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„Mütter stellen sich quer“ – Guntrun Müller-Enßlin

Statement zu „Stuttgart 21“ anlässlich der Aktion „Mütter stellen sich quer“ am 06.08.2010

Liebe Bürgerinnen und Bürger,

Mütter aus Stuttgart haben sich heute Abend hier versammelt und angekettet. Wir Mütter protestieren dagegen, dass Milliarden von Steuergeldern in einem großen Loch namens Stuttgart 21 verbuddelt werden sollen. Als Mütter stehen wir ein für die Zukunft unserer Kinder und setzen mit dieser Aktion ein Zeichen dafür. Die Zukunft unserer Kinder steht für uns an erster Stelle. Für diese Zukunft fehlt  das Geld derzeit an allen Ecken und Enden.

Beim Blick auf die Verteilung der Finanzmittel hier in Stuttgart ergibt sich ein groteskes Bild: Die Stadt steckt mit über einer Milliarde Euro im Projekt Stuttgart 21, bringt aber beispielsweise nicht die 340 Millionen €uro auf, die für Schulsanierungen gebraucht würden.

Bei der Betreuung von Kindern zwischen 0 und 12 Jahren sind gerade mal 30% abgedeckt, der Bedarf liegt bei über 50%. Und laut neuesten Erhebungen lebt jedes achte Kind unter 7 Jahren in Baden-Württemberg an der Armutsgrenze, Ten denz steigend.

Wir Mütter sagen: Die Qualität der Zukunft unserer Kinder hängt nicht davon ab, ob sie künftig in einem tiefer gelegten Bahnhof ankommen und abfahren können. Wenn sie eines Tages hier in Stuttgart keine Zukunft mehr haben, werden sie so oder so einen Weg finden, um wegzukommen. Die Zukunft unserer Kinder hängt davon ab, ob sie ein gutes Bildungsangebot und die entsprechenden Rahmenbedingungen bekommen. Sie hängt davon ab, dass ihnen nicht nur ein Minimum an sozialer Absicherung zuteil wird, sondern eine finanzielle Förderung, die auch Kindern aus ärmeren Bevölkerungsschichten eine echte Chance bietet. Die Ganztagesbetreuung muss gefördert werden, Schulküchen müssen eingerichtet werden, die Möglichkeiten der Hausaufgabenbetreuung intensiviert werden. Wenn die 14.000 Kinder, die in Stuttgart an der Armutsgrenze leben, monatlich 50,- €uro auf die Bonuscard bekämen, würde das die Stadt jährlich gerade mal schlappe achteinhalb Millionen Euro kosten, ein Klacks gegenüber den Tausend Millionen, die unsere Stadt für Stuttgart 21 locker macht.

Wir wissen ganz genau: Für all diese wichtigen Dinge, die unseren Kindern nützen würden, ist im Prinzip Geld da, es muss nur entsprechend eingesetzt werden.

Gleiches gilt für die Finanzmittel auf Bundesebene. Da hat doch Ministerpräsident Mappus kürzlich bei der Bekanntgabe der Kostenneuberechnung für die Neubaustrecke Wendlingen – Ulm sinngemäß verlauten lassen, die zusätzlichen Mehrkosten von fast 900 Millionen €uro brauchten uns nicht zu bekümmern, die zahle sowieso der Bund. Seine Aussage ist an Zynismus nicht zu überbieten! Da fragen wir Mütter uns:  Ja, sind das etwa keine Steuergelder von Bürgerinnen und Bürgern, nur weil sie vom Bund kommen? Steuergelder, die zwischen Stuttgart und Ulm auf der Strecke bleiben und ebenfalls ohne Not verbuddelt werden sollen, in einem Projekt, das eine überwältigende Bürger-Mehrheit gar nicht will? Während gleichzeitig auf Bundesebene ein Sparpaket geschnürt wird, das in skandalöser Weise die sozial Schwachen benachteiligt? Es schreit zum Himmel, wenn die Kürzung des Elterngeldes ausgerechnet  auf dem Rücken von Hartz IV-Empfängern ausgetragen wird,  man fasst es nicht! Die Leidtragenden sind hier insbesondere allein erziehende Mütter und, abhängig von ihnen, wiederum die Kinder.

Und hier ist die Botschaft von uns Müttern, die wir heute Abend hier sind – an alle, die es angeht – an die Stadt, an das Land und nach Berlin: Wir brauchen beide Projekte nicht! Wir brauchen weder den Bahnhof, noch die Neubaustrecke Wendlingen-Ulm. Was wir brauchen, ist eine solide und großzügige Finanzierung der Zukunft unserer Kinder. Erfolgt kein Ausstieg aus dem Großprojekt, so wird das nicht nur uns, sondern auch noch unsere Kinder auf Jahrzehnte hinaus finanziell in Ketten legen.

Wir appellieren an die Verantwortlichen an den Schaltstellen:  Tun Sie alles, um das Bauprojekt Stuttgart 21 zu stoppen, noch ist nichts wirklich begonnen! Lassen Sie das Projekt Neubaustrecke erst gar nicht beginnen! Ergreifen Sie die Chance! Nie wieder haben Sie die Möglichkeit, mit soviel Bürgerunterstützung so schnell zu Geld zu kommen. Geld, das Sie dann dort investieren können, wo es nötig ist: Bei unseren Kindern, auf eine Weise, die ihnen ein lebenswürdiges qualitätsvolles Heranwachsen ermöglicht. Und da soll uns keiner erzählen, dass das nicht geht! Es soll uns keiner erzählen, dass unser Geld nicht umverteilt werden kann. Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg! Der Wille von uns Bürgerinnen und Müttern ist da! Nun liegt es an unseren gewählten Vertreterinnen und Vertreter, diesen Willen auch umzusetzen.

Pfarrerin Guntrun Müller-Enßlin

Predigt im Schlossgarten, Ostern 2010 – Guntrun Müller-Ensslin

Predigt beim Gottesdienst im Grünen mit Fürbitte um Frieden und Bewahrung der Schöpfung in der Stadt im Stuttgarter Schlossgarten am Ostermontag, 05.04.2010 um 17 Uhr.

Predigttext: „Sucht der Stadt Bestes!“ Jeremia 29,7

Liebe Gemeinde,

Städte waren von jeher faszinierende und gefährdete Orte zugleich. Nirgendwo liegen Schönes und Hässliches, Positives und Negatives, Anziehendes und Abstoßendes, Jammer  und Glück so nahe beieinander wie in den Städten. Stadtluft kann frei, aber sie kann auch krank machen. In Städten können Menschen aufblühen, aber sie können auch verzweifeln.

Stadtleben, das heißt Kunst und Kultur, das heißt Innovation und Tempo, das heißt Bildung und Architektur. Aber Stadtleben heißt auch Lärm, Verkehrschaos, Abgase, Stress, Anonymität, Kriminalität. Städte sind Zentren von Macht und Geld, aber jede größere Stadt hat auch ihre sozialen Brennpunkte. Nirgendwo sind die Gegensätze zwischen Arm und Reich größer als in Städten. Nirgendwo leben Menschen näher beieinander, sind derart angewiesen aufeinander und nirgendwo sind sie einander fremder. Nirgendwo gibt es soviel Vielfalt auf engstem Raum, im Guten wie im Schlechten und darum liegt auch nirgendwo soviel Potential an Sprengstoff herum wie in einer Stadt. Das ist in Stuttgart nicht anders als in jeder anderen Stadt der Welt.

Weil das so ist, deswegen bedürfen gerade die Städte einer besonderen Sorgfalt im Umgang mit ihren Belangen. Es lohnt sich, dass diejenigen, die das Stadtgeschehen lenken, viel investieren in die Pflege und die Fürsorge daraufhin, was einer Stadt gut tut und was nicht. Man tut gut daran, sich in Bezug auf  Zukunftsplanungen viel Zeit zu nehmen, auch mal etwas wieder zu kippen, wenn es nicht mehr aktuell ist,  Besonnenheit und Achtsamkeit  walten zu lassen daraufhin, welche Prioritäten man setzen will. Insbesondere bei Bauvorhaben ist Fingerspitzengefühl und Feingefühl vonnöten in Bezug auf das, was angebracht ist und was die Menschen wirklich brauchen. Wer das Augenmaß verliert, steht allzu schnell vor einem Trümmerhaufen.

