Liebe Parkgebetsgemeinde,
heute um die Mittagszeit stolperte ich über eine im Boden eingelassene Steckdose in einem Lokal.
Genauer gesagt, der elektrische Teil der Steckdose war in den Boden eingelassen, nicht aber ihre Abdeckung. Wie ein Schildkrötenpanzer erhob sie sich und geriet mir zur Stolperfalle. Ich stürzte nicht, kickte aber diese Abdeckung ca. 7 Meter weit durch den Raum. Erfreulicherweise war da niemand, dem ich sonst diese Abdeckung unbeabsichtigter Weise zwischen die Füße geschossen hätte …
Wieso erzähl ich dieses kleine Erlebnis?
Nun, weil so ein Problem eigentlich leicht vermeidbar wäre: Der frühere Stand der Sicherheit wird heute – wohl aus Kostengründen – weit unterschritten und die Folgen für irgendwelche Schadensfälle irgendwelchen Privatpersonen bzw. den Kostenträgern für deren Missgeschick zugeschoben.
Wenn aber schon Bodensteckdosen nicht mehr vollständig versenkt werden, dann brauchen wir uns eigentlich nicht zu wundern, dass auch im Großen aus Kostengründen geschlampt und die simpelsten Richtlinien der Sicherheit, des Brandschutzes, des Verbotes des Rückbaus von Infrastrukturmaßnahmen, auch noch finanziert mit öffentlichen Geldern, missachtet werden. Als wäre das das Normalste der Welt …
Ganz so wird es auch kommen an den vielen von uns benannten Sollbruchstellen, die bei der Realisierung von „Stuttgart 21“ Rückschritte bedeuten gegenüber dem bisher Selbstverständlichen und Bewährten – im Bereich der Sicherheitsstandards, der verkehrlichen Qualität und der sozialen Bedeutung des Bahnverkehrs.
Vor einigen Jahren schon sagte mir ein älterer Herr, der einmal für die Zulassungsprüfungen kerntechnischer Anlagen zuständig gewesen war: „Früher nahmen wir
unsere Messungen selber vor, dann wurde das Verfahren geändert und die Betreiberfirmen reichten nun die von ihnen selber erhobenen Messdaten schriftlich ein und wir machten unseren Haken dahinter, prüften also nicht mehr wirklich selber. Zum Glück ging ich damals in den Ruhestand.“
Was will ich sagen?
Wir sind die Leute, die diese unernste Art des Umgangs mit ernsten Dingen nicht hinnehmen. Denn die Katastrophe ist vorprogrammiert.
Wir können uns die Wahrscheinlichkeit negativer Folgen an den Fingern einer Hand abzählen.
Was tun? Wir besinnen uns auf uralte Menschheitserfahrungen, die uns auch in der Bibel begegnen.
In der heutigen Tageslosung lesen wir zum Beispiel im Prophetenbuch des Jeremias, im 31. Kapitel, in den Versen 16 und 17:
„Aber so spricht der Herr: Lass dein Schreien und Weinen und die Tränen deiner Augen; denn deine Mühe wird belohnt werden, spricht der Herr. Sie sollen wiederkommen aus dem Lande des Feindes, und deine Nachkommen haben viel Gutes zu erwarten, spricht der Herr, denn deine Söhne sollen wieder in ihre Heimat kommen.“
Diese positiven und ermutigenden Worte werden allerdings gesprochen angesichts der erst noch zu erleidenden Katastrophe. Die, die da wiederkommen sollen, werden erst noch deportiert werden. Weil vor dem Unternehmen, auf das „man“ sich leichtfertig eingelassen hatte, von Jeremia und anderen schon lange gewarnt worden war, wird nun fast unwirklich vom Lohn für die Mühen der Selbstanklage, der Umkehr, der Reue der demnächst tatsächlich bitterlich Weinenden geredet. Die Fehler des Hochmuts und des Größenwahnes werden bitterlich bezahlt werden müssen. Aber … danach wird es eine neue, gute Zukunft geben!
Nun, wir beweinen bereits die zweihundert bis achthundert Meter weiter zu sehenden ersten Zeugen des Hochmuts der Frevler an Natur, Kultur und relativ ordentlicher sozialer Ausgewogenheit in Sachen Bahnverkehr im Herzen unseres Landes. Die Frevler selber aber und diejenigen, die ihnen, wenn auch nur indirekt, zugestimmt haben – bei der Abstimmung über das Ausstiegsgesetz – diese weinen noch nicht. Das wird aber noch kommen.
Aber Jeremia musste – wie wir auch als Gottesgläubige – Gottes Güte selbst angesichts des sich nähernden Orkans dennoch ankündigen: „Noch soll man Häuser, Äcker und Weinberge kaufen in diesem Lande“ (Jeremia 32,15).
Lassen Sie uns zu dem uns heute vorgelegten biblischen Optimismus einen Blick tun in die Überlegungen eines verhältnismäßig modernen Zeugen: Dietrich Bonhoeffer verfasste zu Weihnachten 1943 eine kleine Schrift, die in einer sich zunehmend verfinsternden Zeit dennoch einen Blick wagte, der die sich entwickelnde totale Katastrophe bereits im Vorhinein zu durchdringen versuchte:
„Optimismus ist in seinem Wesen keine Ansicht über die gegenwärtige Situation, sondern es ist eine Lebenskraft, eine Kraft der Hoffnung, wo andere resignierten, eine Kraft, den Kopf hoch zu halten, wenn alles fehlzuschlagen scheint, eine Kraft, Rückschläge zu ertragen, eine Kraft, die die Zukunft niemals dem Gegner überlässt, sondern sie für sich in Anspruch nimmt…“ (Widerstand und Ergebung, Neuausgabe 1970, S. 25)
Liebe Parkgemeinde, ich wollte für uns die Geschehnisse um uns herum biblisch begründet einordnen.
Wenn ich Jeremia und Dietrich Bonhoeffer bemüht habe, dann deshalb, weil wir eine Aufgabe haben: Angesichts der gravierenden Fehler, die allermeist bewusst riskiert werden und die wir so oft nicht verhindern können, den biblisch zugesprochenen Optimismus als Willen zur Zukunft, als Gesundheit des Lebens – festzuhalten.
Oben bleiben – mit dem Bahnhof, mit dem Kopf, mit dem Herzen !
Pfarrer Gunther Leibbrand