Liebe Parkgemeinde,
ich versuche immer, ein aktuelles Ereignis oder Ergebnis von Überlegungen aus unserer Bewegung gegen S 21 im Lichte unseres biblischen Glaubens zu bedenken. Heute möchte ich das zu einer Überlegung tun, die das „Dritte Europäische Forum über unnütze und aufgezwungene Großprojekte“ herausgearbeitet hat – in einer Debatte am vergangenen Sonntagmorgen über „Ökonomische Hintergründe von Großprojekten“, an der ich auch teilgenommen habe: Großprojekte werden nicht gebaut, obwohl sie viel Geld verschlingen, sondern weil sie viel Geld verschlingen. Denn die herrschende Wirtschaftsweise hat ja zum Ziel, Geld zu machen, mehr Geld. Und deshalb zählt bei einem Projekt nicht die Steigerung des Gebrauchswertes einer Sache, sondern ihres Warenwertes. Wie schmerzlich uns diese Wahrheit hier bewusst wird, zeigt die nach oben offensichtlich offene Summe, die „Stuttgart 21“ einmal kosten wird. Es ist sozusagen oberste Tugend im Kapitalismus, möglichst immer mehr zur Ware zu machen, die immer schneller zirkuliert. Und besonders effektiv sind hierfür natürlich Großprojekte.
Die am Gebrauchswert einer Sache orientierte Vernunft geht nicht zusammen mit dem immer schneller finanziell zu verwertenden Geldwert einer Sache. Dabei entsteht immer mehr Geld, das wieder investiert werden will, damit es zu noch mehr Geld wird. Neulich hat mir jemand gesagt, dass gerade in der Bauwirtschaft neue Häuser erst gar nicht mehr so erbaut werden würden, dass sie viele Jahre halten. Von elektronischen Geräten wissen wir, dass sie immer öfter innerhalb der Garantiezeit schon kaputt gehen, weil Soll-Bruch-Stellen planmäßig eingebaut werden.
Selbstkritisch meine ich gegenüber unserer Bewegung feststellen zu müssen, dass wir über diese ökonomischen Gepflogenheiten zu wenig wussten, sonst hätten wir darauf wohl mehr hingewiesen. Und uns nicht so lange aufgeregt über Dinge, die im Kapitalismus sozusagen „normal“ zu sein scheinen.
Um bei unserem Bahninfrastruktur-Rückbauprojekt „Stuttgart 21“ zu bleiben: Erstens ist Bahnverkehr viel zu vernünftig im Sinne seines hohen Gebrauchswertes für Leute, die Geld sparen wollen. Deshalb Rückbau. Und wenn auch noch ökologische Pannen oder gar Katastrophen passieren, umso besser, dann gibt es wieder Aufträge für Leute, die das Blaue vom Himmel herunter versprechen. Ich, Jahrgang 1949, habe immer wieder in meiner Jugend Stammtischparolen aus den späten Sechziger und frühen Siebziger Jahren vernehmen müssen, die meinten, es müsse wieder mal ein Krieg her, damit danach wieder investiert werden könne – wie in den Jahren unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg.
Zweitens brauchen wir heute offensichtlich wohl keinen Dritten Weltkrieg mehr, um ein gutes Investitionsklima zu schaffen. Die Massenbeeinflussung über gezielte Desinformation und Manipulation über die Massenmedien, nicht nur im Italien Berlusconis, sondern auch bei uns ist der Grund dafür. – Siehe unsere famose Volksabstimmung, die begleitet war von fantastischen. Falschmeldungen über dann fällige Ausstiegskosten, über ein Ausstiegsgesetz, das eine Obergrenze des Geldausgebens seitens des Landes festlegen wollte: Todsünde im Kapitalismus.
Ich erinnere mich noch an des frischgebackenen Verkehrsministers Winfried Herrmann gemachte Feststellung, sinngemäß: „Bevor ich S 21 mitbauen muss, trete ich zurück.“ Das hätte er wohl tun sollen…
Wenigstens er hätte aus der Regierung aussteigen sollen und sich von denen distanzieren sollen, die auf der Fahrt gegen die Wand im Führerhaus platz nehmen wollen.
Der Widerstand, den es zu organisieren gilt, ist einer, der die Leute darauf hinweist, dass die Dinge, die wir machen und herstellen, auch einen tatsächlichen Gebrauchswert haben sollen, und nicht nur einen mit immer raffinierteren Tricks nur behaupteten.
Was schließe ich aus diesen Beobachtungen?
Wir haben ein Bewusstseinsproblem, auch ein Verständnisproblem. Wir haben zu wenig verstanden, warum viele Leute uns nicht verstehen. Wenn wir uns mit unserem Engagement für eine Obergrenze der Kosten dieses hiesigen Großprojektes de facto den Grundlagen des Kapitalismus verweigern – und auch noch darauf vertrauen, mit unseren sehr begrenzten Mitteln des Protestes und der symbolischen Aktion dieses Groß-Projekte stoppen zu können, dann brauchen wir die „Waffen aus der Höhe“, wie sie in dem bekannten Lied „O komm, du Geist der Wahrheit“ beschrieben sind:
Gib uns in dieser schlaffen
und glaubensarmen Zeit
die scharfgeschliffnen Waffen
der ersten Christenheit.
Sagen wir es einmal abgekürzt:
Das römische Reich hat über drei Jahrhunderte gebraucht, bis es eingesehen hatte, dass es die Christen brauchte.
