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Abstellgleis für alle

Versäumnisse der Deutschen Bahn und des Landes Baden-Württemberg bei der Finanzplanung von Stuttgart 21

Die Sendung vom 23. Frebruar 2012 in SWR2 kann nachgehört, als Podcast und als Manuskript heruntergeladen werden unter:
http://www.radiofeature.ard.de/

Stuttgart 21 ist ein Abstellgleis, auf das auch alle anderen geschoben werden. Eine tiefer gelegte Sackgasse der deutschen Verkehrspolitik. Milliarden werden in Stuttgart und auf der Schwäbischen Alb verbaut, die für ungleich wichtigere Bahnprojekte fehlen. Deutlich mehr Güter auf die Schiene zu bringen, dieses Ziel wird Deutschland auf absehbare Zeit nicht erreichen – auch wegen Stuttgart 21.

Wilm Hüffer, der Autor der Sendung, konnte auch Einblick nehmen in interne Unterlagen der Deutschen Bahn. So belegt er, dass die am Projekt beteiligten Personen steigende Kosten vertuscht oder Leistungsschwächen schöngerechnet haben. Er rekonstruiert anhand dieser Unterlagen den Schacher um das schwäbische Großprojekt.

Im Fokus des Features „Abstellgleis für alle“ steht die Frage, ob das Milliardenprojekt einen sinnvollen infrastrukturellen Beitrag zur Verkehrsentwicklung in Deutschland leistet. „Stuttgart 21“ ist aus Sicht vieler Verkehrsexperten ein Abstellgleis, auf das auch alle anderen gezogen werden, zum Beispiel der Gütertransport und die wichtigste europäische Bahn-Verkehrsachse von Antwerpen nach Genua. Solche Bahnprojekte bleiben weitgehend auf der Strecke, da „Stuttgart 21“ den Großteil der Ressourcen bis 2020 verschlingen wird.

Geistige und geistliche Verwahrlosung

Unterstellt wurde uns verschiedentlich, wir würden ein Bauprojekt („doch nur ein Bahnhof“) religiös überhöhen, wir würden „auch noch Gott auf die eigene Seite zu ziehen versuchen“.
Das haben wir nicht getan und tun wir nicht.
Das überlassen wir dem glühenden S21-Propagandisten Claus Schmiedel,
SPD-Fraktionsvorsitzenden im Landtag von BW.
Bei der Pro-S21-Veranstaltung am Samstag, 27. August, ließ er sich zu den Äußerungen hinreißen: „Über Stuttgart 21 liegt Gottes Segen.“
Und: „Wir sind die Guten.“
(http://www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.stuttgart-21-befuerworter-zeigen-flagge.b7e3eaee-67b4-41ca-9dc5-41fa4b68fc77.html)

Nun könnte man aus Kritikersicht voll Genugtuung feststellen, dass den Befürwortern anscheinend nichts mehr einfällt als religiös verbrämte Beschwörungen. Gepaart mit einfältiger Schwarz-weiß-Sichtweise:
Hier die Guten, da die Bösen.
George W. Bush lässt grüßen.
Aber nein – keine Genugtuung.

Dass ein prominenter Landespolitiker in dieser Weise Gottes Segen missbraucht, indem er ihn schamlos instrumentalisiert, macht betroffen. Eine derartige Schwarz-weiß-Sichtweise lässt wegen ihrer Primitivität erschrecken.
Zuspruch des Segens Gottes gilt allein Menschen, keinen Sachen, schon gar keinem Bauprojekt. Segen Gottes hat einen besonderen Wert; ihn inflationär oder missbräuchlich zu benutzen,
verfälscht seinen Sinn.

In den mehr als 60 Artikeln auf diesem Blog sowie auf unserer Website http://www.s21-christen-sagen-nein.de findet sich keine Passage, in der das Immobilien- und Bahnprojekt in dieser Weise religiös aufgeladen wird.