Diese Erfahrung haben Bewohner von Städten  immer wieder gemacht, auch die Bibel erzählt von ihnen. In der Stadt Babel schätzten die Menschen ihre Kräfte falsch ein, so dass der kühne Plan eines Turmbaus bis in den Himmel in einem Fiasko endete. Die Stadt Jerusalem wurde im Lauf ihrer Geschichte mehrmals platt gemacht, weil ihre Tribunen immer wieder mit den falschen Leuten paktierten. Das Bewusstsein um das Gefährdungspotential von Städten war sehr präsent, weswegen Menschen in der Bibel das Phänomen Stadt auch immer wieder explizit zum Thema gemacht haben. Die Gedanken kreisten darum, es wurde über Städte nachgedacht, es wurde über Städte geweint und es wurde in Städten geweint. „An den Wassern von Babylon saßen wir und weinten“ …heißt es in einem Psalm.

Auf dem Hintergrund der Erfahrungen, die Menschen in alter Zeit mit ihren Städten gemacht haben, ist wohl auch der Aufruf zu hören: „Sucht der Stadt Bestes!“
Sucht der Stadt Bestes – das sagt der Prophet Jeremia ausgerechnet den Menschen, die  aus dem wieder einmal zerstörten Jerusalem weggeschleppt im fernen Babylon Zwangsarbeit leisten müssen. Sie finden sich wieder, gezwungen zum Leben in einer Stadt, die ihnen fremd ist und in der ihnen die Freiheit verloren gegangen ist. Und offenbar stand es mit dieser Stadt selber auch nicht gerade zum Besten. Das Wort Sündenbabel kommt nicht von ungefähr. Macht und Korruption, Ausbeutung der Schwachen, Prunk und Willkür auf  Kosten der Armen waren an der Tagesordnung.  Jeremia ermutigt die Gefangenen, sich in der fremden Stadt nicht rauszuhalten, in der Hoffnung, dass sie bald wieder nach Hause können. Er ermutigt sie, eben nicht zu sagen, macht, was ihr wollt, das geht mich nichts an, sondern ihr Schicksal anzunehmen, die Stadt zu ihrer Stadt zu machen, für sie zu beten und sich aktiv zu beteiligen an der Sorge um das Wohl dieser Stadt. „ Sucht der Stadt Bestes!“ appelliert er. „Denn wenn es ihnen gut geht, dann geht es auch euch gut. …Ich will euer Glück und nicht euer Unglück. Ich habe im Sinn euch eine Zukunft zu schenken, wie ihr sie erhofft.“

Sucht der Stadt Bestes also. Aber was ist das Beste für eine Stadt? Woran kann sich dieses Beste orientieren?
Auch hier haben biblische Menschen weitergefragt. Und aus dem Bewusstsein des Negativpotentials von Städten  heraus haben sie den Prototypen einer vollkommenen, einer vollkommen  neuen Stadt entworfen. In einer kühnen Vision, die wir vorhin gehört haben, entwirft der Seher Johannes das neue Jerusalem als Modellstadt, an dem sich unsere Städte messen können.

Diese Stadt hat ihre besondere Qualität vor allem darin, dass sie eine durch und durch einladende Stadt ist, zu erkennen an der Zahl ihrer Tore, die nie geschlossen werden. Ein Zeichen dafür, dass bei Gott  alle Ausgrenzungen aufhören,  alle dürfen teilnehmen am Leben in dieser Stadt und an ihren Geschicken.. Die Stadt ist außerdem eine kommunikative Stadt. Die kommunalen Belange haben Vorrang vor den Privaten, Gemeinnutz geht vor Eigennutz. Es ist eine begrünte Stadt mit einem Fluss, an dem Bäume wachsen, deren Blätter und Früchte den Menschen zur Lebengrundlage und zur Gesundheit dienen. Des Weiteren ist die Stadt Gottes eine wirklich demokratische Stadt, in der die Regierenden einhergehen wie jedermann, und in der sogar Gott mitten unter den Menschen wohnt, ansprechbar für alle. „Gleichheit“ lautet also der erste und einzige Verfassungssatz dieser Stadt. Und schließlich: In dieser Stadt kommen alle kriminellen Machenschaften an ihr Ende: „Nichts Böses dringt in sie ein, obwohl sie absolut offen ist.“

An dieser Modellstadt also können wir uns orientieren, wenn wir nach der Stadt Bestem suchen, wenn wir nach dem suchen, was für unsere Stadt Stuttgart das Beste ist. Und das wollen wir tun an diesem Ostermontagnachmittag 2010, an dem außer der Osterfreude und der Freude über den Einzug des Frühlings in Stuttgart nach dem langen Winter auch so viel Unruhe und Besorgnis über der Stadt liegt, gerade in den letzten Tagen.

Was also gehört zu einer Stadt im Sinne von Gottes Prototyp?

Zunächst: Eine Stadt muss atmen können. Wer ein Empfinden für Städte hat, der weiß wie wichtig es ist, Natur in ihr zu haben, und wie schwer es ist, Natur zu erhalten. Zu einer Stadt gehört eine grüne Lunge, die nicht amputiert werden darf, auch nicht Teile von ihr, auch nicht auf Zeit. Auch nicht für 10 oder 15 Jahre. 10/15 Jahre, das ist eine ganze Kindheit. Das ist eine Spanne, an deren Ende viele von uns nicht mehr da sein werden. Und auch hinterher wird diese Lunge für die Lebenszeit einer ganzen Generation nicht mehr das sein, was sie einmal war. Diese Stadt und wir Menschen in ihr leben von den Bäumen. Wir bekommen von ihnen unendlich viel mehr, als wir ihnen je geben können. Und deswegen leihen wir den Bäumen, die keine Stimme haben, an dieser Stelle unsere Stimme und wir rufen: Diese Bäume, die unsere Freunde sind und die Freunde der Vögel und der Insekten, deren Lebensraum sie bilden: Diese Bäume wollen wir nicht hergeben, diese Bäume wollen wir behalten! Diese Bäume müssen wir nicht erst suchen, sondern die sind schon da; die sind der Stadt Bestes; die sind etwas vom Besten, was diese Stadt hat. Und wir werden alles tun, damit wir Euch Bäume behalten.

Wenn wir bei der Suche nach dem Besten für unsere Stadt Maß nehmen an der neuen Stadt Gottes, dann gehört dazu auch der soziale Friede. Das heißt zum Beispiel, dass nicht vorhandenes Geld nicht ausgegeben werden darf, weil es diese und künftige Generationen in Armut stürzt. Es heißt, dass wir vorhandenes Geld so verteilen müssen, dass alle in gleicher Weise etwas davon haben und von Kultur, Bildung, Unterhaltung, den Aushängeschildern unserer Stadt, profitieren.

Und schließlich: Bei der Suche  nach dem Besten für diese Stadt darf eine gepflegte, respektvolle Kommunikation der Bürger untereinander nicht fehlen. Kultur ist auch Gesprächskultur, und zwar auf Augenhöhe. Wenn Menschen in einer Stadt etwas Wichtiges zu sagen haben, dann zeugt es von Kommunikationskultur, wenn man sie anhört. Wenn Menschen erst mit ihrem Anliegen auf die Straße gehen und laut werden müssen, dann lässt das darauf schließen, dass da in Sachen Anhören offenbar etwas versäumt worden ist. Zur Gesprächskultur  würde gehören, dass man den Protestierenden spätestens jetzt intensiv zuhört und sie ernst nimmt, insbesondere wenn es sich bei ihren Anliegen um so vernünftige Dinge wie maßvollen Umgang mit Geld, Lebensqualität und Erhaltung der Schlossgartenbäume handelt. Eine kluge Stadtverwaltung, die merkt, dass da eine Protestbewegung im Gang ist, würde noch mal in sich gehen und ihr Vorhaben prüfen. Wenn so viele Bürger einer Stadt signalisieren, hier stimmt was nicht – und es sind ja nicht die Dümmsten, die das signalisieren – dann würde eine souveräne Führung, die auf Demokratie setzt, innehalten und sagen: Moment mal, vielleicht sehen die was, was wir nicht sehen. Anstatt sich diese Menschen zu Gegnern zu machen, würde sie aufs reine Kräftemessen verzichten; sie würde verzichten, schon um Polarisierung  und Eskalation bis hin zum irreparablen Vertrauensschaden – dem sicheren Herztod einer Stadt – zu verhindern. Denn die Menschen, deren Kräfte, deren Phantasie im Moment gebunden sind im blanken Widerstehen gegen Brachialgewalten, das sind ja Menschen, die sorgen sich um ihre Stadt, die wollen sich mitkümmern, mitreden, mithandeln! Darüber müsste eine kluge, am Besten für ihre Stadt orientierte Crew von städtischen Abgeordneten in Jubel ausbrechen und begeistert sagen: Prima! Was für ein großartiges Kapital, was für eine Chance für unsere Stadt! Jede Regierung  könnte darauf stolz sein. Und sie würde, aus Erfahrung klug und wissend, dass man bei einem so anspruchsvollen stadtplanerischen Projekt alles an Erkenntnis zu Hilfe nehmen muss, was zu haben ist, sie würde sich die Ideen, Phantasien, Kompetenzen dieser Bürgerbewegung zu Nutze machen und sie  bündeln. Alle gemeinsam  würden wir unsere Kräfte in den Dienst der gewaltigen Aufgabe stellen, miteinander überlegen, Zwischentöne äußern – auch das wäre wieder möglich, nicht nur das für und das Gegen -, wir würden vielleicht verwerfen, wieder überlegen, um am Ende das zu finden, was für unsere Stadt das Beste ist.

