Imaginäres Theologisches Streitgespräch zum Großprojekt Stuttgart 21

Beim 3. Europäischen Forum gegen unnütze und aufgezwungenen Großprojekte stellte Friedrich Gehring im Workshop „Theologie, Kirche und Großprojekte“ das folgende Streitgespräch zur Diskussion:
Moderator : Ich darf zu Beginn die Beteiligten auf dem Podium vorstellen: Zu meiner Rechten sitzt Herr Pfarrer Bückle, er hat sich sehr profiliert zu dem Großprojekt Stuttgart 21 geäußert, in welcher Weise, das werden wir gleich von ihm hören. Ihm gegenüber darf ich Herrn Pfarrer Aufrecht vorstellen, seine Einschätzungen unterscheiden sich stark von den Auffassungen von Pfarrer Bückle, deshalb haben wir ihn eingeladen, damit es ein spannendes Gespräch werden kann. Ich bin Pfarrer Ausgleich, auch mein Name ist gewissermaßen Programm, ich werde versuchen, zwischen den beiden Positionen zu vermitteln, denn Jesus sagt ja: „Selig sind die Friedfertigen“.  So wollen wir auch hier und heute möglichst Konflikte vermeiden. Das sagt Jesus zwar nicht so, aber das ist ja heute die Hauptaufgabe der Kirchen in unserer friedlosen, konfliktreichen Welt. Ich kann mir zu Beginn den Hinweis nicht verkneifen: Sie erleben heute eine Premiere: Noch nie ist es bisher gelungen, zwei Pfarrer mit gegnerischen Positionen zu Stuttgart 21 an einen Tisch zu bringen zu einer theologischen Disputation. Wir dürfen also alle sehr gespannt sein, und ich darf nun Herrn Bückle bitten zu beginnen, denn er war der erste, der sich als Pfarrer zu dem umstrittenen Projekt so geäußert hat, dass es einen öffentlichen Aufschrei gab. Bitteschön, Herr Bückle.
Bückle: Vielen Dank, Herr Ausgleich, für die Einladung. Ich freue mich sehr, endlich einmal zusammenhängend meine theologischen Argumente für Stuttgart 21 vorbringen zu können. Die biblischen Wurzeln meiner Argumente stammen von unserem Apostel Paulus, dem ja gerade die reformatorischen Kirchen so unendlich viel verdanken. Wie wir alle wissen, ist das Projekt Stuttgart 21 in einem vorbildlichen Planungsprozess von allen zuständigen parlamentarischen Gremien beschlossen und schließlich noch durch einen Volksentscheid legitimiert worden. Dass dieser Volksentscheid die Regierungsbeschlüsse bestätigt hat, darf insbesondere in Baden-Württemberg nicht wundern, denn unser christlich geprägtes Musterländle weiß ganz besonders seit der Reformation, dass die Unterordnung unter die Regierung und ihre Beauftragten eine oberste Christenpflicht darstellt, wie wir im wichtigsten Brief des Apostels Paulus, dem Römerbrief, im 13. Kapitel lesen:  „Jedermann sei untertan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat. Denn es ist keine Obrigkeit außer von Gott“. Da nun dieses Projekt Stuttgart 21 von der Obrigkeit beschlossen ist, darf es im Volk keinen Widerstand mehr gegen den Bau dieses Tiefbahnhofs geben, zumindest in dem Teil des Volks, das sich als christlich versteht.
Aufrecht: Lieber Bruder Bückle, es dürfte sich doch inzwischen herumgesprochen haben, dass Römer 13 ein Einschub von späterer Hand in den Römerbrief des Paulus ist, was am Zusammenhang und an der Begrifflichkeit erkennbar ist, die sonst bei Paulus nie auftaucht. Aber selbst wenn es ein Text aus der Hand des Paulus wäre, so steht dem doch die unmissverständliche Herrschaftskritik Jesu gegenüber, wie wir in Markus 10 lesen, wo Jesus warnt: „Ihr wisst, die als Herrscher gelten, halten ihre Völker nieder, und ihre Mächtigen tun ihnen Gewalt an. Aber so ist es unter euch nicht; sondern wer groß sein will unter euch, der soll euer Diener sein; und wer unter euch der erste sein will, der soll aller Knecht sein“. Wir dürfen also in unserem christlichen Land von einer Regierung erwarten, dass sie dient und das Volk fragt, was ihm dient, bevor ein Großprojekt beschlossen wird. Die Kanzlerin hat selbst die Landtagswahl vom 27. März 2011 zur Volksabstimmung über