Predigt zu Jes 11,1-9 am 30.12.2012 in Großerlach von Pfr. i. R. Friedrich Gehring
(Erweiterung der Kurzpredigt vom 26.12.2012 im Stuttgarter Schlossgarten)
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Jesaja verkündet diese große Friedensvision in einer unfriedlichen Zeit. Als Angehöriger der Elite scheint er einige Zeit geschwiegen zu haben, aber dann erlebt er im Tempel die Berufung durch den Gott Israels und wird zum scharfen Kritiker seiner eigenen Gesellschaftsschicht. Die Mächtigen im Lande setzen nach außen statt auf den Gott Israels auf die Logik militärsicher Gewalt ( Jes 7,9) und nach innen auf immer mehr Wirtschaftsmacht, indem sie sich eine Monopolstellung verschaffen an Immobilien und landwirtschaftlichen Flächen (Jes 5,8). Sie nutzen diese Machtstellung zu rücksichtsloser Bereicherung. Jesaja wirft ihnen vor: „Ich habt den Weinberg abgeweidet, das von den Armen Geraubte ist in euren Häusern.“ (Jes 3,14). Sie verdrehen das Rechtswesen zu ihren Gunsten, Jesaja wirft ihnen vor, dass sie „dem Schuldigen Recht geben um Bestechung und dem Unschuldigen sein Recht absprechen“ (Jes 5,23). Jesaja muss dieser korrupten Führungsschicht den Niedergang voraussagen, sie werden fallen wie ein Baum, an den die Axt gelegt wird. Aber danach wird aus dem Wurzelstumpf eine neue, gerechte Gesellschaft aufwachsen wie ein neuer Trieb. Ein neuer Herrscher wird durch Gerechtigkeit eine friedliche Gesellschaft aufbauen. „Er wird die Armen richten mit Gerechtigkeit und den Elenden im Lande Recht sprechen mit Billigkeit; er wird den Tyrannen schlagen mit dem Stabe seines Mundes.“(Jes 11,4) Die Macht der Waffen wird ersetzt durch die Vollmacht der Argumente. Die gesamte Schöpfung, Mensch und Tier, werden einträchtig miteinander leben (Jes 11,6-9).
Vor etwa 2750 Jahren übt Jesaja diese Gesellschaftskritik und verkündet er als Prophet diese kühne Friedensvision. Die Aktualität seiner Worte ist heute mit Händen zu greifen. Die Dominanz der militärischen Logik hat in unserem Land dazu geführt, dass wir zu den größten Waffenexporteuren der Welt gehören. Der Missbrauch wirtschaftlicher Macht wird in der Ausbeutung durch Niedriglöhne sichtbar, in Lateinamerika und Asien, aber immer mehr auch in unserem Land. Die Reallöhne sinken, immer mehr Vollzeit Arbeitende müssen Hartz IV beantragen, während eine kleine Schicht immer reicher wird. Auch bei uns ist – mit Jesaja zu sprechen – das von den Armen geraubte in den Häusern von Reichen. Bestechung triumphiert auf den verschiedensten Ebenen, nicht nur im Wirtschaftsleben, unsere Parlamentarier weigern sich, die Bestechung von Abgeordneten unter Strafe zu stellen, und nehmen nach ihrer Amtszeit gut bezahlte Stellungen an bei Firmen, deren Lobbyisten sie zuvor Gehör geschenkt haben. Das Recht wird, um mit Jesaja zu sprechen, verdreht. Eine Angestellte, die einen Pfandbon betrügt, wird fristlos entlassen, große Banken können sich für Milliardenbetrug von Strafe freikaufen mit den erschwindelten Geldern. Immer häufiger müssen Gesetzte vom Verfassungsgericht kassiert werden, weil sie gegen die Verfassung verstoßen, wie z B. die Bestimmungen über das Existenzminimum für Asylbewerber. Auch die Mitkreatur, Tier und Pflanzen leiden: Unsere Meere werden überfischt, Arten sterben aus, Urwälder, die grünen Lungen unsere Erde, werden um des vorschnellen Profites willen abgeholzt und gehen so unwiederbringlich verloren. Es ist in einer solchen Welt nicht leicht, an die Vision des Jesaja zu glauben.
Aber die Christenheit hat in Jesus den von Jesaja verheißenen Friedensfürsten, den Messias, erkannt, weil Jesus den Machtmissbrauch der Machthaber seiner Zeit unmissverständlich beim Namen genannt (Mk 10, 42-43) und das Reich Gottes als das Reich der Gerechtigkeit und des Friedens verkündet und gelebt hat (Mk 1,15). In Jesus wird die Vision des Jesaja Wirklichkeit und wir sind in der Nachfolge Jesu aufgerufen, an diesem Reich mitzubauen. Wie soll das gehen, in dieser Welt, in der wir leben, bei deren Ungerechtigkeiten einem immer wieder das Messer in der Tasche aufgehen will? Solche Wutregungen sind zwar verständlich, aber der falsche Weg, es wäre ja wieder die Logik der Waffengewalt. Jesaja bietet die Alternative: Gott wird den Tyrannen schlagen mit dem Stab seines Mundes. Auch Jesus hat der Waffengewalt konsequent entsagt (Mt 26,52), so sind auch wir als seine Nachfolger an die blanke Macht der überzeugenden Argumente gewiesen.
