlegend zu unserem Menschsein. Gäbe es diese Option nicht, wir gingen wahrlich – mit Fahrzeitverkürzung, ohne umzusteigen – zum Teufel.

Einen von vielen, einen sehr eindrücklichen Beleg für die Möglichkeit zur Umkehr bietet der biblische Text für den heutigen Sonntag. Im 4. Kap. des Epheserbriefes schreibt der Apostel Paulus:

22 Legt von euch ab den alten Menschen mit seinem früheren Wandel, der sich durch trügerische Begierden zugrunde richtet.
23 Erneuert euch aber in eurem Geist und Sinn
24 und zieht den neuen Menschen an, der nach Gott geschaffen ist in wahrer Gerechtigkeit und Heiligkeit.
25 Darum legt die Lüge ab und redet die Wahrheit, ein jeder mit seinem Nächsten, weil wir untereinander Glieder sind.
26 Zürnt ihr, so sündigt nicht; lasst die Sonne nicht über eurem Zorn untergehen
27 und gebt nicht Raum dem Teufel.
28 Wer gestohlen hat, der stehle nicht mehr, sondern arbeite und schaffe mit eigenen Händen das nötige Gut, damit er dem Bedürftigen abgeben kann.
29 Lasst kein faules Geschwätz aus eurem Mund gehen, sondern redet, was gut ist, was erbaut und was notwendig ist, damit es Segen bringe denen, die es hören.
30 Und betrübt nicht den Heiligen Geist Gottes, mit dem ihr versiegelt seid für den Tag der Erlösung.
31 Alle Bitterkeit und Grimm und Zorn und Geschrei und Lästerung seien fern von euch samt aller Bosheit.
32 Seid aber untereinander freundlich und herzlich und vergebt einer dem andern, wie auch Gott euch vergeben hat in Christus.

Vielleicht hat jetzt der eine oder die andere geseufzt und sich still gefragt:
Herr, bin ich’s? Ein ganzer Katalog von Übeltaten, die da aufgelistet werden. Noch einmal die Stichworte: Lüge, Zorn, Diebstahl, Geschwätz, Bitterkeit, Grimm, Geschrei, Lästerung, Bosheit. Durch das alles, sagt Paulus bildhaft, wird „der Heilige Geist Gottes betrübt“. Da bleibt einem fast der Atem weg:
Herr, bin ich’s?

Es gibt eine unselige Tradition in einem gewissen kirchlichen Milieu, in dem genau darauf abgehoben wird: Den einzelnen runter zu drücken, ihm Schuld aufzuladen und ihn so gefügig zu machen. – Gewiss, nach der Prozedur ist dann auch noch von Vergebung, von Gnade die Rede. Aber es bleiben Spuren, Abhängigkeiten, letztlich Unfreiheit.

Geht es Paulus darum? Nein – er will solche Mechanismen nicht verstärken,
so wortreich er auch die Untaten, das Ungute beim Namen nennt. Anscheinend war ein solches Gegensteuern nötig im Blick auf die Gemeinde von Ephesus,
an die sich sein Brief richtet. Wohlgemerkt an die Gemeinde! Das Untaten-Register zielt in seiner Fülle also nicht auf jeden einzelnen. Schon mal eine gewisse Entlastung!

Aber das ist nicht die Hauptsache. Das Entscheidende liegt noch woanders. Paulus nennt Alternativen:

Mit der Wahrheit geht’s besser. Macht euch unabhängig durch redliche Arbeit. Gebt den Bedürftigen etwas ab. Redet Gutes; das bringt Segen. Freundlichkeit, Herzlichkeit und Vergebung machen den Umgang miteinander leichter. Im Grunde Hinweise, mit denen nur gute Erfahrungen zu machen sind. Die Leben erleichtern, in Achtung vor sich selber und durch Wertschätzung gegenüber dem anderen.