Stuttgart 21 ausgerufen. Diese Wahl hat dazu geführt, dass die Regierung einen Kostendeckel für das Projekt beschlossen hat. Damit war klar, dass das Projekt nicht mehr finanzierbar ist. Eine im Sinne Jesu dem Volk dienende Regierung hätte damit das Projekt aufgeben müssen. Nun haben wir aber miterleben müssen, dass der Bahnaufsichtsrat weitere Milliarden zugesagt hat, ohne von der Bundesregierung daran gehindert zu werden. Der Bund als Alleinaktionär wäre nach Aktienrecht dazu verpflichtet gewesen. Kurz danach hat Bundesverkehrsminister Ramsauer öffentlich verkündet, dass wenn die Landesregierung sich an den weiteren Kosten nicht beteiligt, das Geld von den Bahnkunden aufgebracht werden muss. Eine dem Volk dienende Regierung sieht anders aus.
Bückle: Sie scheinen zu übersehen, wem die Regierung dient. Sie dient z. B. dem Unternehmer Herrenknecht, der die Bohrmaschinen für die Tunnel liefern darf. Das schafft Arbeitsplätze. Außerdem bezahlt Herr Herrenknecht aus seinen Profiten eine halbe Pfarrstelle. So dient die Regierung nicht nur Herrn Herrenknecht, sondern auch dessen Mitarbeitern und den Mitgliedern seiner Kirchengemeinde.
Aufrecht: Sie scheinen dabei das entscheidende zu übersehen: Im Sinne Jesu müsste die Regierung der Knecht aller sein, nicht nur der von Herrn Herrenknecht und seinen Mitarbeitern. Die Regierung schädigt aber die weit überwiegende Mehrheit dadurch, dass sie Herrn Herrenknecht erlaubt, den Bahnkunden Milliarden aus der Tasche zu ziehen für ein völlig überflüssiges Projekt, das den Bahnverkehr für alle auch noch verschlechtert. Herr Herrenknecht mag sein Geld mit vernünftigen Projekten verdienen, die wirklich sinnvoll sind, aber doch nicht mit einem solchen Unsinnsprojekt, bei dem mit massivster Polizeigewalt der Widerstand aus der Bevölkerung niedergeknüppelt werden muss.
Bückle: Ich kann nicht glauben, dass die Bibel sich widerspricht. Und wenn ich in Röm 13 von der Regierung als der Dienerin Gottes lese, die das Schwert nicht umsonst trägt, sondern gerade als Dienerin Gottes die Bösen strafen muss, dann können sie doch nicht irgend ein anderes Bibelwort dagegen anführen. Die Polizisten hätten ihre Knüppel und Wasserwerfer nicht benutzen müssen, wenn sich die Demonstranten gehorsam entfernt hätten.
Aufrecht: Ich halte ihnen nicht irgendein Bibelwort entgegen, sondern ein Wort Jesu. Er ist von seiner Obrigkeit brutal zu Tode gefoltert worden, das Kreuz war die Strafe für Regimegegner, um alle Kritiker abzuschrecken. Und sie wollen dem Wort und dem Kreuzestod Jesu das angebliche Pauluswort von der Obrigkeit entgegensetzen, die zu Recht Gewalt gegen die Untertanen übt und damit Gott dient?
Bückle: Natürlich! Wie wir alle wissen, hat die römische Obrigkeit durch die Kreuzigung Jesu die Sünden der Welt getilgt. Nicht nur Paulus, Jesus selbst hat von seinen Jüngern Gehorsam gegen den Kaiser gefordert, als er sagte: „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist“, nachzulesen in Mk 12.
Aufrecht: Dieses Jesuswort meint das genaue Gegenteil von Gehorsam. Es geht hier um das Steuern zahlen an den Kaiser. Jesus lässt sich von denen, die ihn aufs Glatteis führen wollen, eine kaiserliche Münze zeigen. Jeder Jude damals wie heute versteht sofort weshalb. Das Bild des Kaiser, der Gott sein will, macht die Münze zu einem Götzenbild, das nach den 10 Geboten kein Jude in die Hand nehmen oder gar in der Tasche tragen darf. Das Wort Jesu: Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist, bedeutet deshalb einen Boykott römischen Geldes, eine sehr effektive Form des Widerstands und des Ungehorsams gegen den Kaiser, denn ohne kaiserliches Geld kann er das Volk nicht mehr so einfach unterdrücken und ausbeuten. Deshalb musste Jesus als Regimegegner sterben.
Bückle: Sie verstehen es hervorragend, Jesus die Worte im Mund herumzudrehen.