Noch ist es dazu nicht zu spät! Noch ist Zeit! Noch ist nichts passiert, was nicht gestoppt, modifiziert und  in eine andere Richtung gelenkt werden könnte. Noch ist Zeit, der Stadt Bestes zu suchen! Nichts ist unumkehrbar! Das Wort unumkehrbar ist eines, das es in der Bibel nicht gibt. Dort findet sich vielmehr sehr oft der Aufruf zur Umkehr. So oft, dass es einen Grund haben muss. Die Bibel kennt verfahrene Situationen, Situationen, wo sich Menschen vertan, geirrt, verstiegen oder einfach falsch geplant haben. Solche Situationen sind menschlich. Sie kommen häufig vor.  In diesen Situationen ist das Wort von der Umkehr der Schlüssel. Es sagt: Man kommt wieder heraus. Weil Verirrungen so menschlich, so normal sind, wird niemand ausgelacht, der umkehrt. Es kann jedem passieren. Auf niemanden, der umkehrt, wird hämisch mit dem Finger gezeigt. Nach dem Motto: Wir habens ja schon immer gewusst. Umkehr löst auch keine Schadenfreude aus, sondern nur reine Freude. Und niemand, der umkehrt, wird sein Gesicht verlieren; er wird es im Gegenteil wieder gewinnen.

Der Umkehr ist eigen, dass sie nicht aufschiebbar ist. Sie kann sofort anfangen. Zum Beispiel heute, am Ostermontag 2010. Denn auch Ostern ist das Datum einer beispiellosen Umkehr, der Umkehr vom Tod ins Leben. An Ostern hat alles unter umgekehrten Vorzeichen neu angefangen. Ostern wäre ein guter Termin auch für einen Neubeginn in Stuttgart.

Amen.

Pfarrerin Guntrun Müller-Enßlin

Baustellen: Bahnhof und SPD – Siegfried Bassler

Mitbürger, Freunde, Stuttgarter, hört mich an!

Die Front unserer Widersacher wankt, das Kartell der Befürworter bröckelt, das Imperium der Macher zeigt Risse. Am letzten Mittwoch hat es noch einmal seine hässliche Fratze gezeigt, ungeschminkt, und den Abriss des Nordflügels dekretiert.

„Nieder mit euch in den Staub!“ lautete die Botschaft an uns. Euch braucht man nicht zu beachten, euch muss man nicht respektieren, euch darf man sogar demütigen!

Doch am Freitag war der Schock überwunden und 50.000 selbstbewusste Bürger haben den Landtag eingekesselt, Bannmeile hin, Bannmeile her. Die unheilige Dreifaltigkeit Mappus, Schuster, Grube hat ihre gläubigen Anhänger verloren. Das Imperium wankt. Mappus muss um seine Mehrheit bangen. Die erste Wahl, die er als Ministerpräsident zu bestehen hat, droht er zu verlieren. Darum muss er nun einlenken.

Schuster, der Wortlose, Hilflose, Orientierungslose, hat sich nun auch noch als ganz und gar stillos erwiesen. In der selben Stunde, da die Bagger den Nordflügel einzureißen begannen, hat er mit der hiesigen Schicki-Micki-Szene die Eröffnung des Weindorfs gefeiert. Mehr Provokation, mehr Stillosigkeit, mehr Zynismus geht nicht. Man könnte sich hier in der Tat an spätrömische Dekadenz erinnert fühlen.
Aber wir haben dem Schuster die Suppe gründlich versalzen. Schaut euch das gespäßige Schauspiel im Internet an, da habt ihr was zu lachen. Wie soll dieser sprachlose Mensch, der in der Stunde der Krise vollkommen versagt hat, diese Stadt noch zwei Jahre lang führen? Das geht doch nicht! Jetzt ist er abgereist nach Chile wie Honnecker seinerzeit, und der ist ja nicht wiedergekommen.

Der Herr Grube gerät durch die unaufhaltsam steigenden Kosten und das miserable Image der Firma, die er leitet, unserer Bundesbahn, immer mehr unter Druck. Jetzt sagt er: „Wir wollen mit diesen Gesprächen ein Signal der Vernunft an die Bevölkerung geben.“ Uns soll es recht sein, wenn er nun auch Vernunft annimmt.
Ob er es ehrlich meint, wird man ja sehen. Ist es nicht erschreckend, dass man von der Gegenseite nichts anderes erwartet als Trickserei und Täuschung? Es könnte ja sein, dass er die Gespräche bis zum Jahresende hinzieht und dann platzen lässt in der Hoffnung, unser Widerstand werde erlahmen, wenn es erst einmal kalt und dunkel wird.
Vorsicht ist geboten, denn das Imperium wankt. Die Ruine des Nordflügels mahnt.

Jetzt muss ich über eine andere Baustelle sprechen, die Stuttgarter SPD.

Seit 51 Jahren bin ich Mitglied dieser Partei und bleibe es! Sonst hätte ich nicht die Freiheit, sie heute harsch zu kritisieren.1959 eingetreten, um gegen Adenauers rheinischen Klüngel und für Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität, die Grundwerte der SPD zu kämpfen. Dann 12 Jahre im Stuttgarter Gemeinderat, vier Jahre davon (1972 – 1976) Fraktionsvorsitzender.

Als ich von 1996-1999 noch einmal in den Gemeinderat kam, vom 60. auf den 18. Platz vorgewählt, fing das mit Stuttgart 21, dem Monsterprojekt im Herzen Europas, gerade an.

Ich gestehe, dass auch ich die Grausamkeiten, die durch dieses babylonische Vorhaben verursacht werden, nicht gleich begriffen habe. Die Befürworter, der Herr Heimerl, Professor an der hiesigen Uni, und der Herr Kußmaul, auch Professor und Fraktionsführer der SPD, haben uns die Sache dadurch schmackhaft zu machen versucht, dass sie behaupteten, man sei ein paar Minuten schneller in Bratislava, wenn man die unverzichtbare Magistrale von Paris nach Budapest ausbaue. Auf dieses sensationelle Angebot wollten natürlich die meisten Gemeinderäte Stuttgarts, des Partners der Welt, nicht verzichten.

In der Gemeinderats-Debatte nach der Entscheidung der Jury im Herbst 1997 habe ich zwar meine Skepsis gegen das Projekt zum Ausdruck gebracht, aber dann doch mit der Fraktion gestimmt. Das war ein Fehler, das war zuviel Rücksicht auf die Partei, das habe ich bald bereut.

Dass durch den Plan von Ingenhoven, diesem arroganten Architekten, unser schöner Hauptbahnhof kaputt gemacht würde, haben damals nicht einmal die Architektur-Professoren in der Jury gemerkt. Man hat die Katarakte in der Planung elegant umschifft, d.h. die unvermeidlichen Scheußlichkeiten einfach totgeschwiegen.