Aber innerhalb ganz weniger Zeit hat es dann aus der Christenheit eine sehr angepasste und auch sehr gewaltbereite Organisation gemacht, mit dem einfachen Trick, ihm einen Anteil an der Macht zu geben.
Daraus ein erster Punkt, den es festzuhalten gilt:
Keine Gewalt, keine Macht gegen andere, keine Privilegien. Eben nicht: Wartet ab, bis wir einmal an der Macht sind.
Jetzt noch ein Gotteswort, wie es Paulus uns bezeugt im 2. Korintherbrief, Kapitel 13, Vers 7 ff:
„Jetzt bitten wir Gott, dass ihr nicht irgendetwas Schlechtes machen möget. Nicht damit wir als tüchtig vor euch erschienen, sondern damit ihr das tätet, was gut ist, auch wenn wir dagegen untüchtig erscheinen sollten. Denn wir können nichts ausrichten gegen die Wahrheit. Was wir aber tun können, ist für die Wahrheit zu stehen. * Deshalb auch freut es uns, wenn wir schwach sind und ihr stark. Unsere Gebete gelten eurer Vervollkommnung. Deshalb schreibe ich euch das, während ich noch nicht bei euch bin, damit, wenn ich bei euch sein werde, ich nicht gezwungen sein werde, gemäß der Autorität, die der Herr mir gegeben hat, aufzubauen und nicht zu zerstören.
Für den Rest, Brüder, freut euch, jagt der Vollkommenheit nach, seid getrost, seid einerlei Sinnes, lebt in Frieden; und der Gott der Liebe und des Friedens wird mit euch sein. Grüßt einander mit einem heiligen Kuss. Alle Heiligen grüßen euch. Die Gnade des Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit euch allen“.
*) Hervorhebungen durch G.L.
Zweitens: Lassen Sie es mich so sagen:
In der Lage, in der wir sind, sollten wir die Waffen aus der Höhe als Quellen aus der Höhe verstehen, gerade angesichts der wilden Bereitschaft der Kapitalisten, im Zweifelsfall lieber unsere Mineralquellen zum Versiegen zu bringen, als weniger Geld zu machen. Wir sollten uns nicht gegenseitig für unsere derzeitige Stimmungslage verantwortlich machen, sondern froh sein, dass wir etwas gelernt haben: Für den Gebrauchswert der Dinge einzutreten, ihn in aller Ruhe einzufordern, in aller Ruhe keine Ruhe zu geben, bis die Leute das verstanden haben. Das könnte unsere besondere Aufgabe als Parkgemeinde sein, als die wir nichts gegen, aber wohl viel für die Wahrheit (Gottes) tun können. Die Wahrheit auch, dass die Dinge, die wir herstellen und uns etwas kosten lassen, auch einen guten Nutzen, einen gewissen guten Gebrauchswert – für alle Menschen und Tiere und Pflanzen und auch für die sogenannte unbelebte Natur – haben sollten. Nicht nur einen immer größeren Warenwert für immer weniger und immer reichere „Kapitalisten“.
Die Menschen, die vom Trommelfeuer der Propaganda fast aus allen Kanälen des Rundfunks, des Fernsehens, der Presse, der Firmenzeitungen etc. p.p. platt gemacht werden und gegen ihre eigenen Interessen zur Wahl gehen, werden nachdenklich werden, wenn es auch noch andere Leute gibt, die eine eigene Überzeugung haben, auch eine eigene Fähigkeit, sich eine eigene Meinung zu bilden.
Wir stehen vor dem Jahrhundertprojekt, den „Gebrauchswert der Dinge zum Leben“ wieder in Erinnerung zu bringen. Es gibt auch ein Leben vor dem Tod. Danach auch, aber auch davor.
Fangen wir einfach an, mit Gottes Hilfe.
Oben bleiben
Amen
Lieber Gunther,
ich bin Dir sehr dankbar, dass Du auf diesen entscheidenden Punkt hinweist. Immer wieder sagen mir Befürworter von Stuttgart 21, das Projekt könne gar nicht teuer genug werden, je teurer desto heilsamer für uns alle. Diese kapitalistische neoliberale Vorstellung ist derart verbreitet, dass wir nicht müde werden dürfen, sie als Irrtum zu entlarven. Ich vermute, dass viele erst aufwachen, wenn wir klarmachen, dass diese Politik in den Staatsbankrott führt, in dem alle Anlagen, die mit Staatsanleihen zu tun haben, also speziell die privat vorsorgenden Lebensversicherungen, massiv verlieren werden. Da hört für viele der Spass an der Geldverschwendung auf, hier wird das Selbstzerstörerische des Mammon greifbar, wenn erkennbar gemacht wird, wer alles am Ende die Vergeudung bezahlen muss. Kretschmann muss jetzt in Baden-Württemberg trotz guter Konjunktur an die Beamtengehälter gehen, da sind wir gar nicht mehr so weit von Griechenland entfernt, obwohl es uns so gut geht, dass wir noch in den Länderfinanzausgleich zahlen müssen. Auch Grube weiß ja inzwischen, dass mit einer DB-AG, die sinnlos Geld vernichtet, keine großen Erfolge an Börse möglich sind, die den Bahnvorständen schöne Boni verschaffen. Unvernunft lässt sich eben nicht dauerhaft leugnen. Das lässt hoffen.
Herzlichen Gruß
Friedrich Gehring, Backnang