Ausgleich: Bevor wir allzu spitzfindig werden, möchte ich doch daran erinnern, dass wir über das Projekt Stuttgart 21 sprechen wollten. Was hat der Auslegungsstreit zu Mk 12 mit diesem Bahnhof zu tun.
Bückle: Die Gegner können es einfach nicht verwinden, dass sie verloren haben.
Aufrecht: Das ist jetzt aber kein theologisches Argument. Entscheidend ist, dass Jesus zum Kampf gegen Ausbeutung durch die Mächtigen mit friedlichen Mittel aufruft. Stuttgart 21 ist ein krasses Beispiel für die Ausbeutung breiter Schichten der Bevölkerung durch ein paar wenige Profiteure, die von der Regierung freie Hand bekommen. Die neoliberale Politik will uns einreden, das sei gut für alle. Als Christen müssen wir in der Nachfolge Jesu klarmachen, dass dabei die Armen ärmer und die Reichen reicher werden und dass deshalb Widerstand Christenpflicht ist, alles andere wäre Mammonsdient.
Bückle: Es wird ihnen nichts nützen, wenn sie immer nur den Reichtum schlecht machen wollen. Wohlstand ist uns von Gott geschenkt, wir sollten ihm dafür dankbar sein.
Aufrecht: Dann sollten sie aber dazu sagen, was Jesus von den Reichen erwartet. Nehmen sie doch den reichen Mann, dem Jesus rät, all seine Habe zu verkaufen und den Erlös an die Armen zu verteilen, nachzulesen Mk 10,21.  Oder erinnern sie an das Wort Jesu: „Macht euch Freunde mit dem ungerechten Mammon“, nachzulesen Lk 16,9; oder an die Warnung Jesu: „Ihr könnt nicht Gott und dem Mammon zugleich dienen“, nachzulesen Mt 6,24.
Ausgleich: Also jetzt habe ich fast den Eindruck, dass die Worte Jesu zu theologischen Totschlagargumenten werden. Dazu habe ich einen hübschen Schwank von Johann Peter Hebel mitgebracht:
In Hertingen, als das Dorf noch rothbergisch war, trifft ein Bauer den Herrn Schulmeister im Felde an.
„Ist’s noch euer Ernst, Schulmeister, was ihr gestern den Kindern zergliedert habt: So dich jemand schlägt auf deinen rechten Backen, dem biete den anderen auch dar?“ Der Herr Schulmeister sagt: „Ich kann nichts davon, ich nicht dazu tun.  Es steht im Evangelium“. Also gab ihm der Bauer eine Ohrfeige, und die andere auch, denn er hatte schon lang einen Verdruss auf ihn.
Indem reitet in einer Entfernung der Edelmann vorbei und sein Jäger. „Schau doch nach, Joseph, was die beiden mit einander haben“. Als der Joseph kommt, kommt der Schulmeister, der ein starker Mann war, gab dem Bauern auch zwei Ohrfeigen, und sagte, es steht auch geschrieben: „Mit welcherlei Maß ihr messet, wird euch gemessen werden. Ein voll gerüttelt und überflüssig Maß wird man in euren Schoß geben“. Und zu dem letzten Sprüchlein gab er ihm noch ein halbes Dutzend drein.
Da kam der Joseph zu seinem Herrn zurück und sagte: „Es hat nichts zu bedeuten, gnädiger Herr; sie legen einander nur die heilige Schrift aus.“
Merke: man muss die heilige Schrift nicht auslegen, wenn man’s nicht versteht, am allerwenigsten so. Denn der Edelmann ließ den Bauern noch selbige Nacht in den Turm sperren auf 6 Tage, und dem Herrn Schulmeister, der mehr Verstand und Respekt vor der Bibel hätte haben sollen, gab er, als die Winterschule ein Ende hatte, den Abschied.  Soweit Johann Peter Hebel.
Ich denke, wir sollten so viel Respekt vor der Heiligen Schrift haben, dass wir bei einem Bahnhof, auch wenn er umstritten ist, die Bibel außen vor lassen. Wir können bei technischen Entscheidungen nicht so tun, als habe die Bibel eine klare Weisung, was dabei besser oder schlechter, christlicher oder unchristlicher sein könnte. Es muss doch unter Christen immer vor allem darum gehen, dass wir bei Meinungsverschiedenheiten friedlich bleiben und Toleranz gegenüber den anders denkenden üben. Insofern bedanke ich mich bei Ihnen, meinen Gesprächspartnern, dass Sie friedlich und tolerant ihre Argumente ausgetauscht haben und das Projekt Stuttgart 21 nun seinen friedlichen Gang nehmen kann. Und Ihnen allen danke ich für Ihre Aufmerksamkeit.