Es ist keine Schwäche, wenn man seine Meinung ändert, weil man dazugelernt hat, vielmehr ein Zeichen von Lernfähigkeit und Stärke. Immer mehr Architekten tun es gerade, wie der Herr Lederer und zuletzt Frei Otto.
Nichts dazugelernt hat leider unser verehrter Alt-Oberbürgermeister Manfred Rommel, der sich jetzt vor den Karren der Stuttgart 21-Befürworter spannen lässt. Nicht genug damit, dass er uns seinerzeit den Herrn Schuster als besten aller Kandidaten empfohlen hat, bezeichnet er jetzt das Monster-Projekt als „unverzichtbar“.
Ich habe vor ein paar Jahren ein Büchlein mit Schüttelreimen veröffentlicht, dass ich ihm, dem OB gewidmet habe. Es trägt den Titel: „Der macht hier manchmal Schwaben-Witze, dass ich aus allen Waben schwitze.“ Subsummieren wir sein Eintreten für S 21 unter die Rubrik „Schwabenwitze“ und erklären das Thema im Hinblick auf sein ehrwürdiges Alter für erledigt.

Ich bin vor 77 Jahren in Stuttgart geboren und hier aufgewachsen, ich habe als junger Mensch die furchtbaren Fliegerangriffe erlebt, in denen all die schönen Gebäude des alten Stuttgart, die in Jahrhunderten entstanden waren, zerstört wurden Deshalb möchte ich heute helfen zu verhindern, dass die wenigen Zeugen der Vergangenheit, die den Krieg überstanden haben, jetzt einer geschichtsvergessenen Planung geopfert werden.

Es ist spät, gewiss, aber noch nicht zu spät, es ist fünf vor zwölf, aber die Geisterstunde hat noch nicht geschlagen. Ich weiß, dass viele SPD-Mitglieder mit der sturen Festlegung der Fraktion auf das Koste-es-was-es-wolle-Projekt nicht einverstanden sind, vielen begegne ich seit Wochen bei jeder Demonstration, es gibt eine schweigende Mehrheit der Genossen, denen es geht wie mir, sie genieren sich im Augenblick, bei diesem Haufen zu sein. Und auch zwei unserer Landtagskandidaten, der Dejan Perc und der Matthias Tröndle fordern Baustopp und Bürgerbefragung.
Wenn der Genosse Reißig, Kreisvorsitzender der SPD, von Hermann Scheer Solidarität einfordert, darf man schon fragen: Solidarität, wofür eigentlich?
Solidarität für ein Projekt, das von der Mehrheit der Bevölkerung abgelehnt wird, weil es in seiner Großspurigkeit ganz und gar nicht schwäbischer Mentalität entspricht?
Solidarität für ein Projekt, das den Befürwortern keine Bürgerbeteiligung wert war?
Vor drei Jahren habe ich dem Fraktionsvorsitzenden der SPD dringend geraten, ein Bürgerbegehren zu beantragen: Antwort: Das sei juristisch gar nicht möglich. Man wollte es nicht einmal versuchen. Formaljuristische Beschwichtigungen hat man über den politischem Willen gestellt.

Solidarität für ein Projekt, von dem die Macher zurecht befürchten, dass es bei einem Bürgerentscheid mit großer Mehrheit abgelehnt würde? Solidarität ist einer der ehernen Werte der Sozialdemokratie von Anfang an. Solidarität kommt aus dem Mitgefühl mit den Schwachen und Benachteiligten. Der Genosse Reißig versteht unter Solidarität aber nichts anderes als Fraktionszwang: Die da oben wissen, was richtig ist, und wir Zurückgebliebenen da unten haben ihnen gefälligst zu folgen.
Leider geht es gerade so weiter. Die Genossen Schmiedel und Drexler von der Landtagsfraktion versuchen jetzt die parteiinternen Gegner von S21, den Hermann Scheer, den Peter Conradi und alle, die sich aus der Deckung wagen, als „Einzelmeinungen“ abzuqualifizieren. Ich befürchte, dass die Befürworter der SPD nach der nächsten Gemeinderatswahl eine Einzelmeinung im Stuttgarter Rathaus bilden werden, wenn nur noch ein einziger übriggeblieben ist.

Ein Demonstrant, Mitglied der SPD, hat mir dieser Tage einen Zettel zugesteckt mit einem schönen Spruch von Egon Bahr, dem Weggenossen Willi Brandts: „Wer alles für richtig erklärt, was die eigene Partei macht, ist entweder strohdumm oder total verlogen.“

Ich habe die SPD-Mitglieder, die gegen S 21 sind, gebeten, heute etwas Rotes zu tragen, damit man sieht, wie viele es sind. Außerdem liegen an der Mahnwache Listen für SPD-Mitglieder auf, in die sie sich als Gegner des Projekts eintragen können.

Die Quittung für ihre Sturheit und Bürgerferne haben CDU und SPD bei der letzten Gemeinderatswahl erhalten. Leider nicht die FDP. Es werden aber noch mehr Quittungen ausgestellt werden, denn es kommen noch mehr Wahlen, die nächste am 27.März nächstes Jahr zum Landtag.

Mit dem Abbruch hat das Imperium ja schon angefangen, wenn nun noch das große Verkehrschaos dazukommt, wenn Hunderte von Lastwagen durch die Innenstadt fahren, wenn die Stadtbahnhaltestelle Staatsgalerie platt gemacht wird, wenn die uralten Bäume in den Anlagen umgehauen werden, dann möchte ich nicht Kandidat einer Partei sein, der diese Barbarei begründen und verteidigen muss. Es ist ein Szenario des Schreckens, aber man kann nicht nur zu Tode erschrecken, man kann auch angesichts des Schreckens zum Nachdenken, zum Umdenken kommen, Ich hoffe, dass die Genossen und Genossinnen der SPD-Gemeinderatsfraktion einen heilsamen Schreck erleben und einsehen, dass der Preis für diesen Bahn-Größen-Wahn in jeder Hinsicht zu hoch ist: für die Stadt, für die Bürger und erst recht für die SPD.

Als ich Fraktionsvorsitzender war, hatte die SPD im Stuttgarter Gemeinderat 27 Sitze von 60, heute sind es 10. Es wird langsam Zeit für meine Genossen, sich ein anderes Volk zu wählen. Ich hoffe, dass ich am 28.März nächsten Jahres nicht in der Zeitung lesen muss: „SPD in Stuttgart knapp über 5% “
Damit das nicht passiert, schicke ich einen Stoßseufzer zum Himmel hinauf:
„O Herr, schmeiß Hirn ra, ond an bsonders großa Batza ens Fraktionszemmer von der SPD em Stuagerter Rothaus.“

Lasst mich zum Schluss noch etwas Versöhnliches, Hoffnungsvolles sagen:
Ich bin 1933 in dieser Stadt geboren und habe den größten Teil meiner Lebenszeit hier zugebracht, aber so einen schönen Sommer habe ich, trotz des vielen Regens, in 77 Jahren  nicht erlebt. Es ist doch so etwas wie ein demokratisches Sommermärchen, dessen Zeugen wir gerade sind.
Ich habe unsere Stadt und die Mehrzahl ihrer Bürger immer für ziemlich spießig, muffig und provinziell gehalten und war bei politischen Entscheidungen meistens auf Seiten der Minderheit, bei denen, die sich zwar im Recht sahen, aber  trotzdem verloren haben.
Und nun ist auf einmal so etwas wie ein Wunder geschehen.So viele Menschen, Frauen und Männer, Junge und Alte, Einheimische und Reingeschmeckte, Feuerbacher, Heslacher und Degerlocher sind mit einem Mal aus ihrer politischen Unmündigkeit herausgetreten und haben ein großes gemeinsames Ziel gefunden: die Erhaltung unseres schönen Bahnhofs, eines Stücks des guten alten Stuttgart. Was die Politiker jeder Couleur so oft und so gerne fordern, man müsse sich auf Werte besinnen und sie hochhalten, das ist hier geschehen.

Unser Bahnhof steht für einen solchen Wert, gut und schön, bewährt und praktisch, ein Stück Heimat, ein Stück von uns, das wir uns nicht nehmen lassen.  Wir sind die echten Konservativen, die Wert-Konservativen.
Ich gehe jedes Mal beseligt von der Demonstration nach Hause, weil ich es nie für mögliche gehalten hätte, dass meine Landsleute zu einem solchen Fest des Widerstands  fähig wären und das zweimal in der Woche.
Unsere Widerstandsfeste sind Signale, die man in der ganzen Bundesrepublik hört und sieht und wie auch immer es ausgeht, sie werden eine bleibende, beispielhafte Wirkung haben. Ja wir können wie Goethe nach der Kanonade von Malmy, das war 1792, sagen, rufen, schreien:  „Von hier und heute geht eine neue Epoche der demokratischen Geschichte aus und ihr könnt sagen, dass ihr dabei gewesen seid.“

Rede von Siegfried Bassler, Pfarrer i.R., am 30.08.2010 bei der Montagsdemo

Kirche kann nicht unparteiisch sein

Darf Kirche in der Auseinandersetzung um das Bahnprojekt Stuttgart 21 Partei ergreifen? Muss sie nicht für alle da sein? So fragen immer wieder Christen in Leserbriefen oder Gesprächen. Dahinter verbergen sich zwei Missverständnisse: das eine, Gott liebe doch alle Menschen, dann dürfe man doch auch als Mensch nicht einseitig Partei ergreifen. Das andere, es gebe überhaupt die Möglichkeit, unparteiisch zu sein.

