(hier die Ansprache als pdf-Datei)
(und hier alle Lieder und Texte dieses Parkgebets)
Liebe Parkgebetsgemeinde,
„O komm, du Geist der Wahrheit“ heißt es im Eingangslied zu diesem Parkgebet. Beim Umgang mit dem Projekt Stuttgart 21 haben wir ja traurige Erfahrungen gemacht, wie mit der Wahrheit umgegangen wird, wie sie verbogen und dann mit Wasserwerfern und überzogenen Strafverfahren durchgesetzt wird. Aber wir haben die Lügen aufgedeckt und tragen sie unermüdlich in die Medien, vor die Gerichte und auf unsere Demonstrationen.
Wir haben dabei in so vielerlei Hinsicht von Anfang an recht gehabt, dass wir in einer großen Gefahr stehen: Wir können überheblich werden und glauben, das liege daran, dass wir halt so klug oder so gut seien. Und wir beginnen womöglich zu glauben, das sei grundsätzlich so: dass wir die Dinge alle richtig durchschauen. Aber bedenken wir: Nicht, weil wir so klug oder so gut wären, haben wir S21 so gründlich durchschauen können, sondern weil S21 so konsequent verlogen war und ist. Und auch für diese Erkenntnis mussten und müssen wir sehr viel an Arbeit leisten.
Wenn aber schon die Wahrheit eines solchen Projekts nur mit großer Mühe und Disziplin zu entdecken war, wieviel mehr gilt das für „die“ Wahrheit, die Wahrheit der Welt? Denn um die geht es ja in dem Lied. Wenn schon politische oder technische oder medizinische Wahrheiten ein hohes Maß an fachkundiger und selbstkritischer Arbeit bedeuten – wieviel mehr die Wahrheit der Welt! Wie schnell „wandeln“ wir „im Rat der Gottlosen“, wie es im Psalm dieses Parkgebets heißt, wenn wir vorschnell unsere eigene kleine Wahrheit mit der Wahrheit der Welt gleichsetzen.
Ich will Sie heute einmal auf eine kleine Reise durch die Werkstatt des Theologen mitnehmen, um zu sehen: Wie gehen sie vor, um in biblischen Texten möglichst nicht lediglich die eigene Wahrheit zu entdecken, sondern die Wahrheit der Welt oder ein wenig von ihr? Wir werden dabei zunächst auf den griechischen Gott Hermes treffen. Aber keine Sorge: Wir bleiben auf dem Boden unseres christlichen Glaubens.
Zunächst einmal, was überhaupt das Problem ist beim Auslegen eines Bibeltextes: Ob uns das bewusst ist oder nicht: Wir stehen ständig in der Gefahr, dass wir in dem Bibeltext lediglich die Gedanken finden, die wir darin suchen – also unsere eigenen Gedanken, nicht aber die Gedanken des Textes. Wenn wir nicht höllisch aufpassen – oder sollten wir besser sagen: himmlisch aufpassen? – bleiben uns die Texte verborgen und wir nutzen sie nur, um unsere eigenen Gedanken an ihnen zu „entdecken“.
Eigentlich bräuchten wir einen Götterboten, der uns gewissermaßen die wirkliche Botschaft des Textes mitteilt, damit wir nicht das Unmögliche tun müssen: unsere eigenen Gedanken draußen zu halten und nur auf den Text selbst zu hören. In der griechischen Mythologie macht das Hermes, der Götterbote: Er sagt den Menschen den göttlichen Willen, obwohl und weil sie selbst ihn nicht erkennen können.
Angelehnt an diese Vorstellung hat man deshalb in der Literaturwissenschaft die Unmöglichkeit, einen Text richtig zu verstehen, als „hermeneutischen Zirkel“ bezeichnet. Die „Hermeneutik“ als die Lehre davon, wie die Botschaft eines Textes zum Empfänger gelangt; und der Zirkel als Ausdruck für den Teufelskreis, in dem wir uns dabei befinden: Wir haben – sobald wir einen Text beginnen zu lesen – bereits Gedanken, was der Text wohl sagen könnte, und verbauen uns mit diesen Gedanken den Zugang zum Text selbst.
