Liebe Freundinnen und Freunde,
dieser Tage jährt sich zum dritten Mal der Protestsommer 2010. Wir erinnern uns: Aus Demonstrantenzahlen, die immer so um die dreitausend herumschwappten, wurden auf einmal fünfstellige, Anfang August war das, und dann wurden aus 10.000 erst 20- und dann 30.000, und in der ganz hohen Zeit unseres Protests versammelten sich bis zum 60.000 Menschen im Park, auf dem Schlossplatz, zogen in riesigen Bandwürmern über den Cityring. So mancher von uns, glaubte damals zu träumen und hat gedacht, es würde nun immer so weiter gehen und es sei nur noch eine Frage der Zeit, bis das Maulwurfprojekt gestoppt sei. Dieser Sommer 2010 hatte, bei all seiner Dramatik um das Wüten der Bahn auch etwas von einem Märchen, es ging immer höher mit uns hinaus, unsere Bewegung wurde bekannt, über Stuttgart, übers Ländle, schließlich über ganz Deutschland und noch weiter hinaus. Die Medien berichteten über uns, wir haben gedacht, es tut sich was, wir können was verändern, es lohnt sich, sich einzusetzen für die Stadt, für das Gemeinwesen, in dem wir leben.
Das alles – war einmal. In letzter Zeit greift an vielen Stellen der Frust um sich, auch innerhalb der Bewegung. Die Auseinandersetzungen auf unseren Blogs künden davon. Auch ich selber habe mich vor kurzem an das Märchen „Der Fischer und seine Frau“ erinnert gefühlt. Uns geht es wie den beiden. Wie der Fischer und seine Frau machten wir die Erfahrung, dass wir hoch hinaus wollten damals vor drei Jahren und das auch konnten, wir meinten, alles erreichen zu können. Am Ende sitzen der Fischer und seine Frau wieder in ihrer alten Kate, ihrer alten Fischerhütte, umgeben vom Gewohnten, als wäre nichts geschehen. Auch wir meinen manchmal, einmal im Kreis gelaufen zu sein und fragen uns, was ist anders geworden?
Ja, was ist eigentlich anders geworden? Ist eigentlich etwas anders geworden?
Ich denke, auch wenn wir bis jetzt nicht das erreicht haben, was wir wollten, so hat sich doch vieles verändert.
1. Wir haben Erfahrungen gemacht. Wir haben Erfahrungen gemacht, gute und schlechte, aber immerhin Erfahrungen. Wir haben erfahren, wie die Demokratie in unserem Land beschaffen ist, dass es eine Demokratie – übersetzt, eine Volksherrschaft ist, die einem Konzern, mit Unterstützung der gewählten Politiker, der Medien, der Werbung und des Rechtssystems, soviel Spielraum einräumt, dass er letztlich machen kann was er will. Das ist eine traurige Erfahrung, aber immerhin eine Erfahrung.
2. Was hat sich noch geändert? Es wird wieder demonstriert. Ich weiß noch, wie ich mich in den Jahren 2007 und 2008 gewundert habe, dass kein Mensch mehr demonstrierte. Die Bevölkerung schien dieses außerparlamentarische Instrument der Demokratie, um auf Missstände aufmerksam zu machen und sich zur Wehr zu setzen, verlernt, ja vergessen zu haben. Ich habe mich damals gefragt, ist Demonstrieren out, taugt es vielleicht in unserer heutigen digitalen Welt, wo alles über Handy und Internet geht, nicht mehr? Kaum ein Jahr später wurde meine Frage beantwortet mit der Erfahrung eines gigantischen Comebacks des Mittels der Demonstration: Wir hier in Stuttgart haben den Anfang gemacht. Von uns ist das damals ausgegangen, das können wir uns auf die Fahnen schreiben, ohne Wenn und Aber. Seit dem ist eine Entwicklung im Gang, die nicht zurückzudrehen ist: überall auf der Welt stehen Menschen auf, überall gehen sie zu Tausenden auf die Straße: in Nordafrika, in der Türkei, in Brasilien, in Ägypten. Es gibt die Blockupy-Bewegung. Die Anti-AKW-Bewegung hat neuen Schwung bekommen. Breite Bevölkerungsschichten nehmen es nicht mehr hin, sich unterdrücken und an der Nase herum führen zu lassen. Sie haben ihre Macht begriffen, die darin liegt, zu Zehntausenden und Hunderttausenden auf die Straße zu gehen und mit den Füßen abzustimmen. DAS IST ANDERS als früher! DAS hat sich verändert ohne Zweifel. Und daran haben wir teil.