Für das zweitgenannte Missverständnis gebrauche ich gerne das Bild: Ich sehe auf dem Schulhof zwei Jungs raufen: einen muskulösen 8.-Klässler mit einem mageren 2.-Klässler. Wollte ich mich in dieser Situation neutral verhalten und in der Zuschauerrolle verharren – für wen würde ich damit faktisch Partei ergreifen? Eben: Durch meine neutrale Haltung würde ich faktisch den Starken unterstützen. Das gilt für alle auch gesellschaftlichen Situationen: Sobald ich mich neutral verhalte, unterstütze ich den Stärkeren, ob ich will oder nicht.

Und was ist mit Gott, der doch alle Menschen liebt? Durch unsere Bibel ziehen sich wie zwei rote Fäden zwei Überzeugungen: 1. Gott liebt alle Menschen, 2. Gottes besonderer Schutz gilt den Schwachen. Wir nennen das die „vorrangige Option für die Schwachen“. Es gibt keinen alttestamentlichen Propheten, der sich nicht an diesem Maßstab orientiert hätte. Kern christlicher Ethik ist: Wir stehen grundsätzlich auf der Seite der Schwachen. Dass Gott alle Menschen liebt, bedeutet für uns: Auch den Starken begegnen wir mit Liebe und achten deren Würde. Aber wir ergreifen Partei für die, die sich unter ihnen beugen müssen.

Was heißt das für die augenblicklichen Auseinandersetzungen um das Bahnhofsprojekt Stuttgart 21? Wo sind da die Starken, wo die Schwachen?

Stuttgart 21 wurde auf den Weg gebracht und wird betrieben von einem begrenzten Kreis von Wirtschaftsakteuren auf der einen Seite und Inhabern politischer Ämter auf der anderen. Diese Allianz ist nicht typisch für Stuttgart 21, aber sie ist auch bei diesem Projekt die entscheidende Größe. Das ist dann kein wirkliches Problem, wenn diese Allianz sich rückbindet an die Interessen der Bevölkerung, in deren Namen sie zu handeln vorgibt.

Genau diese Rückbindung muss auch Kirche fordern. Mit einer neutralen Haltung würde sie den Mächtigen in Staat und Wirtschaft das Feld überlassen. Die „Schwachen“ sind in dieser Situation die Wählerinnen und Wähler, die zwar vor langer Zeit ihre Stimmen abgegeben haben, aber nun zusehen müssen, dass mit ihren Stimmen gar nicht in ihrem Interesse gehandelt wird.

Das Argument, das sei ja gar nicht erwiesen, dass hier nicht im Interesse der Wähler gehandelt werde, ist nur berechtigt, wenn man mit ihm die Forderung verbindet, dass geklärt wird, ob hier der Wille der Wähler geschehe.

Kirche darf deshalb nicht nur als Moderator auftreten, der dafür sorgt, dass die Akteure friedlich miteinander umgehen. Sondern Kirche muss deutlich machen, wo sie steht: auf der Seite derer, die nicht die Macht haben, mit einem Federstrich Fakten zu schaffen; die nicht die Macht haben, ihre einmal gefällten Beschlüsse mit dem Gewaltmonopol des Staates umsetzen zu lassen; die nicht die Macht haben, diejenigen in ihrem Lauf aufzuhalten, die mit formalem Recht im Hintergrund meinen, keine Rechenschaft ablegen zu müssen über ihr tun.

Kirche – wenn sie Kirche Christi sein will – muss erkennbar parteiisch sein für die Schwachen.

Martin Poguntke, 31.10.2010

Kirche muss für Baustopp sein

Die Kirche müsste meines Erachtens sich dringend für einen sofortigen Baustopp des Bahnprojekts Stuttgart 21 einsetzen. Wenn ihr Angebot, als Vermittler zum Frieden beitragen zu wollen, Sinn machen soll, darf sie nicht zusehen, wie unumkehrbare Fakten geschaffen werden, noch bevor entscheidende Fragen geklärt sind.

Was ich an kirchlichen Äußerungen lese, ist durchweg das Bemühen, sich heraushalten zu dürfen oder gar zu müssen: Es sei durch S21 nicht die Menschenwürde bedroht. Es stünden lediglich verkehrswissenschaftliche oder geologische Fragen zur Diskussion, zu denen Kirche nichts beizutragen habe etc.

Das übersieht, dass jede dieser Fragen auch eine ethische Dimension hat. Wenn durch einen neuen Bahnhof der Bahnverkehr nicht verbessert, sondern behindert wird, ist dies eine wichtige schöpfungstheologische Frage, weil wir zur Erhaltung unserer Schöpfung unbedingt einen immer besseren öffentlichen Verkehr brauchen. Wenn durch einen tief ins Grundwasser gesetzten Bahnhof den Bäumen des Stadtparks das Wasser entzogen wird, ist dies nicht nur ein schöpfungstheologisches Thema, sondern auch ein sozialethisches, weil die Frage der Lebensqualität damit angesprochen ist. Wenn Milliarden eingesetzt werden für ein Projekt, das so wie es aussieht viel mehr Schaden als Nutzen bringt, dann stehen Fragen der Gerechtigkeit im Raum, weil es wahrhaftig Bereiche gibt, in denen Milliarden dringend nutzbringend eingesetzt werden müssten.

Das Argument, man wisse doch aber noch gar nicht, ob all diese Befürchtungen zutreffen, ist das entscheidende Argument, warum Kirche sich nicht heraus halten darf. Denn sie muss gerade deshalb (weil man das noch nicht weiß) auf Klärung dieser Fragen drängen. Und zwar bevor wirklich unumkehrbare Fakten geschaffen sind. Kirche muss sich deshalb vor allem für einen sofortigen und vollständigen Baustopp aussprechen – damit die Fragen nicht erst geklärt werden, wenn unwiederbringlich Natur und Stadt beschädigt sind.

Martin Poguntke, 31.10.2010

Kirche hat ein „Wächteramt“ gegenüber dem Staat

Spätestens seit dem „schwarzen“ Donnerstag können die Kirchen meines Erachtens zu S21 keine (scheinbar) neutrale Haltung mehr einnehmen, weil spätestens seit dieser staatlich provozierten Eskalation das Verständnis, das wir als evangelische Christen vom Staat haben, infrage steht. Aus evangelischer Sicht ist es Aufgabe des Staates, Recht zu setzen, das Leben ermöglicht und die Schwachen vor den Starken schützt. Dem Staat steht ein Gewaltmonopol zu, solange und in dem Maße, wie er dieser Aufgabe nachkommt. Die Kirche ihrerseits hat dem Staat gegenüber ein „Wächteramt“: Sie muss sich öffentlich zu Wort melden, den Staat zur Rechenschaft ziehen und notfalls ihm die Loyalität kündigen, wenn er dieser Aufgabe nicht nachkommt oder Zweifel daran bestehen.

Im Fall von S21 wird immer deutlicher: 1. Staatliche Stellen versuchen ein Projekt durchzusetzen, das nicht durch demokratische Gremien legitimiert ist, denn sämtliche Gremien hatten zur Zeit der Abstimmung falsche Kostenberechnungen, falsche Angaben über den angeblichen Nutzen und falsche Angaben über die technischen Risiken vorliegen. 2. Das Projekt entpuppt sich immer deutlicher als eines, das nicht für die Mehrheit der Schwachen von Vorteil ist, sondern für eine Minderheit der Starken, denn es ist lediglich für einige Bauunternehmen, Immobilienhändler und Kreditgeber von Vorteil. Den Zugverkehr, den die Mehrheit (und die Natur) braucht, befördert es nicht, sondern es schränkt ihn im Gegenteil stark ein. 3. Der Staat versucht dieses Projekt gegen die Mehrheit der Bevölkerung – inzwischen mit Gewalt – durchzusetzen.