Nun werden vielleicht manche mit Schillers Wilhelm Tell denken: „Es kann der Frömmste nicht in Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt.“ Oder: Was mache ich, wenn ich auf Lüge und Bosheit verzichte, aber von anderen genau das erfahre? Wenn ich mich nicht unrechtmäßig bereichere,
aber doch mit ansehen muss, wie Geld und Gier Leben beschädigen, Existenzen vernichten, ja ganze Volkswirtschaften ins Wanken bringen. Wie sich öffentliche Haushalte – parlamentarisch legitimiert – verschulden, überschulden … und dennoch kalt lächelnd Großprojekte in Angriff nehmen, deren Nutzen im Vergleich zu den Kosten zumindest fragwürdig ist. Wenn ich mich bemühe, mit der Schöpfung behutsam, respektvoll umzugehen, und erleben muss, wie Eingriffe in die Natur vorgenommen werden, damit – angeblich – wirtschaftliches Wachstum gewährleistet ist? Im übertragenen Sinn: Wenn mir sehr deutlich vor Augen geführt wird, dass Mülltrennung allein nicht reicht?
Wie verhalte ich mich, wie entscheide ich mich bei wirklich schwerwiegenden Konflikten?

Es hängt an dem Bild, das ich von mir und meinen Mitmenschen habe.
Es kommt auf das Menschenbild an.

Wer meint, die Menschen sind halt so, also muss ich sehen, wie ich für mich den größtmöglichen Vorteil herausholen kann, wird mit den Wölfen heulen. Wer die Welt und die Mitmenschen (vielleicht bis auf wenige aus dem eigenen Umfeld) für grundsätzlich schlecht hält, wird sich abwenden und in seinem Biotop ausharren. Wer gewohnt ist, bei den Stärkeren, den zahlenmäßig Größeren mitzulaufen, vielleicht auch weil’s bequem ist, wird immer dort applaudieren. Egal, was geschieht.

Paulus weist eine andere Blickrichtung. Er traut Menschen zu, dass sie „sich erneuern in Geist und Sinn“ (V.23). Er hält sie für fähig zum Umdenken.

Er sagt das in dem Bildwort vom „alten“ Menschen, der in einer früheren, falschen Denkungsart befangen ist, und vom „neuen“ Menschen, der sich zu „Gerechtigkeit und Heiligkeit geschaffen“ weiß. Und der darauf vertraut, dass ihm Erlösung zuteil wird. Der also weiß, woher er kommt und wohin er gehen wird.

Das ist ein anderes Menschenbild. Nicht statisch, einfach: Es ist, wie es ist. Sondern: Du hast Zukunft, in der neues, gewandeltes Leben möglich ist.
Nicht mit den Wölfen heulen, vielmehr: Sein Leben verantwortlich in die Hand nehmen und gestalten. Nicht nachplappern, was die vielen reden oder die das Sagen haben, sondern kritisch hinhören und hinschauen.

Dann tut sich was. Du kannst dich entwickeln, du kannst die dir gegebene Freiheit wahrnehmen. Im ganz wörtlichen Sinn: wahr, als deine Option,
deine Möglichkeit nehmen.

Nun allerdings nicht, weil du dich entscheidest, ab morgen ein anständiger Mensch zu werden. Solche Wandlungen von heute auf morgen sind fragwürdig und wenig glaubhaft. Sie brauchen meist länger, wenn auch nicht unbedingt
15 Jahre. Vor allem aber: Sie brauchen Besinnung und Orientierung.

Besinnung: Was war bisher? Ist das gut gewesen? Haben sich neue Gesichtspunkte ergeben? Habe ich ein neues Ziel vor Augen? Und Orientierung: Welche Maßstäbe und Werte sind mir wirklich wichtig? Gerechtigkeit? Heiligkeit? Erlösung? Die nennt Paulus. Und er fügt hinzu:
Die habt ihr von Gott in Christus. Zieht sie an wie ein neues Gewand.

Nun sind das sehr hohe und hehre Maßstäbe und Werte. Sie werden unterschiedlich verstanden und sehr verschieden gefüllt. Manchmal wird mir ganz schlecht, wenn ich bestimmte Großsprecher mit solchen Worten tönen höre. Man hört die falschen Töne. Auch wenn einer auf einmal von der „ausgestreckten Hand“ spricht, aber tatsächlich seine Faust präsentiert. Es sind also nicht die großen Töne, sondern es ist die Stimmigkeit von Worten und Taten, von Reden und Tun.  Und da ist es gut, wenn wir Christen uns an dem orientieren, dem wir unseren Namen verdanken: Jesus Christus. An ihm, immer wieder an ihm! Nicht an einem Etikett, auf dem nur sein Name steht!

