Befürworter von Stuttgart 21 verweisen darauf, dass nach der Wahl vom 27. März immer noch eine Zweidrittelmehrheit pro S 21 aus CDU, SPD und FDP im Landtag sitzt. Die meisten dieser Abgeordneten und ihre Wähler verstehen sich wohl als Christen. Wie kommen sie als Christen dazu?
Gelegentlich wurde schon gefragt, weshalb in der „Gemeinsamen Erklärung“ eingeräumt werde, „dass es auch Argumente pro S21 gibt“ und „sich auch Christen pro S21 aussprechen können“. Noch spannender erscheint mir die Frage, wie Christen für S 21 theologisch argumentieren, denn dann wäre eine theologische Auseinandersetzung mit ihnen möglich.
Der Evangelische Oberkirchenrat in Stuttgart macht das Schweigen zu S 21 zum christlichen Programm und folgt damit offenbar dem in lutherischen Kirchen seit Jahrhunderten gültigen Grundsatz aus Römer 13: „Jedermann sei untertan der Obrigkeit.“ Sich zu S 21 zu äußern, brächte die Gefahr mit sich, der Obrigkeit widersprechen zu müssen, was zugleich Aufruhr gegen Gott wäre, der alle Obrigkeit einsetzt. Mit dieser Theologie könnten Christen sogar für die Meinung, am 30.9.2010 sei eine strafrechtlich relevante Sitzblockade von der Polizei rechtmäßig aufgelöst worden, biblisch argumentieren. Denn in dieser theologischen Sichtweise ist die Staatsmacht „Gottes Dienerin, eine Rächerin zur Strafe über den, der Böses tut.“ (Röm 13,5)
Dass diese theologische Argumentation heute nur noch selten vorgetragen wird, hat zunächst historische Gründe. Diese Theologie hat im 3. Reich dazu geführt, dass nicht nur die „Deutschen Christen“, sondern auch die „Bekennende Kirche“ in Hitler den von Gott gesandten Führer gesehen und deshalb seinen vaterländischen Krieg mitgemacht haben. Diese fatale Konsequenz aus Römer 13 ist bis heute kirchlich nicht wirklich aufgearbeitet. Die „Bekennende Kirche“ hat im „Stuttgarter Schuldbekenntnis“ vom Oktober 1945 nur die Schuld des Volkes, nicht aber die Schuld der Kirchenleitung und der herrschenden Theologie bekannt. Unbekannte Schuld wirkt erfahrungsgemäß weiter. So hat der Württembergische Landesbischof von Keler z. B. 1983 noch den Atomkrieg vor der Landessynode befürwortet, obwohl er eingestehen musste, dass dabei die Freiheit zerstört wird, die verteidigt werden sollte. Er hat dabei nicht mehr offen mit Römer 13 argumentiert, war aber dieser Theologie entsprechend regierungstreu.
Der zweite Grund, warum mit Römer 13 kaum noch offen argumentiert wird, liegt darin, dass die Schwarzweißmalerei, hier gute Obrigkeit, da böses Volk, das mit dem Schwert in Schach zu halten ist, im Widerspruch steht zu dem, was Jesus seinen Jüngern sagt: „Ihr wisset, dass die weltlichen Fürsten ihre Völker niederhalten, und ihre Mächtigen tun ihnen Gewalt. Aber so soll es nicht sein unter euch; sondern wer groß sein will unter euch, der sei euer Diener; und wer unter euch der Erste sein will, der sei aller Knecht“ (Mk 10, 42-43). Jesus fordert also von uns Christen, dass wir der Gewaltkultur der Herrschenden eine Kultur des Dienens entgegensetzen. Anders als in Römer 13 sieht Jesus, dass auch Regierende Menschen sind, die Fehler machen können.
