Ansprache beim Parkgebet am 16.7.2020 von Pfr.i.R. Martin Poguntke

(hier als pdf-Datei)

Parkgebetsansprache am 16. Juli 2020 zu Epheser 2, Vers 8

Liebe Parkgebetsgemeinde,

schön, dass das Virus uns wieder erlaubt, hier im Schlossgarten einander leibhaftig zu begegnen. Auch wenn die Fahrt in den Öffentlichen Verkehrsmitteln immer noch ein wenig beklemmend ist, mit den Masken und dem Bemühen, Abstand zueinander zu halten – schön, Sie hier direkt vor mir zu sehen!

Gar nicht schön ist, was unsere Ingenieure vor wenigen Wochen zum fehlenden Brandschutz in den S21-Tunnels entdeckt und veröffentlicht haben. In Dokumenten, die die Bahn geheim halten wollte, haben sie falsche Zahlen aufgedeckt, Verletzungen der Bahn-eigenen Regelwerke, „best case“-Szenarien, also, dass grundsätzlich das glückliche Zusammentreffen der günstigsten Faktoren angenommen wurde.

Und das Eisenbahnbundesamt hat entschieden, dass die eigentliche Genehmigung des Brandschutzkonzeptes erst nach Fertigstellung der Tunnels ausgesprochen wird. Dann aber können die Genehmigungsbehörden nicht mehr frei entscheiden, denn ein unglaublicher Druck lastet auf ihnen:

Entweder verweigern sie dem Brandschutz-Konzept die Zustimmung, dann wird ihnen vorgeworfen, dass wegen ihnen Milliarden umsonst vergraben worden sind. Oder sie stimmen dem Konzept zu, dann tragen sie die Verantwortung dafür, dass tagtäglich in den Stuttgarter Tunnels eine Katastrophe mit hunderten oder sogar über tausend Verletzten und Toten passieren kann.

Wir fordern deshalb: Die Tauglichkeit – vielmehr: die Untauglichkeit – dieses verlogenen Konzepts muss heute schon festgestellt werden. Alles andere ist verbrecherisch.

Ich frage mich immer wieder: Was geht in Menschen vor, die so ein Verbrechen sehenden Auges zulassen oder sogar selbst veranlassen? Was für ein eigenartig kaputtes Verhältnis zur Verantwortung müssen sie haben, zum Leben, zur Welt? Und ich ertappe mich bisweilen bei der Versuchung zu denken: Ich(!) würde an deren Stelle ganz anders handeln.

Aber ob das wirklich so wäre – ich weiß es nicht. Klar, ich mache schon auch Vieles richtig in meinem Leben. Und klar: Es gibt schon immer wieder Situationen, in denen wir alle durchaus auch ein wenig als Vorbilder taugen. Aber zumindest für mich gilt das nur für einzelne Situationen, nicht für mich und mein Leben als Ganzes.

Eher staunend blicke ich mich manchmal um, wenn ich gespiegelt bekomme, dass ich doch an der einen oder anderen Stelle hilfreich sein konnte, dem einen oder anderen Schüler etwas bedeutet habe, durch mich eine Sache sich positiv entwickeln konnte. Solche Momente machen mich glücklich und dankbar.

Dankbar, dass durch mich bisweilen offenbar Momente von etwas Besonderem passieren – ohne, dass ich etwas Besonderes wäre und sein müsste. Durch ganz gewöhnliche Menschen wie mich und wie Sie, liebe Parkgebetsgemeinde, geschieht bisweilen Besonderes. Sehr oft erfahren wir es gar nicht, wenn diese kleinen Besonderheiten passiert sind, weil wir den Menschen gar nicht wieder begegnen, für die wir für einen Moment etwas bedeuten konnten.

Andern Menschen bisweilen etwas bedeuten, politisch bisweilen auf der richtigen Seite gestanden zu haben – ich empfinde das als Geschenk. Auch wenn natürlich mein ganzes Leben lang ich es war, der mein Leben gelebt hat – dennoch habe ich mein Leben doch nicht selbst zu dem gemacht, was es ist.

Das scheint mir der Wochenspruch dieser Woche aus Epheser 2, Vers 8 auszudrücken:

„Aus Gnade seid ihr selig geworden durch Glauben, und das nicht aus euch: Gottes Gabe ist es.“

Im ersten Moment scheint einem diese Perspektive etwas wegzunehmen. Wenn wir alles das, was aus uns und durch uns geworden ist, nicht als Eigenleistung sehen, sondern als Geschenk – wird uns nicht damit unsere eigene Leistung streitig gemacht? Aber wenn ich aufrichtig bin: Ich kann nichts an meinem Leben finden, von dem ich sagen könnte: das hätte ich ganz allein aus mir heraus gemacht – immer waren andere daran beteiligt.