Aus evangelischer Sicht muss die Kirche ihre Stimme parteilich gegen dieses Handeln des Staates erheben, weil der Verdacht besteht, dass bei diesem Projekt die demokratischen Gremien von einer Minderheit von Wirtschaftsakteuren instrumentalisiert werden. Wenn dies zutrifft, steht nicht weniger als die Legitimität dieses Staatswesens infrage. Um dies zu klären, kann Kirche sich nicht mehr darauf beschränken, zu friedlichem Umgang miteinander zu mahnen. Sondern sie muss den Staat dringend auffordern zu klären, ob von staatlicher Seite aus gelogen wird, ob vonseiten des Staates wirklich der Nutzen für die Schwachen Ziel des Handelns ist und ob er sein Gewaltmonopol rechtmäßig einsetzt.

Eine Kirche, die versuchte, unpolitisch zu bleiben, kann sich nicht auf Christus berufen, von dem wir glauben, dass sein Anspruch alle Lebensbereiche umfasst.

Martin Poguntke, Leserbrief in „evangelisch.de“ vom 5.10.2010

Egon Hopfenzitz – ehem. Leiter des Hauptbahnhofs – schreibt an den CDU-Landesvorsitzenden Mappus, Oktober 2010

Sehr geehrter Herr Landesvorsitzender Mappus,

meine Zeilen richten sich an den Landesvorsitzenden der Christlich-Demokratischen Union (CDU) in Baden Württemberg.
Ich bin 80 Jahre alt und war von 1981 – 1994 Leiter des Stuttgarter Hauptbahnhofs und bis dahin auch CDU-Wähler.
Die Vorgänge um S 21, die fehlerhaften Aussagen zum Bonatzbahnhof, die
laufenden Kostensteigerung dieses Immobilienprojekts und das wissentliche
Vorenthalten wichtiger Informationen wie das SMA-Gutachten aus Zürich haben mich inzwischen zum von Ihnen gescholtenen „Berufsdemonstranten“ gegen S 21 gemacht.
Am Stichtag 30. September 2010 zur Baumfällaktion in Rambo-Manier
unter dem Schutz übermächtiger, mit Wasserkanonen, Schlagstöcken und Pfefferspray aufgerüsteten Polizei, wurde ich im Schloßpark gedrückt, gestoßen, geschoben, beschimpft und durchnäßt, obwohl ich im Park weder Flaschen noch Pflastersteine zum Werfen vorfand.
Ich wäre natürlich auch lieber auf dem Volksfest beim Bier gesessen. Wenigstens fanden wir seelischen Beistand schon allein durch das Wissen über die Anwesenheit von Pfarrerin Ensslin und Stadtdekan Brock, womit ich nun zum Ziel meines Schreiben komme.
Sie sind Landesvorsitzender einer wenigstens dem Namen nach angeblich
christlich geprägten Partei und noch nie ist Ihre Partei so vom christlichen
Weg abgekommen wie in den letzten Tagen:
Keine Befriedung vor Ort , statt christlicher Ideale oder wenigsten christlicher Regeln: Härte, Behauptungen ohne eigene Erfahrung vor Ort mit jetzt verbalen Angriffen auf Demonstranten.
Sie sollten entweder das Wort „christlich“ aus dem Namen Ihrer Partei entfernen oder eine eigene Rambo-Partei gründen oder sich von den beiden genannten Pfarrern wieder einmal über den Wert christlicher Tugenden wie Wahrheit und Friedfertigkeit unterrichten lassen.

Das wünscht Ihnen
Egon Hopfenzitz

PS:  Das Gleiche gilt auch für Ihre Parteimitglieder Rech und Hauk.

Kursive Hervorhebungen durch den Redakteur.

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„Sucht das Beste für die Stadt“ – Martin Klumpp

Liebe engagierte Bürgerinnen und Bürger unserer Stadt!

Beim Propheten Jeremia (29,7) hieß es einst: „Sucht das Beste für die Stadt“. Darum geht es jetzt.
In fünf kurzen Punkten sage ich, was mir wichtig ist.

1.   Es wird uns vorgehalten, wir seien viel zu emotional.
Was sollen wir denn sonst sein? Ich habe als Kind den Krieg erlebt, sah sogar, wie Stuttgart brannte. Wenn ich heute sehe, wie ein völlig intakter Bahnhof, der als Denkmal gilt, einfach so brutal zerstört wird, dann tut’s doch weh im Magen.
Wenn die alten Platanen, Naturdenkmale, einfach so verschwinden sollen, dann zieht’s das Herz zusammen.
Wir sind keine technokratisch verbildeten Monster. Wir sind Menschen mit Herz und Seele, die sich freuen an dem Schönen, was Krieg und Nachkriegszeit übrig ließen von der Stadt.

2.   Man hält uns vor, der Widerstand käme viel zu spät.
Das kommt auch daher, weil die Projektbetreiber bis heute statt Information nur billige Emotionalisierung betrieben mit Slogans wie vom „Herz Europas“, mit Videoanimationen, als ob die schöne neue Welt entstünde.
Aber die Bürgerschaft will nicht durch Werbung überredet werden. Sie hat sich langsam selber informiert.
Ein Szenario von Schrecken über Schrecken hat sich eingestellt: Die Kosten explodieren laufend, geologische Probleme sind nicht sicher abgeklärt, der Güterverkehr hat dabei keine gute Zukunft, der Anschluss an den Nahverkehr verschlechtert sich; und was ganz schlimm ist: Wer durch Stuttgart reist, sieht nichts mehr von der schönen Stadt, nur noch dunkle Wände. Das ist ein Akt von Selbstzerstörung.

3.   Nun wird gesagt. das alles sei doch längst beschlossen.
Als demokratischer Bürger fragt man sich: Was sind das für Beschlüsse, wenn zum Zeitpunkt der Entscheidung die wahren Kosten gar nicht klar sind, wenn Gutachten verheimlicht werden, wenn nur die Werbung zählt, statt Hören auf
die Sach- und Fachkritik? Stimmt man in Parlamenten nur über wage Visionen ab oder erfordern neue Sachverhalte neue Überprüfung?
Das kennt doch jeder Unternehmer: Ein Projekt, das im Entstehen scheitert, kommt nicht auf den Markt.
Nach dem Grundgesetz geht „alle Staatsgewalt vom Volke aus“ (Art.20.2).
Deshalb sollen Regierende und Parlamentarier hörbereit sein auf das, was man im Volke denkt und fühlt.  Wenn man uns nur die kalte Schulter zeigt, stellt man uns als Bürger vor die Wahl, entweder wütend zu werden oder resigniert zu schweigen. Ein solcher Vorgang wirkt wie Gift für demokratische Kultur.

4. Jetzt kommt vielleicht der Runde Tisch. Das wäre durchaus gut. Wenn aber eine Seite meint, es ginge nur um Nettigkeit, der Abriss unseres Bahnhofs sei doch schon vollzogen, dann wird der Ärger umso größer. Da fühlt sich keiner ernst genommen. Die Wut nimmt weiter zu.
Das wäre doch ein Kompromiss: Erhaltet uns den Bahnhof, stellt ihn wieder her, saniert ihn für die Zukunft. Hände weg vom grünen U. Dann bleiben Mittel für die Strecken, auch für die in Richtung Ulm. Die Güter gehören auf die Bahn,
nicht alles auf die Straße. Macht eure Hausaufgaben, dass wir nicht täglich hören müssen: Wir bitten um Entschuldigung. Das ist doch peinlich. Das arme Personal erlebt den ganzen Unmut der Kunden.

5. Viele von Euch wissen, dass ich mehr als vierzig Jahre in der Evangelischen Kirche engagiert und tätig war. Ich spreche nicht für die ganze Kirche. Dazu gehören auch Menschen, die anders denken als wir auf diesem Platze. Trotzdem: Zwei Aspekte aus der Bibel nenne ich.
Zum Einen: Der Staat hat vor allem die Aufgabe, für Frieden und Gerechtigkeit zu sorgen.
Zum Frieden hilft nicht Stuttgart 21. Es entzweit die Bürgerschaft.
Das ist genau wie beim Turmbau zu Babel, wo die Oberen sich einen Namen machen wollen, aufs Volk nicht hören, nur Unterwerfung fordern und Chaos produzieren.
Gerechtigkeit meint: Das Gemeinwesen soll sich konzentrieren auf kulturelle Bildung und Entwicklung aller Bürger, auf Chancengleichheit für die Armen und für jene, die von sich aus wenig Chancen haben. Wo so Gerechtigkeit
gedeiht, da wächst auch Frieden.
Zum Zweiten: Die christliche Botschaft beginnt mit dem Satz: Kehrt um, denkt um, seid kritisch zu euch selbst.
Wenn die Politiker, z. B. Herr Grube, Herr Mappus, Herr Schuster und alle, die da mit entschieden haben, sagen würden: Jawohl! Wir haben uns getäuscht, es kommt doch viel zu teuer und bringt nicht, was es soll, es ist zu grob für dieses Tal und wird nicht angenommen, dann wäre das für mich nicht peinlich und nicht feige, sondern mutig.Es gehört zur Würde von uns Menschen, dass wirumdenken und umkehren können.  Ich wünsche den Politikern, dass sie in diesem Sinne Mut und Würde zeigen.  Dafür würden wir sie achten.   Dann wachsen wieder Friede und Gerechtigkeit. Und wir sind engagiert dabei.