Mich hat sehr berührt, was der frisch benannte chinesische Friedens-nobelpreisträger in einem Interview gesagt hat, als er von den Machthabern seines Landes noch nicht kriminalisiert wurde. Er sagte: „In Würde zu leben,
das heißt für mich, ein ehrlicher Mensch zu sein.“ Er meinte damit: Die herrschenden Verhältnisse in seinem Land offen und ehrlich beim Namen zu nennen. So sehr mich das schlichte Wort des chinesischen Nobelpreisträgers beeindruckt hat, so sehr befremdet hat mich ein Unternehmer aus unserem Land, der Tunnelbaumaschinen vertreibt. Er zitierte einen chinesischen Geschäftspartner, Deutschland sei ein „lebendes Museum“. Und plädierte damit für einen angeblich dringend notwendigen wirtschaftlich-technologischen Fortschritt in unserem Land, u.a. durch Tunnelbauten.

Und schließlich noch eine Episode, in der einer – auch ein Chinese – einen Hinweis gibt, wie Menschen mit ihrer Zeit umgehen. Zeit, die ja erforderlich ist zu Besinnung, zum Umdenken.

Ein chinesischer Gelehrter kam nach Berlin. Sein deutscher Kollege erwartete ihn auf dem Bahnsteig. Von dort gingen sie zum Bahnhofsvorplatz. Als sie aus der Halle traten, stand der Bus schon an der Haltestelle gegenüber. Er musste jeden Augenblick abfahren. Da ergriff der deutsche Professor die Hand des Chinesen: „Kommen Sie! Kommen Sie!“ rief er ihm zu. Die beiden hasteten über den Platz und erreichten gerade noch den Bus. Kaum waren sie drinnen, setzte er sich in Bewegung. Aufatmend schaute der Deutsche auf die Uhr. „Gott sei Dank“, sagte er, „jetzt haben wir zehn Minuten gewonnen.“ Der Chinese aber schaute ihn fragend an und meinte lächelnd: „Und was machen wir mit den zehn Minuten?“

Drei Gewährsleute aus einem fernen, wirtschaftlich aufstrebenden Land. Drei Denkungsarten, drei Haltungen zu der Frage, was dem Leben dienlich ist. Welche davon der Vorstellung des Apostels Paulus entspricht oder nahe kommt, möge jeder und jede für sich entscheiden.

Dienlich ist unserem Leben jedenfalls zu wissen, dass nichts unumkehrbar ist, was offensichtlich verkehrt, falsch, schädlich ist. Das hat der Apostel Paulus auf nicht überbietbare Weise dargelegt. Letztlich in dem Vertrauen darauf:
Nur einer kehrt nicht um. Er hat sich für uns Menschen, für das Leben zu uns gekehrt in Jesus Christus.
Unserem Gott sei Ehre, jetzt und in Ewigkeit.

Amen.

Karl Martell, Pfarrer i.R., am 19. Sonntag nach Trinitatis – 10. Okt.2010

„Wir sind das wütende Pack“

Nach wohltuender Stille nun ein paar Gedanken, die mich umtreiben als Christenmenschen und als evangelischen Pfarrer im Ruhestand. Nicht nur mich, sondern eine Reihe von Menschen, mit denen ich in den letzten Monaten, Wochen und Tagen gesprochen habe.
Auf einem Plakat bei einer Demo las ich: We are the angry mob. Wir sind das ärgerliche Pack.
Ärgerlich – aufgebracht – wütend – jede und jeder mag „angry“ übersetzen, wie ihr / ihm zumute ist. Mein Eindruck: Der Protest entwickelt sich deutlich von ärgerlich hin zu wütend. Warum?
Die Gründe sind zahlreich und die Motive der Vielen haben unterschiedliche Schwerpunkte. Einige will ich nennen.
Nicht als „verkehrspolitischer Experte“. Wie könnte ich auch eine Kompetenz beanspruchen, die die Bischöfe unserer beiden großen Kirchen für sich ausdrücklich in Abrede stellen?
Also:  Jenseits verkehrspolitischen und juristischen Spezialistentums gibt es sehr wohl Gründe, Motive für den Unmut, den Zorn, die Wut. Man muss nur genauer hinschauen.