Dass Stefan Mappus für seinen gutsherrnartigen Regierungsstil nach Römer 13 nur so geringfügig abgestraft worden ist und immer noch 39 Prozent der Wähler ihn weiter haben wollen, lässt darauf schließen, dass die Theologie von Römer 13 in den Herzen vieler Christen in Baden-Württemberg immer noch lebendig ist. Einiges spricht dafür, dass der württembergische Pietismus, der im 18. Jahrhundert noch eine bürgerliche Befreiungsbewegung war, im 19. Jahrhundert von lutherischer Theologie derart dominiert wurde, dass er der Entwicklung zum „autoritären Charakter“ mit seinem Untertanengeist Vorschub leistete, den die analytische Sozialpsychologie ab 1930 näher beschrieb. Die Proteste gerade auch von Christen gegen das Projekt Stuttgart 21 und seine gutsherrnartige Durchsetzung sind ein Zeichen der Hoffnung, dass württembergische Christen wieder zurückfinden zu der Protestkultur der bürgerlichen Befreiungsbewegung, die der württembergische Pietismus ursprünglich war.
Nachdem das Problem der Atomkraft auf tragische Weise neue Aufmerksamkeit erfährt und die Kanzlerin auch die Kirchen an einer Atomkraftethikkommission beteiligen will, können wir nur inständig hoffen, dass die dorthin berufenen kirchlichen Verantwortungsträger nicht wieder wie bei Stuttgart 21 regierungsergeben den Kopf in den Sand stecken und sagen, sie könnten in der Bibel keine Weisung finden für Abschaltung oder Laufzeitverlängerung.
Friedrich Gehring, Pfarrer i. R.
Der Mensch, der Glaube,der Verstand.
Was glaubt Ihr denn was die Bibel ist ? Glaubt Ihr wirklich Ihr könnt euch vor einer Realität hinter dem Buch verstecken? Glaubt Ihr Ihr könnt oder dürft Verantwortung ignorieren ?
Ihr habt einen Verstand ! der wurde Euch geschenkt von wem auch immer. Vernunft, Tolleranz, Solidarität sind Grundsätzt der Schöpfung. Die ist mehr als die Bibel.
Wenn es ein selbstloßes Argument für S21 giebt, so soll es geschehen, wenn nicht muß man auch einen tobsuchtsanfall des Herren Jesus wie in dem Tempel ertragen. Ich glaube nicht, daß das sein einziger gewesen sein Dürfte und wenn die Vertreter der Kirche in sich gehen werden… Viel Spaß beim Donnerwetter.
Es grüßt einer der viele Bibeln gebunden hat, aber nicht dazugehört.
@Artikel Gehring
Gut gemeinte Absicht und Charme einer gewissen Exotik seiner kirchengeschichtlichen Betrachtungen fließen bei Amtsbruder Gehring schwer zu entwirren in- und durcheinander.
Gewiss, die Wortkargheit der Kirchenleitung ist zu beklagen. Kann ihr deshalb eine heimliche Agenda nach Römer 13 unterstellt werden? Und ist stattdessen auf ein unheimliches Erwachen erweckter Pietisten zu hoffen?
Wie soll das gehen? Worauf beruht solche Hoffnung?
Platt biblizistisch wie eh und je neigt sich der (Neu-)Pietismus weitgehend dem Evangelikalismus US-amerikanischer Prägung zu. Der wiederum ein tragendes Element der Bush-Administration war und jetzt der verheerenden Tea-Party-Bewegung ist.
Wie soll ein solcher (Un-)Geist mit der Bürgerbewegung gegen S21 und dessen Implikationen zu vereinbaren sein? Und mit dem AKW-Protest? Und überhaupt mit einer Weiterentwicklung demokratischer Verhältnisse?
(Wer mit dem Zustand des Pietismus weniger vertraut ist, schaue sich die Seiten der so genannten „Evangelischen Allianz“ an: http://www.ead.de/die-allianz )
Da kann man nur noch fragen, wer sich eher bewegen wird: Die Piusbrüder in Richtung „Wir sind Kirche“ oder die Pietisten zu einer „Protestkultur der bürgerlichen Befreiungsbewegung“?