Für die Iniative Pfarrerinnen und Pfarrer gegen S21
Friedrich Gehring
Michael Harr
Anette Keimburg
Karl Martell
Guntrun Müller-Enßlin
Martin Poguntke
Martin Schmid-Keimburg
Dorothea Ziesenhenne-Harr

Mehr zum Thema:
Neue Pläne der SPD für den Hauptbahnhof
„Wir sind die Guten“
Schmiedel bei fluegel.tv

Vaniloquus de deo pacis

Antwort an den Stuttgarter Stiftskirchenpfarrer Matthias Vosseler zu dem Artikel in der Stuttgarter Zeitung am 1.August 2011: http://www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.kombiloesung-fuer-stuttgart-21-geburtsort-liegt-im-zug-nach-schaffhausen-page1.fce14731-ad60-4e35-9f1b-a5c77849b1fe.html
Nach altbekanntem, in schlechten Predigten zu hörendem Schema:
Spannung – oder was der Prediger dafür hält – aufbauen, eher wohl aufbauschen („bewegender Tag“, „Herzschlag“, „mittendrin“), eine dramatische, aber unzutreffende Situationsbeschreibung geben („Krieg in Stuttgart“), schließlich wie das Vögelchen aus der Kuckucksuhr „Friede – ich bin dabei“ flöten. Das Ganze garniert mit besserwisserischen Appellen des scheinbar Unparteiischen, tatsächlich wohl Unberührten, an Bahn und Bündnis.
Wer ist denn – bitteschön – nicht für Frieden?
Sehr geehrter Kollege Vosseler,
es herrscht kein „Krieg in Stuttgart“. Solches Vokabular ist nicht nur angesichts der tatsächlichen Kriege im Mittleren Osten sowie der Befreiungsbewegungen in Nordafrika und im Vorderen Orient unangemessen.
Unangemessen, wenn Menschen – wie in Stuttgart – ein elementares Grundrecht in Anspruch nehmen. Und das friedlich!
Unangemessen angesichts von mehr als undurchsichtigen Machenschaften und offensichtlichen Lügen, bei denen es eben nicht „nur um einen Bahnhof“ geht, wie manche verharmlosend glauben machen wollen.
Unangemessen; denn schon im so genannten Schlichterspruch war von „gleichberechtigter Teilnahme von Bürgern aus der Zivilgesellschaft“ die Rede. Durch das bisherige Verfahren wurde dieser Anspruch nicht annähernd eingelöst.
Unangemessen, weil Ihr pseudoneutrales, bequemes „die einen – die anderen“-Geschaukel, das Sie schon früher – auch zynisch – zum Besten gegeben haben, der Situation in keiner Weise gerecht wird.
In der Kritik an S21 engagieren sich Bürgerinnen und Bürger unterschiedlichster Provenienz ohne Eigennutz mit beachtlicher Sachkompetenz und sehr großem zeitlichem Aufwand.
Sie zitieren einen der für Sie „schönsten Verse der Bibel“ (Römer 15,33) mit dem Hinweis auf den „deus pacis“, den Gott des Friedens. Schön und gut, ist nie falsch! Aber soweit sind wir noch nicht.
Bis es dahin kommt, gilt das Wort des Propheten Jeremia: „Sie gieren alle, Klein und Groß, nach unrechtem Gewinn, und gehen mit Lüge um und heilen den Schaden meines Volks nur obenhin, indem sie sagen: »Friede! Friede!«, und ist doch nicht Friede. Sie werden mit Schande dastehen, … aber sie wollen sich nicht schämen und wissen nichts von Scham.“ (Jer.6,13f)
Spätestens seit den Ereignissen in Norwegen sollte davon Abstand genommen werden, vom „Frieden“ zu schwadronieren, aber „Krieg“ zu propagieren.
Karl Martell

Geschlichtet?

„Da spürt man, wer an welcher Stelle lügt“
heißt es in dem Kommentar einer renommierten Zeitung am Tag nach der so genannten Schlichtung. Gemeint sind die Bilder von den Fakten-auf-den-Tisch-Gesprächen. „Das andauernde, zur Schau getragene Grinsen ist endlich vorbei“, seufzte erleichtert einer, der die Übertragungen verfolgt hatte. In den Debatten am Runden Tisch wurde mehr offen gelegt, als manchem der Befürworter von S21 lieb sein konnte.
Die „Fakten“, die auf den Tisch kamen, manchmal zögerlich und spät, einige auch gar nicht („Wettbewerbsverzerrung“), wären im Verborgenen geblieben, hätten nicht in großer Anzahl Bürgerinnen und Bürger geduldig, hartnäckig, deutlich ihre Kritik geäußert und Transparenz eingefordert.