3. Wir sind nicht mehr allein. Menschen, die sich früher im stillen Kämmerlein darüber aufgeregt haben, dass sie allein auf weiter Flur sind mit ihrer Kritik an den bestehenden Verhältnissen und den Möglichkeiten, etwas zu ändern, die haben sich gefunden. Es gibt ein Netzwerk dieser Menschen, die in vielem ähnlich denken und alle den Traum von einer besseren Welt haben. Waren sie früher isoliert, so sind sie nun miteinander verbunden. Der Schritt, dass wir uns auch bundesweit immer mehr vernetzen, wird kommen. Wir haben das Bewusstsein, wir sind viele, fürchterlich viele, zum Fürchten viele! Dieses Netzwerk zu haben, ist ein Schatz, den uns niemand nehmen kann, es sei denn wir selber.
Deswegen möchte ich mit diesem dritten Punkt gleich eine Warnung verbinden oder einen Appell: Lasst uns vorsichtig damit sein, uns intern zu zerfleischen. Selbstkritik in allen Ehren, aber sie darf nicht totschlagen! Der Frust, der Unmut, der sich innerhalb unserer Bewegung breit macht, ist verständlich und darf auch ausgedrückt werden; das tut der psychischen Hygiene gut. Ungut wird es aber, wenn der Frust dazu führt, dass wir uns gegeneinander wenden, dass es plötzlich eine Einteilung gibt in gute und schlechte, in seriöse und unseriöse, in ordentliche und unordentliche, in gewaschene und ungewaschene Protestierer. Von außen wird momentan alles dafür getan, dass wir als Verlierer dastehen und zu Verlierern will niemand gehören. Hüten wir uns davor, dass wir das Gewinner- und Verliererspiel auch noch in unsere Bewegung hineintragen, dass wir unterscheiden zwischen Gewinner-Protestlern und Verlierer-Protestlern und auf die letzteren mit dem Finger zeigen. Es gibt ein Wort, das manch einem von uns altmodisch klingen mag und trotzdem halte ich es für sehr notwendig: Das Wort Barmherzigkeit. Ich wünsche mir, dass wir an manchen Stellen barmherziger miteinander umgehen, als wir es derzeit tun.
Wie kann es weitergehen mit uns, denen es im Moment so vorkommt, als säßen sie wie der Fischer und seine Frau wieder in der alten Fischerhütte, ohne Aussicht auf Zukunft?
Was kann man tun in Zeiten, in denen es nicht weiterzugehen, ja rückwärts zu gehen scheint, nachdem man schon einmal viel weiter war?
Paulus sagt in Römer 12,12: Seid fröhlich in Hoffnung, geduldig in Trübsal, haltet fest im Gebet. Paulus geht davon aus, dass solche Situationen, wie wir sie derzeit in unserer Bewegung erleben, zum Leben dazu gehören. Im Moment sind unsere Möglichkeiten, spektakulär etwas an unserer Situation zu verändern, eher gering. Es kann also momentan nur darum gehen, dass wir das Feuer hüten und nicht ausgehen lassen, dass wir uns als Bewegung nicht aufreiben, sondern es uns im Gegenteil so gut gehen lassen und so schön machen wie irgend möglich. Dazu gehört für mich auch, dass wir uns zum Demonstrieren nicht den hässlichsten Ort in ganz Stuttgart aussuchen, sondern nach Möglichkeit den Schönsten. Fröhlich in Hoffnung: Unsere Zeit wird wiederkommen, und dann wird es wichtig sein, dass wir noch da sind und mit voller Kraft den nötigen Einsatz bringen. Bis dahin ist es eher nötig, einfach zu überleben – und gut zu überleben.
Geduldig in Trübsal: Geduld. Für viele Menschen das Schwierigste, auch für einen Menschen wie mich. Herr, gib mir Geduld, aber schnell!! In dem Wort Geduld steckt das Wort Dulden, Aushalten drin, aushalten, dass es im Moment nicht so schön, sondern zermürbend, vielleicht einfach auch nur langweilig ist.