Nur gegen „die da oben“ reicht nicht angesichts des komplexen Themas S21.
Schließlich: Wie hält’s Amtsbruder Gehring nach dem Wahlergebnis am 27. März mit Römer 13?
Warum so kompliziert denken? Wer, von uns Laien, kennt schon Römer 13 (ich nehme mir jetzt die Freiheit, kurz einmal für alle Laien zu sprechen)? Genügt es nicht, das wohl allen bekannte Beispiel des Turmbaus zu Babel zu nehmen? Ist etwa Stuttgart mit seinem S21-Gesamtprojekt (also mit allen Immobilienprojekten) nichts anderes als ein modernes Babylon? … Trump-Tower läßt grüßen … Und wenn wir die Störungen der Sprache zwischen Gegnern und Befürwortern betrachten, dann haben wir nichts anderes als eine moderne Sprachverwirrung. Das Resultat kann jeder in der Bibel nachlesen – gut, ebenso wie Römer 13.
Wieder zeigt sich, dass Christenm die auf der anderen Seite als die Kriche stehen, im Recht sind. History repeats itself wie der Angelsachse sagen würde.
Die Sache mit dem Turmbau ist leider etwas komplizierter als es in der „Gemeinsamen Erklärung“ zum Ausdruck kommt. Der „Chefredakteur“, der die ersten 11 Kapitel der Bibel zusammengefügt hat, will zwar vermutlich seine These von der Verderbtheit der auszurottenden Menschen (1. Mose 6, 5-7) mit der Turmbaugeschichte beweisen, aber diese Geschichte gibt das aus ihrem Wortlaut nicht her. Nicht eine profitgierige Elite lässt dort auf Kosten des Volkes bauen, sondern das Volk selbst beschließt basisdemokratisch aus Angst vor Zerstreuung den Bau einer Stadt und eines Turmes in Eigenarbeit, um sich einen Namen zu machen, also eine gemeinsame Identität zu stiften (1. Mose 11,4). Was ist daran böse oder Hybris? Böse wird hier allenfalls Gott aus Angst, die Menschen könnten zu mächtig werden. So zerstört er durch die Verwirrung der Sprachen die gemeinsame Schaffenskraft des Volkes
(V. 5-8). Das politische Prinzip „Teile und herrsche“ wird als göttlich dargestellt und Gott steht da als ein Despot, der eifersüchtig auf Machterhalt aus ist.
Aus christlicher Sicht ist festzuhalten, dass an Pfingsten dieser despotische Fluch der Sprachenverwirrung aufgehoben wird (Apostelgeschichte 2,5-8): Die Völker dürfen in der Kirche wieder gemeinsam stark sein, Gott ist nicht mehr Despot, sondern fördert als gütiger Vater die Solidarität der Völker. Die Menschen gelten nicht mehr als durch und durch böse, sondern als lernfähig zum Besseren (z. B. der heimkehrende „verlorene“ Sohn in Lukas 15,11-24). Genau hierin liegt der Grund, warum ich, zum Staunen des Kollegen Martell, vor und nach der Wahl vom 27. März pietistische Wähler in Deutschland, Fundamentalisten in den USA, abgewählte und gewählte Politiker, ja sogar mich selbst noch für entwicklungsfähig halte.