Und die Fakten hinter den „Fakten“? „Doch nur ein Infrastrukturprojekt“ wurde früher immer wieder verharmlosend behauptet, als spielten Behinderte, Alte, Kleinkinder keine Rolle bei der Planung von Infrastruktur?
„Keine Kompetenz in verkehrpolitischen und juristischen Fragen“ wurde unterstellt. Unzutreffend! Selbst vehemente Betreiber konnten im Nachhinein nicht umhin, die Kompetenz auf Kritikerseite anzuerkennen.
Damit ist auch das Gerede von „unreflektierter Agitation“, von „Halbwahrheiten“ und wie die Schmähungen gegen die Kritiker alle hießen, widerlegt. Leitende und weniger leitende Vertreter der Kirchen, obwohl sie „ethische Kompetenz“ für sich in Anspruch nahmen, haben zu solchen Diskriminierungen geschwiegen, in angestrengter „Neutralität“. Immer wieder mit dem Hinweis auf „die einen – die anderen“. Gedruckte, veröffentlichte Herabsetzungen der Kritiker wurden unverhältnismäßig aufgewogen gegen Rufe aus der Menge der Protestierenden.
Die eindrücklichen, „unausgewogenen“ alten Geschichten von denen, „die sich einen Namen machen wollten“, und von dem Hirtenjungen, der gegen den Hochgerüsteten antrat, schienen sie ebenso außer Acht zu lassen wie die Option für die Armen, von der Jesus und die Apostel überzeugt waren.
Und Bewahrung der Schöpfung? Nähmen ja beide Seiten für sich in Anspruch, hieß es. Auch da lohnte sich anstatt eines „die Einen – die anderen“ genaueres Hinschauen und Hinhören. (Vgl. dazu auf diesem Blog u.a. den Artikel: „Sich einmischen – Kirche hat schon Stellung bezogen“ von Hans-Eberhard Dietrich)

Erstaunlich und mehr als respektabel war und ist, wie sich Ehrenamtliche fachkundig behauptet haben. Mit Kompetenz und Gelassenheit, Redlichkeit und Engagement gegen die materiell bestens ausgestattete Riege der Betreiber.
Vom hohen Ross herunter geholt wurden sie, die im Gestus der Arroganz der Macht anfangs nichts weiter wussten, als auf Legalität zu pochen und großmundige Sprüche zu klopfen. Und schließlich mit blanker Gewalt aufzutrumpfen.
Übrigens: Dabei ging es nicht „um die Bilder, die wir nicht mehr sehen möchten“, sondern um Menschen, die an Körper und Seele – zum Teil erheblich – verletzt worden sind.
Das „bestgeplante Großprojekt“ hat sich an etlichen Stellen als schlecht geplant erwiesen. Leistungsfähigkeit, Sicherheitsvorkehrungen, Berücksichtigung Behinderter, um nur einige Beispiele zu nennen: fraglich bis mangelhaft.
Ökologische Bestandsaufnahme: windig!
Mächtige alte Bäume aus der so wichtigen Frischluftschneise umzupflanzen: abenteuerlich!
Die Mängelliste ist lang, die Ungewissheiten angesichts erster Kommentare der Betreiber erheblich.

Dass das Projekt S21 seit Anfang mehr als ein „Geschmäckle“ hat, war vorher offenkundig und ist durch die so genannte Schlichtung nicht ausgeräumt worden.  (Vgl. dazu auf diesem Blog u.a.: Presse, „Geistige Kessellage“, SZ vom 19.10.2010; und Bassler, die Rede des ehemaligen Stadtrats vom 30.8.2010)
Das Gerede von der Alternativlosigkeit des Projekts S21 wurde entzaubert. K21 musste als ernst zu nehmende Alternative anerkannt werden. Nur sei sie („leider, leider“) nicht realisierbar, weil nicht durchgeplant und nicht finanziert, beteuerte der so genannte Schlichter. Machtlos!
Vor seinem Spruch waren die Mienen der Betreiber noch versteinert, nun hellten sie sich auf. Propaganda („Unumkehrbarkeit“) und Drohungen („Schadensersatzforderungen“) zeigten Wirkung. Wer kostenträchtige Fakten schafft anstatt rechtzeitig die Fakten offen zu legen, kann lächelnd so argumentieren.
Ob das die „besseren Argumente“ sind, darf bezweifelt werden.
Notwendigkeit und Qualität von S21 sind nach der so genannten Schlichtung nicht plausibler geworden.
Der Makel bleibt.

Karikatur: Süddeutsche Zeitung vom 2.12.2010, Seite 4