Das Gebet ist eine Stütze, eine Gehhilfe für die Geduld. Und deshalb ist es so gut, dass es uns gibt, die wir uns hier versammeln zum Parkgebet, dass wir da sind, dass wir die Entwicklungen begleiten mit unseren Gebeten in Ruhe, Gelassenheit und mit dem sehr langen Atem der Hoffnung. Amen.
Kategorien
- # Allgemein
- # Ansprachen beim Parkgebet
- # Gottesdienste
- # Kirchentag
- # Offene Briefe
- # Parkgebet
- # Predigten
- # Pressemitteilungen
- # Satire
- # Termine
- Bassler
- Dahlbender
- Demo
- Dietrich
- Felder
- Franz Alt
- Gehring
- Harr
- Hopfenzitz
- Jetter
- Klumpp
- Lösch
- Leibbrand
- Martell
- Müller-Enßlin
- Müller-Hartmann
- Palmer
- Poguntke
- Radicke
- Röhm
- Rohrhirsch
- Rominger
- Schiegg
- Schneider-Wedding
- Schobel
- Schwab
- Strecker
- von Herrmann
- Wienand
- Ziesenhenne-Harr
- # Kirchentag # Parkgebet 30. September Aufsichtsrat Ausstieg Babel Bahnhof Barrierefreiheit Baustopp Berlin Berufsdemonstrant Betrug Bibel bischof Brandschutz CDU Corona Demo EKD Energieverbrauch Filderdialog Gehring Geißler Gerechtigkeit Gewalt Gewissen Gottesdienst Gottes Segen Grundwassermanagement Grüne Jeremia Kirchenvertreter Kirchenwahl Klima Klimaschutz Kommunalwahl Kreuz Landeskirche Legitimität Macht Mammon Menschlichkeit Mineralwasser Montagsdemo Naturdenkmal Ostern Paulus PEGIDA Pfarrer Polizeischutz Predigt Rahmenvereinbarung Rosensteinpark Schlichtung Schlossgarten Schwabenstreich Schwarzer Donnerstag Schöpfung Sonntag SPD Stresstest Trauer Tunneltaufe Umkehr Umstieg Verantwortung Vergebung Vertrauen Volker Lösch Volksentscheid Wachstum Wahl Wahrheit Weihnachten Wächteramt
-
Aktuelle Beiträge
- Weihnachtsgottesdienst im Park
- Parkgebetsansprache am 17.3.2022 von Pfr.i.R. Martin Poguntke
- Digitaler Weihnachts-GD am 26.12.2021, 11 Uhr
- Herzliche Einladung zum digitalen Weihnachtsgottesdienst am 26.12.21
- Parkgebet am 15.7.2021 von Pfr.i.R Martin Poguntke zu „Geh aus mein Herz und suche Freud“
- Ansprache beim Parkgebet am 1.7.2021 zu Mt 28,18-20 von Pfr. i. R. Friedrich Gehring
- Parkgebet am 17.6.2021 mit Pfr. i. R. Friedrich Gehring
- Ansprache zum Parkgebet am 3.6.2021 zu Jona 1,1-3a von Pfr. i. R. Friedrich Gehring
- Digitales Parkgebet am 20.5.2021 von Pfr.i.R. Martin Poguntke
- Digitales Parkgebet am 6.5.2021 von Pf.i.R. Friedrich Gehring
- Digitales Parkgebet am 22.4.2021 von Pf.i.R. Friedrich Gehring
- Digitales Parkgebet am 8.4.2021 von Pf.i.R. Michael Harr
- Digitales Parkgebet am 25.3.2021 von Pfr.i.R. Martin Poguntke
- Ansprache für das online-Parkgebet am 11.3.2021 zu Jes 28, 14-15 von Pfr. i.R. Friedrich Gehring
- Parkgebet am 11.3.2021 mit Pfr.i.R. Friedrich Gehring
Neueste Kommentare