Was dies bedeutet, kann sehr gut verdeutlicht werden an einem heftigen Gegenwartskonflikt in unserem Land, dem Streit um das Projekt Stuttgart 21. Die wesentlichen Kritikpunkte, die Jesaja der Elite seiner Zeit vorhält, finden sich in diesem Projekt heute wieder.
Jesaja brandmarkt den monopolistischen Umgang mit Immobilien und Agrarflächen. Das Projekt Stuttgart 21 ist von Anfang an ein klassischer Fall von Immobilienspekulation. Das Gleisfeld des Kopfbahnhofs, an sich so wertlos wie ein Rübenacker, soll zum teuersten Bauland in Stuttgart werden. Ursprünglich dachten die Macher, der Erlös von einer Milliarde DM werde den Tiefbahnhof vollständig bezahlen und die Bebauung der Flächen werde tausende Arbeitsplätze schaffen. Die Stuttgarter werden dabei aber kaum etwas gewinnen außer teuren Mieten, weil an großen Baustellen heute Billiglohnkräfte aus Balkanländern bauen. Die teuren Mieten schwächen wie zu Jesajas Zeiten die Kaufkraft der Mieter und mehren die Profite der Immobilienhaie, bis die Wuchermieten unbezahlbar werden und die Haie selbst durch Leerstand Pleite gehen (Jes 5,9).
Nun wurde bald klar, dass der neue Bahnhof viel zu teuer wird und der Kopfbahnhof als der zweitpünktlichste Bahnhof Deutschlands verkehrsmäßig der bessere ist. Die Bahn stoppte die Projektplanung und wollte 2004 aussteigen. Da kam der zweite Kritikpunkt des Jesaja ins Spiel, die Bestechung. Der Bahn wurde das Projekt finanziell wieder schmackhaft gemacht durch gewaltige Beiträge der Stadt Stuttgart und des Landes Baden-Württemberg. Einflussnahme auf Unternehmensentscheidungen durch Zahlung von Geld nennen wir normaler weise Bestechung, die Gelder werden gewöhnlich Schmiergelder genannt.
Damit wird der dritte Kritikpunkt des Jesaja berührt: Die Verkehrung des Rechts. In unserer Verfassung legt der Artikel 104 a ausdrücklich fest, dass Bundesaufgaben auch nur vom Bund finanziert werden dürfen, um genau das zu verhindern, was bei Stuttgart 21 geschah, dass nämlich eine finanzstarke Region durch Schmiergelder Bauaufträge in die Region holt, d. h. den finanzschwächeren Regionen die Verkehrsentwicklungsprojekte wegschnappt. Diesem Verfassungsbruch wurde noch die Krone aufgesetzt dadurch, dass unter falschen Kostenbehauptungen der Volksentscheid vom 27.11.2011den Verfassungsbruch legitimieren sollte. So wurde, um mit Jesaja zu sprechen, das Recht verkehrt zugunsten der mächtigen Profiteure.
Nun hat die Bahn die falschen Kostenbehauptungen zurückgenommen und damit eingestanden, dass Stuttgart 21 nicht finanziert ist. Wie bei der Vision des Jesaja keimt nun die Hoffnung, dass von diesem Projekt nur noch ein Stumpf übrig bleibt, aus dem Neues, Besseres aufsprießen kann. Die Kanzlerin selbst hat 2010 erklärt, an Stuttgart 21 entscheide sich die Zukunftsfähigkeit Deutschlands. Ihre Behauptung war ein wenig unscharf. Genauer hätte sie sagen müssen: An diesem Projekt entscheidet sich die Zukunftsfähigkeit des Neoliberalismus in Deutschland. Neoliberalismus heißt „Neue Freiheitlichkeit“. Gemeint ist dabei die uneingeschränkte Freiheit der Wirtschaftsmächtigen. Ziel ist, dass die Reichen immer mehr haben, dann – so wird behauptet – werde es auch den kleinen Leuten besser gehen. Die Finanzierungskrise von Stuttgart 21 zeigt nun sehr deutlich, dass die kleinen Leute von den Profiten der Wirtschaftsmächtigen nicht profitieren, sondern für diese opfern müssen.
Ein Scheitern von Stuttgart 21 könnte also tatsächlich eine Wende in Deutschland einläuten weg vom neoliberalen Denken mit seinen falschen Heilsversprechungen und mit seiner Umverteilung von unten nach oben hin zu einer Rückverteilung von oben nach unten.
Mit dieser Predigt ziehe ich regelmäßig Kritiker auf mich, die eine unpolitische Predigt erwarten ohne zu bemerken, dass diese Erwartung einer scheinbar unpolitischen Predigt ausgesprochen politisch motiviert ist. Ich kann diesen Kritikern nur entgegnen: Sie müssen sich nicht bei mir beklagen, sondern bei Jesaja und bei Jesus. Ich habe bewusst die Schriftlesung aus Lk 16,1-9 gewählt vom ungerechten Mammon. Der Mammon ist aus der Sicht Jesu ungerecht, weil er von unten nach oben verteilt und den Armen keine Chance lässt. Jesus lobt den Verwalter, obwohl er den Besitz seines Herrn veruntreut, aber weil Jesus diesen gerafften Mammon als ungerecht ansieht, ist die Rückverteilung gerecht, auch wenn sie gegen das Gesetz des Mammons verstößt. Das ist in unserer neoliberalen Welt ungeheuerlich, aber mit dieser Rückverteilung wächst das Reich Gottes wie ein neuer Trieb aus einem Wurzelstock. Für dieses Friedensreich will uns das Kind in der Krippe gewinnen. Amen.
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