Wie wurden und werden diejenigen beurteilt, diffamiert, die nicht in die Lobeshymnen auf „Das neue Herz Europas“ einstimmen können?
Ja – wie es der eben zitierte Spruch einer Gegnerin ironisch aufgreift – als „Mob“. Als „Eventdemonstranten“ oder als „ewig Gestrige“, die nicht ganz bei Trost sind. Als „Randalierer“, als „Freizeitpunks“ u.a.m. Am vorigen Mittwoch beklagten sich nach dem Gebet hier zwei ältere, gut-bürgerliche Damen: „Stellen Sie sich vor, uns wird nachgesagt, wir würden für unseren Protest bezahlt.“
Der Autor Heinrich Steinfest, der in Stuttgart lebt und zur Zeit an einem Kriminalroman mit dem Thema „Stuttgart 21“ arbeitet, sagt dazu:
„Die Stuttgarter definieren den Begriff der Demokratie neu. Es wird immer gesagt, Stuttgart 21 sei demokratisch legitimiert. Aber die Leute schauen sich genau an, wie dieser Legitimationsprozess erfolgt ist. Politiker haben aufgrund eines Fraktionszwangs einer Sache zugestimmt, über die sie nicht restlos informiert gewesen sind. Eine Lücke, welche die Protestierenden nun selber füllen.“
Und seine Einschätzung: „Ich habe noch nie eine Demonstration erlebt, wo die Leute so viel analysieren. Die haben tatsächlich Ahnung.“
Warum merken andere das nicht? Warum hören sie was anderes? Schwadronieren von „unreflektierter Agitation“, von „Schwarz-weiß-Schemata“ und „Halbwahrheiten“ ?
So z.B. der Pfarrer der Stuttgarter Stiftskirche im Evangelischen Gemeindeblatt für Württemberg Nr. 37/2010.
Schlagworte – im wahrsten Sinn! Man merkt die Absicht und man ist verstimmt. Und gewiss nicht im Sinne der Presseerklärung der Bischöfe, in der sie betonen: „Wir nehmen in diesem Konflikt Partei für die Menschenwürde und für einen Umgang in der inhaltlichen Auseinandersetzung, der dem sozialen Frieden dient.“

Befürworter des Großprojekts könnten an dieser Stelle einwenden: „Und was ist mit ‚Lügenpack’? Ist das etwa in Ordnung?“ Nein – ist es grundsätzlich auch nicht. Aber ich erlaube mir, nach Ursache und Wirkung zu fragen.
Niemand – auch niemand im Kirchenamt – sollte auf der einen Seite mit der Goldwaage hantieren, auf der anderen aber in vornehm-zurückhaltender „Neutralität“ schweigen.
Wer absichtsvoll provoziert wird,
– etwa durch die Verweigerung eines Baustopps,
– etwa durch Abbrucharbeiten abends zwischen 18 und 19 Uhr während einer Montagsdemo,
– etwa durch Gesprächsverweigerung (bisher zumindest),
– etwa durch Drohungen und Einschüchterungsversuche,
um nur einige Beispiele zu nennen – wer so behandelt wird, dem platzt auch mal der Kragen.

Ich darf aus der Bibel zitieren:  „Ihr verblendeten Führer, die ihr Mücken aussiebt, aber Kamele verschluckt! Weh euch, ihr Heuchler, die ihr die Becher und Schüsseln außen reinigt, innen aber sind sie voller Raub und Gier! Von außen scheint ihr vor den Menschen fromm, aber innen seid ihr voller Heuchelei und Unrecht. Ihr Schlangen, ihr Otternbrut!“ (Mt.23, 24-33 i.A.)
Alles andere als eine wohltemperierte Rede. Vielmehr die Sprache des Machtlosen, der Zorn eines, der gegen die Arroganz der Macht aufbegehrt.
Dass bei den Sondierungsgesprächen, die jetzt – auf Vermittlung des katholischen Stadtdekans – doch in Gang zu kommen scheinen, ein moderater Ton vorherrschen möge, versteht sich von selbst.

Ein Zweites: In nahezu jedem Interview, das von einem der Stuttgart21-Akteure gegeben wird, ist von Unumkehrbarkeit die Rede.
Mir ist in menschlichen Verhältnissen nichts, aber auch gar nichts bekannt, das nicht umkehrbar wäre. Selbst vom Tod, dem scheinbar Unumkehrbaren, bekennen Christen: Seine Macht ist aufgehoben.
Umkehr ist eine der ganz grundlegenden Optionen menschlicher Existenz. Die Möglichkeit zur Umkehr gehört konstitutiv zu dem Menschenbild, das uns in christlicher Tradition überliefert ist. Umkehr hat mit Freiheit zu tun.
Diese Freiheit zu bestreiten, ist anmaßend. Sie zu bestreiten, obwohl man um die Option der Umkehr weiß, zielt auf Resignation und Einschüchterung.
Wenn die Kirchenleitungen von Menschenwürde sprechen: Warum erheben sie an dieser Stelle nicht vehement Widerspruch?
Redet uns nicht von Unumkehrbarkeit! Beraubt die Bürger nicht der Freiheit, die sie haben!