Weil auch die Theologen früh erkannt haben, dass es ganz offensichtlich schwierig ist, einen Text wirklich so zu verstehen, wie er wirklich gemeint war, haben sie Techniken entwickelt, wie sie diese Gefahr zwar ganz gewiss nicht völlig ausschließen, aber doch verringern können. Sie haben eine Reihe von Auslegungs-Schritten aufgestellt, mit denen man nicht so schnell in einen Text seine eigenen Gedanken hineinträgt, sondern die wirkliche Aussageabsicht des Textes nach und nach freilegen kann.
Dazu gehört z.B. die Frage: Ist der Text überhaupt richtig übersetzt worden?
Ein Beispiel: Wir kennen alle die biblische Erzählung, wie Gott Eva aus einer Rippe Adams macht. Und schon gehen unsere Gedanken los, dass die Frau offenbar weniger wert sei als der Mann – eben nur ein kleiner Teil, die Rippe, von ihm. Aber: Das hebräische Wort, das hier mit „Rippe“ übersetzt wurde, meint in Wahrheit nicht „Rippe“, sondern „Seite“. Die tatsächliche Vorstellung in dieser Erzählung ist deshalb die: Eva wurde aus der Seite Adams, also der kompletten Hälfte, der Länge nach durchgeschnitten geschaffen, als exaktes Spiegelbild, völlig gleichwertig. Und wenn man dann noch erkennt, dass Adam gar kein Name ist, sondern „Mensch“ meint, wird noch klarer: Nicht die Frau wurde in der Vorstellung dieser Schöpfungserzählung als Hälfte des Mannes geschaffen, sondern Mann und Frau als Hälften des Menschen. Wenn ich das entdeckt habe, sagt mir der Schöpfungstext etwas, was ich in ihm bisher nicht gelesen hatte.
Auf eine weitere Frage bei der Suche nach der Wahrheit eines Bibeltextes stoßen wir, wenn wir manche Auslegungen des Gleichnisses z.B. vom verlorenen Sohn lesen. Der hatte sich ja sein Erbe auszahlen lassen, sein Elternhaus verlassen, hatte in Saus und Braus gelebt, sein ganzes Erbe verprasst, war dann in bittere Not geraten, hatte mit Schweinen gehaust und gehungert und war schließlich wieder zu seinem Vater heimgekehrt.
Was haben Ausleger sich da schon Mühe gegeben zu deuten, was mit dem Erbe gemeint sei, was mit den falschen Freunden und der Hurerei, was es bedeutet haben könnte, dass er mit den Schweinen im Dreck gelebt hatte, usw. Hätten sie sich klar gemacht, dass diese Geschichte ein Gleichnis ist, und sich kundig gemacht, was der Unterschied zwischen einem Gleichnis und z.B. einer Allegorie ist, wären sie nicht auf diesen Abweg geraten.
Denn das Typische eines Gleichnisses ist, dass eben gerade nicht Punkt für Punkt, Szene für Szene gedeutet wird. Sondern das ganze Gleichnis hat nur eine einzige Aussageabsicht, der die ganze Geschichte nur als Verbildlichung dient. Beim Gleichnis vom verlorenen Sohn ist das, was vom Gleichnis verglichen werden soll, nur das Eine: So wie in dem Gleichnis der Vater den Sohn liebevoll aufnimmt, ohne, dass der seine Fehler gutmachen muss, so nimmt in der Wirklichkeit, von der Jesus mit dem Gleichnis spricht, Gott uns Menschen auf, ohne, dass wir unsere Fehler gutmachen müssen.
Würde es sich um eine Allegorie handeln, wäre es richtig, die einzelnen Elemente der Geschichte auszulegen. Allegorien sind jedoch komplexe, ausgearbeitete Geschichten, die in der mündlichen Rede deshalb praktisch nicht vorkommen. Jesus hat ja seine Geschichten alle mündlich und spontan erzählt, weshalb von keinem seiner Gleichnisse anzunehmen ist, dass es als Allegorie ausgelegt werden darf.
Und ein Letztes möchte ich ansprechen, was auf dem Weg zur Wahrheit eines biblischen Textes immer von ganz zentraler Bedeutung ist: der Kontext.