Vor allem aber meine ich, es wird uns durch diese Perspektive noch mehr gegeben als genommen: Denn unser Blick wird gelenkt auf all die vielen – bemerkten und unbemerkten – Quellen rund um unser Leben, mit deren Hilfe wir zu dem wurden, was wir sind. Bedenken Sie: All die Menschen um Sie her, die es gut oder böse mit Ihnen meinten, die dazu beigetragen haben, dass Sie – leidlich vielleicht nur – liebesfähig wurden, aber auch widerstands- und durchsetzungsfähig. All die Menschen um Sie, von denen Sie angeregt wurden zu eigenem Denken, durch deren intelligente Art – oder auch durch deren dumme Fragen. All die Zufälle, die wir gar nicht nennen können und an die wir uns gar nicht erinnern können – all das ist ein riesiger Biographie-Kosmos, an dem und durch den wir das werden konnten, was wir heute sind. Daran waren wir beteiligt, aber wir haben es nicht gemacht.

Der Blick zurück auf unser Leben macht natürlich nicht nur glücklich, sondern auch ärgerlich. Denn wir mögen ja nicht alles an uns und unserer Lebensgeschichte. Wir leiden ja bis heute auch an verpassten Chancen und vielleicht schweren Rückschlägen in unserem Leben. Oft machen wir das in unserer Erinnerung an einzelnen Personen fest. Wir greifen einzelne Menschen oder Situationen heraus, die uns vermeintlich beschädigt oder unglücklich gemacht haben.

Wenn es uns allerdings gelingt, beim Rückblick auf unser Leben diesen weiten Blick zu gewinnen, der sagt: „Gottes Gabe ist es“ – dann spüren wir: Im Guten wie im Bösen waren es nicht wir allein und nicht die Menschen allein, an die wir uns erinnern. Sondern ein dichtes, undurchdringliches Gewebe, das wir Lebensgeschichte nennen, hat uns zu dem gemacht, was wir heute sind. Und weil wir spüren, wie letztlich unfassbar und verborgen dieses unüberschaubare Netz unserer Lebensgeschichte ist, wenden wir uns an den unbekannten Ursprung unseres und allen Lebens.

Dankbarkeit und Zorn, beides werfen wir diesem Ursprung des Lebens, diesem Geheimnis der Welt vor die Füße und nicht einzelnen angeblich Verantwortlichen. Und wir rechnen es auch nicht uns selbst zu – stolz oder selbstzerstörerisch. Welche Entlastung für unser Verhältnis zu uns selbst und zu den anderen kann es doch darstellen, wenn wir Glück und Enttäuschung nicht uns selbst und nicht einzelnen Anderen zurechnen!

Natürlich kann das nicht heißen, dass Menschen für ihr Leben nicht die Verantwortung tragen. Wie könnte es sonst Ethik und Schuldfähigkeit geben? Aber: Ich kann nicht entscheiden, wofür wer im Einzelnen(!) verantwortlich ist und was an seinem Leben sein so Geworden-Sein ist. Ich muss es offenlassen, das Urteilen einem anderen überlassen.

Und wenn uns dieser weite Blick zurück und weg von uns selbst und einzelnen Menschen gelingt, dann hat das eine eigentümlich positive Wirkung auf unsere Seelen-Hygiene: Wir lernen, mit uns selbst und mit den andern demütiger und dankbarer umzugehen. Und vielleicht entdecken wir in unseren Gedanken und Empfindungen über unser Leben und das der anderen dann auch einzelne versöhnende Körnlein. Vielleicht gelingt es uns hier und da, unsere Leben anzunehmen – das Leben der uns oft so belastenden Anderen und unser eigenes.

Das ist gemeint mit „Glauben“, durch den wir „selig geworden“ sind, wie der Wochenspruch sagt: wenn in uns ein wenig das Vertrauen gewachsen ist, durch das wir – wenigstens teilweise – dann auch gelassen und ruhig wegsehen können von unserem eigenen Leben und hinschauen können auf andere Menschen, Dinge, Probleme um uns herum, für die wir gebraucht werden: für den Kampf für einen funktionierenden Brandschutz zum Beispiel, überhaupt für den Kampf für einen funktionierenden Bahnhof und gegen dieses Kellerbahnhöfchen, für den Klimaschutz, für diese wunderbare Welt.

Um Verantwortung für die Welt wahrnehmen zu können, im Kleinen wie im Großen, muss man Abstand von sich selbst gewinnen und ein Bewusstsein dafür, was diese Welt für ein Juwel ist, für das es sich lohnt, sich einzusetzen. Denn diese Welt war und ist es ja, die unser jeweils eigenes Leben hervorgebracht hat. Gottes Gabe ist es, dieses Leben und diese Welt. Und Gottes Gabe ist es auch, wenn wir es schaffen, uns zu engagieren. Nicht weil wir was Besseres wären, sondern weil wir gelassener damit leben können, dass wir genau das nicht sind: was Besseres.

Das wünsche ich Ihnen und mir, liebe Parkgebetsgemeinde, dass wir das immer wieder für uns persönlich sprechen können: Es ist ein Geschenk, dass ich Momente der Gelassenheit, ja, des Glücks kenne. Und es ist ein Geschenk, wenn ich so bisweilen anderen zum Geschenk werden kann. Das schenke uns Gott. Amen.

 

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