Rede von Martin Klumpp, Prälat i.R. der Evangelischen Landeskirche, bei der Montagsdemo am 6. Sept. 2010

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Offener Brief von Pfarrerin Guntrun Müller-Enßlin, 6.09.2010

An die Kolleginnen und Kollegen, an die Kirchenleitung und alle, die sich angesprochen fühlen.

Man kann sich bestimmte Entwicklungen lange Zeit mit mehr oder weniger Geduld anschauen. Irgendwann kommt der Punkt, an dem das Maß voll ist. Dieser Punkt ist bei mir derzeit erreicht, wenn ich auf die Rolle der Evangelischen Kirche in Sachen Stuttgart 21 blicke, darauf, was sie tut, bzw. was sie nicht tut.

Als eine, die einmal Theologie studiert hat und Pfarrerin der Landeskirche geworden ist, in der Hoffnung, damit in einer Institution zu arbeiten, die in einer gnadenlosen Wettbewerbsgesellschaft ein Gegengewicht der Menschlichkeit bildet, bleiben einem gegenwärtig nur noch Trauer und Scham darüber, dieser Institution anzugehören.

Was ist das für ein klägliches Bild, das die Kirche derzeit nach außen abgibt, wenn sie hartnäckig –oder ängstlich? – darauf beharrt, sich nicht einmischen zu wollen angesichts eines Projekts mit mittlerweile allseits bekannten und absehbar katastrophalen sozialen und ökologischen Folgen! Als Institution von immer noch bedeutendem gesellschaftlichem Ansehen räumt sie damit freiwillig den Platz als ethisches Korrektiv, das ihr von der Mehrheit unserer Gesellschaft ganz selbstverständlich zugestanden wird!
Seit Monaten zieht sich die Kirche in Sachen S21 auf diese unsägliche Raushalte-Position zurück, mit fragwürdigen Argumenten, die den zahllosen im Widerstand gegen S21 engagierten Christen und Kirchenmitgliedern weder verständlich noch vermittelbar sind.
Da geht es auf einer formalen Ebene um Dienstwege, bzw. um das, was man als InhaberIn eines kirchlichen Amtes darf oder nicht darf, was richtig oder falsch ist, anstatt darum, sich beizeiten umfassend mit dem Thema und seinen Inhalten zu beschäftigen, um dann zu erkennen, welcher Gruppierung in unserer Gesellschaft man als Kirche stärkend zur Seite stehen muss.

Ich frage mich wirklich, warum ich auf Seiten der S21-Gegner als Pfarrerin ganz alleine dastehe. Wenn es heißt, Kirche dürfe nicht Partei ergreifen sondern müsse für alle da sein, ist zu sagen, dass ihr das, indem sie sich raushält und schweigt, jedenfalls bestimmt nicht gelingt. Indem Kirche keine Stellung bezieht, steht sie immer auf der Seite der Macht und des herrschenden Status Quo und macht sich zu deren Handlanger, was ihr von intellektueller Seite seit eh und je zum Vorwurf gemacht wird.
Der Meinung, Religion sei Privatsache, sei entgegengehalten, dass Religion seit jeher eine ethische Komponente besitzt, die das Gemeinwohl betrifft. Im Fall von Stuttgart 21 sind mit der Verschiebung von Milliarden von Steuergeldern von unten nach oben sowie mit dem Kahlschlag hunderter alter Bäume höchst offensichtlich ethische Themen berührt und Grundwerte in Gefahr. Sich hier herauszuhalten, gar nobel eine Vermittlerrolle in Aussicht zu stellen, wenn sich die Parteien ordentlich gezofft haben, halte ich geradezu für zynisch. Die einzige adäquate Haltung wäre stattdessen, mit Zivilcourage auf der Seite derer zu streiten, die ganz offensichtlich den Schaden haben.

Wie gesagt, die Zurückhaltung der Kirche ist schwer nachzuvollziehen und noch schwerer auszuhalten. Vollends unerträglich wird es, wenn nun auch noch ausgerechnet ein Pfarrer sich für eine Pro Stuttgart 21 –Bewegung stark macht und sich auf dem Podium der FAZ als Opfer militanter und intoleranter S21-Gegner feiern lässt. Offenbar ist sich über die Ruf schädigende Wirkung dieser Aktivitäten für die Kirche niemand im Klaren. Es ist einfach nicht zu glauben, dass sich nicht einmal jetzt auf breiter Front Widerstand bei Kirchenvertretern regt, sich niemand distanziert und niemand sagt, der spricht nicht für uns.
Stattdessen sehe ich mich als die einzige Pfarrerin, die sich öffentlich gegen S21 exponiert hat, in der grotesken Lage, als Gegenspielerin jenes Pfarrers in den Zirkusring der Öffentlichkeit, auch den der Fernsehmedien, steigen zu sollen. Mit diesem Befürworter kloppe ich mich dann stellvertretend für die Kirche, die sich vornehm zurückhält und muss außerdem noch damit rechnen, dass von erhabener Stelle der Zeigefinger erhoben wird.

Mich würde mal interessieren, wieweit meine Kollegenschaft sich noch traut, unabhängig von der Obrigkeit eindeutig und öffentlich sozialpolitisch Position zu beziehen. Wenn sich große Bevölkerungsgruppen gegen einbetonierte Machtpositionen zur Wehr setzen, kann sich die Kirche nicht unparteiisch geben. Es geht darum, entsprechende Machtträger in der Gesellschaft zur Besinnung und zur Reflektion zu bringen.  Ich bin gespannt auf Reaktionen oder auch Nicht-Reaktionen.

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„Wir sind das wütende Pack“

Nach wohltuender Stille nun ein paar Gedanken, die mich umtreiben als Christenmenschen und als evangelischen Pfarrer im Ruhestand. Nicht nur mich, sondern eine Reihe von Menschen, mit denen ich in den letzten Monaten, Wochen und Tagen gesprochen habe.
Auf einem Plakat bei einer Demo las ich: We are the angry mob. Wir sind das ärgerliche Pack.
Ärgerlich – aufgebracht – wütend – jede und jeder mag „angry“ übersetzen, wie ihr / ihm zumute ist. Mein Eindruck: Der Protest entwickelt sich deutlich von ärgerlich hin zu wütend. Warum?
Die Gründe sind zahlreich und die Motive der Vielen haben unterschiedliche Schwerpunkte. Einige will ich nennen.
Nicht als „verkehrspolitischer Experte“. Wie könnte ich auch eine Kompetenz beanspruchen, die die Bischöfe unserer beiden großen Kirchen für sich ausdrücklich in Abrede stellen?
Also:  Jenseits verkehrspolitischen und juristischen Spezialistentums gibt es sehr wohl Gründe, Motive für den Unmut, den Zorn, die Wut. Man muss nur genauer hinschauen.