Martin Poguntke bei Digitaler Weihnachts-GD am 26.… wowe21 bei Digitaler Weihnachts-GD am 26.… ulliwp bei Digitaler Weihnachts-GD am 26.… Jürgen Rau bei … friedrichgehring bei Online-Parkgebet am 11. Februa… NachhaltigLeben bei Online-Parkgebet am 11. Februa… jürgen rau bei Parkgebet am 14. Januar 2021 m… friedrichgehring bei Parkgebet am 14. Januar 2021 m… friedrichgehring bei Weihnachtspredigt 2020 zu Lk 2… Tilmann Fischer bei Weihnachtspredigt 2020 zu Lk 2… friedrichgehring bei Weihnachtspredigt 2020 zu Lk 2… friedrichgehring bei Weihnachtspredigt 2020 zu Lk 2… WOLFgang Weiss (Auto… bei Weihnachtspredigt 2020 zu Lk 2… WOLFgang Weiss (Auto… bei Weihnachtspredigt 2020 zu Lk 2… Guntrun Müller-Enßli… bei Weihnachtspredigt 2020 zu Lk 2… Archiv
- Dezember 2022
- März 2022
- Dezember 2021
- Juli 2021
- Juni 2021
- Mai 2021
- April 2021
- März 2021
- Februar 2021
- Januar 2021
- Dezember 2020
- November 2020
- Oktober 2020
- September 2020
- August 2020
- Juli 2020
- Juni 2020
- Mai 2020
- April 2020
- März 2020
- Februar 2020
- Januar 2020
- Dezember 2019
- November 2019
- Oktober 2019
- September 2019
- August 2019
- Juli 2019
- Juni 2019
- Mai 2019
- April 2019
- März 2019
- Februar 2019
- Januar 2019
- Dezember 2018
- Oktober 2018
- September 2018
- August 2018
- Juli 2018
- Juni 2018
- Mai 2018
- April 2018
- März 2018
- Februar 2018
- Januar 2018
- Dezember 2017
- November 2017
- Oktober 2017
- September 2017
- August 2017
- Juli 2017
- Juni 2017
- Mai 2017
- April 2017
- März 2017
- Januar 2017
- Dezember 2016
- November 2016
- Oktober 2016
- September 2016
- August 2016
- Juli 2016
- Juni 2016
- April 2016
- Februar 2016
- Januar 2016
- Dezember 2015
- November 2015
- Oktober 2015
- August 2015
- Juli 2015
- Juni 2015
- Mai 2015
- April 2015
- März 2015
- Februar 2015
- Januar 2015
- Dezember 2014
- November 2014
- September 2014
- August 2014
- Juli 2014
- Juni 2014
- Mai 2014
- April 2014
- März 2014
- Februar 2014
- Januar 2014
- Dezember 2013
- November 2013
- Oktober 2013
- September 2013
- August 2013
- Juli 2013
- Juni 2013
- Mai 2013
- April 2013
- März 2013
- Februar 2013
- Januar 2013
- Dezember 2012
- November 2012
- Oktober 2012
- September 2012
- August 2012
- Juli 2012
- Juni 2012
- Mai 2012
- April 2012
- März 2012
- Februar 2012
- Januar 2012
- Dezember 2011
- November 2011
- Oktober 2011
- September 2011
- August 2011
- Juli 2011
- Juni 2011
- Mai 2011
- April 2011
- März 2011
- Februar 2011
- Januar 2011
- Dezember 2010
- November 2010
- Oktober 2010
Meta
Röm 12,12 – Das ist mein Konfirmationsspruch. Mein Pfarrer hat ihn für mich ausgesucht – so war es eben damals – und doch hat mir Röm 12,12 über vieles hinweggeholfen. „…haltet an am Gebet…“ hieß er damals noch. Haltet an am Gebet – am Fürbittengebet für wen, für was konkret? Eine Antwort darauf zu finden bedingt, dass wir uns immer weiter sorgfältig INFORMIEREN über das, was abgeht – jeder in der Dosierung, die für ihn passt – nicht weniger – aber auch nicht mehr. Und zur Information möchte ich die einzelnen Twitter-Protokolle der GWM-Erörterung empfehlen. Nach einem ersten Schock erholt man sich wieder – und wird dann wieder „fröhlich in Hoffnung“. Ich wünsche allen ein gesegnetes Wochenende. Daß man am Sonntag wählen gehen sollte, brauche ich an dieser Stelle ja wohl nicht zu erwähnen.