Meinen dritten Punkt möchte ich überschreiben:  An ihrer Sprache sollt ihr sie erkennen!
Es wird ja immer wieder behauptet, der ganze Protest gegen das Projekt Stuttgart 21, das zutreffender „Babel 21“ heißen müsste, sei Folge eines Vermittlungsproblems. Die einzige Selbstkritik der Betreiber:  Man habe versäumt, den Bürgerinnen und Bürgern die Vorzüge der schönen neuen Bahnhofswelt nahe zu bringen.
Ist da was dran?
Nein – es wurde ja auf vielfältige Weise geworben:
Anfangs: „Paris – ein Vorort von Stuttgart“. Ironisch-schillernd zwar, hat aber nicht funktioniert.
Dann wurde „Unser schönstes Geschenk“ präsentiert und „Das neue Herz Europas“. (Und manche von der Elite des Fortschritts laufen jetzt tatsächlich mit so einem Herz-Button herum – wie einfallsreich!) Und dann noch: „Das schaffen nur wir.“
Angesichts solch ebenso deplazierter wie großmundig-dämlicher Sprüche – warum kam da nicht deutlich die Reaktion: Einspruch! Insbesondere von denen, die eine gepflegte, menschenwürdige Kommunikation anmahnen?

Und wenn OB Schuster in einem Offenen Brief – bereitwillig verbreitet von den örtlichen Presseorganen – beteuert:
„Wir sind für Sie alle da“ und Bahnchef Grube tönt:  „Wir wollen den Stuttgartern doch etwas Gutes tun.“
Jeder, der ein Gespür für Worte hat, hört in diesem Gesäusel die schiefen, falschen Töne. Man muss sich gar nicht an einen erinnern, der 1989 in Verkennung der Situation so geredet hat – und ausgelacht wurde. Man muss nur aufmerksam hören. An ihrer großspurigen, verlogenen Sprache müsstet ihr sie erkennen!

Ein vierter und letzter Punkt – ganz kurz:
Wenn es an Sprachsensibilität fehlt: Warum erkennen die Wächter der Menschenwürde nicht, mit welcher Art von Projekt wir es zu tun haben?
Größer – weiter – schneller – teurer ist die Devise.
Aber:  Mehr und mehr Menschen, nicht nur die offen protestierenden, glauben dieser Heilslehre des grenzenlosen Fortschritts nicht mehr. Zumal wenn er so zerstörerisch daherkommt. Sie haben gute Gründe aus schlechten Erfahrungen.
Der Geist eines solchen Projekts, der Geist des Größer-weiter-schneller-teurer ist als Ungeist erkannt worden. Lebensqualität wird heute von vielen an anderen Werten gemessen.
Dabei geht es nicht – zumindest nicht nur – um einen Stellvertreterkonflikt, wie der evangelische Stadtdekan meint.
Der Widerstand gegen Stuttgart 21 kennzeichnet vielmehr am konkreten Fall – wo auch sonst? – die Abkehr von dieser Art Machbarkeits- und Größenwahn. – Wenn das kein Thema für die Kirchen ist!
Abkehr von den Tunnelbauten zu Babel, das ist alles andere als rückwärts gewandt. Wache und informierte, ideenreiche und verantwortungsbewusste Bürger – nicht der Mob – machen sich frei von eingeredeten Ängsten, auch von der Angst, abgehängt zu werden.
Frei-werden von Ängsten, die manche haben mögen, die von anderen instrumentalisiert werden: Kein Thema für die Kirchen? Oder merken sie wieder einmal nicht, dass sich mit dem Widerstand gegen das Babel-Projekt Menschen Gehör verschaffen, die umkehren?
Sie kehren um zu einer menschen- und umweltfreundlichen Lebensweise, in einer ebensolchen, in ihrer Stadt.
Sie kehren um in die Zukunft. Und nicht wenige von ihnen fragen: Seid ihr – Kirche – lediglich Hüter einer Gesprächskultur? Oder „Salz der Erde und Licht der Welt“?

Ansprache von Karl Martell, Pfarrer i.R.,
beim „Gebet im Schlossgarten“ am 22. Sept. 2010

Hier gibt’s diesen Text als PDF