5 Antworten zu “Imaginäres Theologisches Streitgespräch zum Großprojekt Stuttgart 21

  1. Wunderbar. Vor allem der Schluß. Hauptsache die Bibel außen vor lassen und Stuttgart 21 bauen. Da ist Herr Ausgleich gut getroffen. Wo es doch Kriterien geben würde, wie man solche Großprojekte beurteilen kann aus kirchlicher Sicht. Ich erinnere an die Denkschrift der EKD „das rechte Wort zur rechten Zeit“, die in Württemberg partout niemand diskutieren möchte. Oder würde man sich dann doch nur eben die Zitate aus der Denkschrift um die Ohren hauen statt der Bibelzitate? Ich befürchte, ja.

  2. Vorschlag: schickt diesen Text (imaginäres Streitgespräch) an alle Kandidaten zur Kirchenwahl mit der Bitte, zu sagen, welcher Position sie sich am nächsten fühlen. Und vorher können wir Wetten abschließen, was dabei herauskommt.

  3. Komische Theologen hier auf dieser Seite! Bückle (wohl von Bückling), Aufrecht (wohl von allwissender Wahrheit) und Ausgleich (wohl ein Diener der Obrigkeit). Im Endeffekt bleibt bei diesem imaginären Streitgespräch nur ein Anflug von Haßpredigern übrig. Eigentlich sollte man sich für dieses Machwerk als Christ in Grund und Boden schämen!

  4. Lieber Didi,
    es ist für mich nicht erkennbar, inwiefern die drei dargestellten diskutierenden Theologen einen „Anflug von Hasspredigern“ übrig lassen. Könnten Sie das näher erläutern? Sie machen auch nicht deutlich, warum „man“ sich „als Christ“ für dieses“Machwerk“ „eigentlich“ „in Grund und Boden schämen“ sollte. Solange mir das nicht erklärt wird, bin ich auf dieses Werk stolz. Es fand auch allgemeinen Beifall beim Vortrag am 27. Juli.
    Mit herzlichem Gruß
    Friedrich Gehring

  5. Demnächst sind Kirchenwahlen. Synodale sind sozusagen Abgeordnete. Kirchenpolitiker. Wessen Interessen vertreten sie? Wie ist ihr Selbstbild? Sind es Christenmenschen, die ‚aus Versehen‘ in die Politik geraten sind? Sind es Politiker mit kirchlichem Hintergrund? Ist ihr Glaube und ihre Bibelkenntnis relevant für die Entscheidungen, die sie treffen? Wenn ja, können sie darüber Rechenschaft ablegen? Haben die Synodalen schon einmal grundsätzlich über das Verhältnis von Kirche und Staat/ Politik nachgedacht? Was ist dabei herausgekommen?
    Man kann da sicher unterschiedlicher Ansicht sein. Aber wenn jeder diese Fragen für sich geklärt hätte, könnte man sich vernünftiger über die Bahnhofsproblematik unterhalten. Ob es in Ordnung war, zur Teilnahme an der Volksabstimmung aufzurufen, obwohl diese doch keine kirchenpolitische Relevanz hatte. Ob es in Ordnung ist, zu der Prügelorgie der Polizei im Schloßgarten am 30.9.2010 zu schweigen, obwohl viele Stuttgarter Kirchenmitglieder Opfer waren. Ob es richtig ist, wegen der angeblichen Arbeitsplätze FÜR den Tiefbahnhof zu sein, was ein durchaus politisches Argument ist, aber das Argument, die Schöpfung sei durch den Tiefbahnhof bedroht, was ein theologisches Argument ist, nicht gelten zu lassen. Und so weiter.
    Ich bin gespannt, ob ich in den nächsten Monaten Stuttgarter Kirchenpolitiker finde, die sich zum Verhältnis von Kirche und Politik am Beispiel von Stuttgart äußern.

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