Gut, Herr Gehring, aus bibelkundlicher Sicht ist die Geschichte vom Turmbau zu Babel wohl anders zu interpretieren, als sie der Laie kennt, und ich outete mich ja als solcher. Dennoch sind die Parallelen vorhanden, denn auch S21 wird ja von einem nicht unerheblichen Teil der Bevölkerung getragen und befürwortet, „um sich einen Namen zu machen“ als neues Herz Europas. Und man sollte S21 nicht als „böse oder Hybris“ abtun, da macht man es sich dann auch zu einfach. Was ist an S21 böse? Worin steckt die Hybris? Da müssen wir noch lange diskutieren. Für mich ist das Projekt einfach unsäglich dumm, verlogen, an den wirklichen Bedürfnissen vorbei geplant, auf die Interessen einer Minderheit von Gewinnlern ausgerichtet. Die Sternengucker hätten sich über den Turm zu Babel auch gefreut. Und es ist zu hoffen, dass wir alle entwicklungsfähig sind und bleiben.
Meine Argumentation richtet sich weniger gegen Laien als vielmehr gegen die Theologen, die seit Jahrhunderten bis heute das böse Volk in die Turmbaugeschichte einlesen, um den Herrschenden eine göttliche Rechtfertigung zum Niederhalten des Volks zu geben im Sinne von Römer 13. Ich werbe unter Theologen und Laien dafür, sich von dieser Herrschaftsideologie endlich konsequent zu verabschieden. Als Theologe bin ich mit Laien wie Ihnen, Herr Scheffler, darin einig, dass der klassische theologische Vorwurf der Hybris nicht weiter führt und dass wir uns besser auf die geduldige Überzeugungsarbeit einlassen, die hinsichtlich des Preis-Leistungs-Verhältnisses die Überlegenheit von K 21 erweist. Dabei bleibt uns nichts anderes als auf die Entwicklungsfähigkeit der Entscheidungsträger zu hoffen oder im Falle des Volksentscheids auf die der Mehrheit der Wähler.
Ich muss gestehen, dass ich bislang die Geschichte vom Turmbau zu Babel nicht so vestanden habe, wie Sie sie deuten: „das böse Volk ….., um den Herrschenden eine göttliche Rechtfertigung zum Niederhalten des Volks zu geben“. Ich kenne eigentlich kein einziges „Turmbauprojekt“ weltweit, das vom „Volk“ ausgegangen wäre. Für mich ist die Hybris immer mit den regierenden Schichten verbunden, die Regierten folgen allenfalls der Verblendung, die mit allen diesen Leuchtturmprojekten einhergeht. Schon immer regierte das Geld die Welt, wohl auch als man noch Muscheln oder Feuersteinknollen als Zahlungsmittel verwendete. Die Strafe Gottes konnte sich also, meines Dafürhaltens nach, nicht gegen das Volk richten, denn ist die Sprachverwirrung nicht auch so zu interpretieren, dass das Volk plötzlich seine Herrscher nicht mehr verstanden hat und vice versa? Unter dieser Sprachverwirrung leiden wir ja tagtäglich. Für mich eine einigermaßen tröstliche Idee „seit 5000 Jahren immer nichts Neues“.
Also mal so gesagt. Egal wie man zur Kirche steht, Jesus war ja ein recht moderner Mensch mit für die damalige Zeit geradezu revolutionären und modernen Ideen. Daher sind ihm ja seine Landleute zu jener Zeit auch nicht gefolgt. Auf die heute Zeit übertragen bedeutet dies, Jesus würde selbstverstaändlich für den modernen Bahnhof eintreten und seine rückwärtsgewandten Mitbürgern die Hölle an den Hals wünschen.
Eben, für einen modernen Bahnhof würde er eintreten, der den Interessen der Menschen entspricht, also für K21 – und nicht für diesen rückwärtsgewandten, zwanzig Jahre alten Ladenhüter namens S21.
Aus meiner Eigenschaft als Christ eine Position pro oder contra S21 herzuleiten, erscheint mir auch nach all den Erläuterungen weit,, weit hergeholt.
Wenn uns eine höhere Instanz ausreichend Verstand gegeben hat, dann auch, Prioritäten zu setzen und uns dort zu engagieren, wo wirklich Not herrscht.
Alles andere ist für mich der Versuch (in beiden Richtungen) das Christsein zu in tnstrumentalisieren