Wie wurden und werden diejenigen beurteilt, diffamiert, die nicht in die Lobeshymnen auf „Das neue Herz Europas“ einstimmen können?
Ja – wie es der eben zitierte Spruch einer Gegnerin ironisch aufgreift – als „Mob“. Als „Eventdemonstranten“ oder als „ewig Gestrige“, die nicht ganz bei Trost sind. Als „Randalierer“, als „Freizeitpunks“ u.a.m. Am vorigen Mittwoch beklagten sich nach dem Gebet hier zwei ältere, gut-bürgerliche Damen: „Stellen Sie sich vor, uns wird nachgesagt, wir würden für unseren Protest bezahlt.“
Der Autor Heinrich Steinfest, der in Stuttgart lebt und zur Zeit an einem Kriminalroman mit dem Thema „Stuttgart 21“ arbeitet, sagt dazu:
„Die Stuttgarter definieren den Begriff der Demokratie neu. Es wird immer gesagt, Stuttgart 21 sei demokratisch legitimiert. Aber die Leute schauen sich genau an, wie dieser Legitimationsprozess erfolgt ist. Politiker haben aufgrund eines Fraktionszwangs einer Sache zugestimmt, über die sie nicht restlos informiert gewesen sind. Eine Lücke, welche die Protestierenden nun selber füllen.“
Und seine Einschätzung: „Ich habe noch nie eine Demonstration erlebt, wo die Leute so viel analysieren. Die haben tatsächlich Ahnung.“
Warum merken andere das nicht? Warum hören sie was anderes? Schwadronieren von „unreflektierter Agitation“, von „Schwarz-weiß-Schemata“ und „Halbwahrheiten“ ?
So z.B. der Pfarrer der Stuttgarter Stiftskirche im Evangelischen Gemeindeblatt für Württemberg Nr. 37/2010.
Schlagworte – im wahrsten Sinn! Man merkt die Absicht und man ist verstimmt. Und gewiss nicht im Sinne der Presseerklärung der Bischöfe, in der sie betonen: „Wir nehmen in diesem Konflikt Partei für die Menschenwürde und für einen Umgang in der inhaltlichen Auseinandersetzung, der dem sozialen Frieden dient.“

Befürworter des Großprojekts könnten an dieser Stelle einwenden: „Und was ist mit ‚Lügenpack’? Ist das etwa in Ordnung?“ Nein – ist es grundsätzlich auch nicht. Aber ich erlaube mir, nach Ursache und Wirkung zu fragen.
Niemand – auch niemand im Kirchenamt – sollte auf der einen Seite mit der Goldwaage hantieren, auf der anderen aber in vornehm-zurückhaltender „Neutralität“ schweigen.
Wer absichtsvoll provoziert wird,
– etwa durch die Verweigerung eines Baustopps,
– etwa durch Abbrucharbeiten abends zwischen 18 und 19 Uhr während einer Montagsdemo,
– etwa durch Gesprächsverweigerung (bisher zumindest),
– etwa durch Drohungen und Einschüchterungsversuche,
um nur einige Beispiele zu nennen – wer so behandelt wird, dem platzt auch mal der Kragen.

Ich darf aus der Bibel zitieren:  „Ihr verblendeten Führer, die ihr Mücken aussiebt, aber Kamele verschluckt! Weh euch, ihr Heuchler, die ihr die Becher und Schüsseln außen reinigt, innen aber sind sie voller Raub und Gier! Von außen scheint ihr vor den Menschen fromm, aber innen seid ihr voller Heuchelei und Unrecht. Ihr Schlangen, ihr Otternbrut!“ (Mt.23, 24-33 i.A.)
Alles andere als eine wohltemperierte Rede. Vielmehr die Sprache des Machtlosen, der Zorn eines, der gegen die Arroganz der Macht aufbegehrt.
Dass bei den Sondierungsgesprächen, die jetzt – auf Vermittlung des katholischen Stadtdekans – doch in Gang zu kommen scheinen, ein moderater Ton vorherrschen möge, versteht sich von selbst.

Ein Zweites: In nahezu jedem Interview, das von einem der Stuttgart21-Akteure gegeben wird, ist von Unumkehrbarkeit die Rede.
Mir ist in menschlichen Verhältnissen nichts, aber auch gar nichts bekannt, das nicht umkehrbar wäre. Selbst vom Tod, dem scheinbar Unumkehrbaren, bekennen Christen: Seine Macht ist aufgehoben.
Umkehr ist eine der ganz grundlegenden Optionen menschlicher Existenz. Die Möglichkeit zur Umkehr gehört konstitutiv zu dem Menschenbild, das uns in christlicher Tradition überliefert ist. Umkehr hat mit Freiheit zu tun.
Diese Freiheit zu bestreiten, ist anmaßend. Sie zu bestreiten, obwohl man um die Option der Umkehr weiß, zielt auf Resignation und Einschüchterung.
Wenn die Kirchenleitungen von Menschenwürde sprechen: Warum erheben sie an dieser Stelle nicht vehement Widerspruch?
Redet uns nicht von Unumkehrbarkeit! Beraubt die Bürger nicht der Freiheit, die sie haben!

Meinen dritten Punkt möchte ich überschreiben:  An ihrer Sprache sollt ihr sie erkennen!
Es wird ja immer wieder behauptet, der ganze Protest gegen das Projekt Stuttgart 21, das zutreffender „Babel 21“ heißen müsste, sei Folge eines Vermittlungsproblems. Die einzige Selbstkritik der Betreiber:  Man habe versäumt, den Bürgerinnen und Bürgern die Vorzüge der schönen neuen Bahnhofswelt nahe zu bringen.
Ist da was dran?
Nein – es wurde ja auf vielfältige Weise geworben:
Anfangs: „Paris – ein Vorort von Stuttgart“. Ironisch-schillernd zwar, hat aber nicht funktioniert.
Dann wurde „Unser schönstes Geschenk“ präsentiert und „Das neue Herz Europas“. (Und manche von der Elite des Fortschritts laufen jetzt tatsächlich mit so einem Herz-Button herum – wie einfallsreich!) Und dann noch: „Das schaffen nur wir.“
Angesichts solch ebenso deplazierter wie großmundig-dämlicher Sprüche – warum kam da nicht deutlich die Reaktion: Einspruch! Insbesondere von denen, die eine gepflegte, menschenwürdige Kommunikation anmahnen?

Und wenn OB Schuster in einem Offenen Brief – bereitwillig verbreitet von den örtlichen Presseorganen – beteuert:
„Wir sind für Sie alle da“ und Bahnchef Grube tönt:  „Wir wollen den Stuttgartern doch etwas Gutes tun.“
Jeder, der ein Gespür für Worte hat, hört in diesem Gesäusel die schiefen, falschen Töne. Man muss sich gar nicht an einen erinnern, der 1989 in Verkennung der Situation so geredet hat – und ausgelacht wurde. Man muss nur aufmerksam hören. An ihrer großspurigen, verlogenen Sprache müsstet ihr sie erkennen!

Ein vierter und letzter Punkt – ganz kurz:
Wenn es an Sprachsensibilität fehlt: Warum erkennen die Wächter der Menschenwürde nicht, mit welcher Art von Projekt wir es zu tun haben?
Größer – weiter – schneller – teurer ist die Devise.
Aber:  Mehr und mehr Menschen, nicht nur die offen protestierenden, glauben dieser Heilslehre des grenzenlosen Fortschritts nicht mehr. Zumal wenn er so zerstörerisch daherkommt. Sie haben gute Gründe aus schlechten Erfahrungen.
Der Geist eines solchen Projekts, der Geist des Größer-weiter-schneller-teurer ist als Ungeist erkannt worden. Lebensqualität wird heute von vielen an anderen Werten gemessen.
Dabei geht es nicht – zumindest nicht nur – um einen Stellvertreterkonflikt, wie der evangelische Stadtdekan meint.
Der Widerstand gegen Stuttgart 21 kennzeichnet vielmehr am konkreten Fall – wo auch sonst? – die Abkehr von dieser Art Machbarkeits- und Größenwahn. – Wenn das kein Thema für die Kirchen ist!
Abkehr von den Tunnelbauten zu Babel, das ist alles andere als rückwärts gewandt. Wache und informierte, ideenreiche und verantwortungsbewusste Bürger – nicht der Mob – machen sich frei von eingeredeten Ängsten, auch von der Angst, abgehängt zu werden.
Frei-werden von Ängsten, die manche haben mögen, die von anderen instrumentalisiert werden: Kein Thema für die Kirchen? Oder merken sie wieder einmal nicht, dass sich mit dem Widerstand gegen das Babel-Projekt Menschen Gehör verschaffen, die umkehren?
Sie kehren um zu einer menschen- und umweltfreundlichen Lebensweise, in einer ebensolchen, in ihrer Stadt.
Sie kehren um in die Zukunft. Und nicht wenige von ihnen fragen: Seid ihr – Kirche – lediglich Hüter einer Gesprächskultur? Oder „Salz der Erde und Licht der Welt“?

Ansprache von Karl Martell, Pfarrer i.R.,
beim „Gebet im Schlossgarten“ am 22. Sept. 2010

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