Nie darf eine Bibelstelle für sich allein gelesen werden, immer muss ihre Aussage und Begrifflichkeit zur ganzen Vielfalt der biblischen Geschichten in Beziehung gesetzt werden. Denn wir glauben ja nicht an die Bibel oder gar einzelne Sätze in der Bibel, sondern an den Gott, wie er für uns aus dem vielfältigen (und auch widersprüchlichen) Gesamten der Bibel wahrnehmbar wird. Im Kontext der ganzen Bibel auslegen, heißt: Wir müssen immer fragen, ob unsere Auslegung einer Einzelstelle zum Kontext passt, also zu den Texten in der direkten Nachbarschaft des jeweiligen Buches und zur Bibel als Ganzer.
Das Gleichnis vom verlorenen Sohn hat Lukas z.B. in eine Reihe mit anderen Gleichnissen gestellt, die alle rund um das Stichwort „verloren“ kreisen. Alle diese „Verloren“-Gleichnisse sind deshalb auf Fragen hin auszulegen wie: Kann man vor Gott verloren sein? Wie geht Gott mit – vermeintlich – Verlorenen um? – Darüber wollte Jesus mit diesem Gleichnis etwas sagen, nicht über Erbschaftsfragen, Hurerei oder Sterben oder was auch immer.
Und wenn wir das Gleichnis über den Kontext des Lukas-Evangeliums hinaus in den Kontext der ganzen Bibel stellen, dann können wir weitere mögliche falsche Auslegungen ausschließen: etwa die denkbare Auslegung, man müsse sich – wie der Sohn – aber auch wirklich selbst für die Heimkehr zum Vater entscheiden. Denn Geschichten wie das Gleichnis vom großen Abendmahl – wo umgekehrt Gott die Verlorenen suchen lässt – oder auch vom leidenden Gottesknecht im Buch Jesaia – wo Gott sein Volk erlöst, indem er selbst für die Menschen leidet und sich ihnen zuwendet, nicht umgekehrt – sprechen eine andere Sprache.
Alle diese Schritte und Regeln zur Bibel-Auslegung und etliche weitere bieten natürlich keine Garantie, dass wir Bibeltexte wirklich richtig verstehen und angemessen auslegen. Dazu reicht es vor allem nicht, diese Methoden einfach anzuwenden, sondern es gehört eine sehr ernsthafte innere Bereitschaft dazu, nicht bei seinen eigenen Gedanken stehenzubleiben, sondern wirklich Neues und wirklich Biblisches entdecken zu wollen. „Demut“ ist ein nicht mehr sehr gebräuchliches Wort, das diese Haltung ausdrückt: Nicht ich bestimme mit meinen Gedanken, was der Bibeltext sagen soll, sondern ich nehme mich so weit wie möglich zurück, nehme mir fest vor, Neues zu erfahren, meine Gedanken korrigieren, ergänzen, erneuern, neu ausrichten zu lassen – auch, wenn möglicherweise für mich Unerfreuliches dabei herauskommt.
Diese Demut hat uns übrigens auch bei Stuttgart 21 stark gemacht: Wir waren von Anfang an bemüht, objektiv zu bleiben, waren bereit, auch im einen oder andern Fall zurückzurudern, weil wir eine Vermutung nicht wirklich belegen konnten, und wir haben manche Detail-Themen nicht weiterverfolgt, weil wir erkannt hatten: Nicht alles, was „die Politik“ sagt, ist deshalb gleich falsch oder gelogen. Auch bei S21 haben wir uns dem hermeneutischen Zirkel entsprechend verhalten: immer erst demütig sehr genaue Detailarbeit geleistet, bevor wir mit vollmundigen Vorwürfen an die Öffentlichkeit gegangen sind. Auch die – verlogene – Wahrheit von Stuttgart 21 mussten wir demütig erarbeiten.
Lassen Sie uns grundsätzlich auf diese Weise mit dem Leben, den Menschen, den Wahrheiten umgehen: immer bereit, Neues zu erfahren und auf eigene Irrtümer zu stoßen. „Komm in unsre stolze Welt … dass nicht Neid, Angst, Not und Schmerz deine Wahrheit uns verhülle“, heißt es im zweiten Lied dieses Parkgebets. Für diese selbstkritische Haltung braucht es einen gelassenen, starken Glauben. Den wünsche ich Ihnen.
Amen.