Die Weihnachtsgeschichte des Lukas ist geschrieben aus der Sicht der kleinen Leute, die zum Zweck der Steuereintreibung beschwerliche Fußwanderungen auf sich nehmen müssen und dabei nicht einmal eine Herberge finden, selbst wenn eine junge Frau in die Wehen kommt.
Aus der Sicht der Mächtigen ist das belanglos, Hauptsache sie haben das Geld, in Palästen zu wohnen und die Soldaten zu bezahlen, die ihre Ausbeutung mit Waffengewalt sichern. Aber die Weihnachtsgeschichte verlässt diese Sicht der Herrschenden und ersetzt sie durch die Sicht derer, die unter dieser Herrschaft zu leiden haben. Das hat etwas revolutionäres, etwas umwälzendes an sich. Wir nehmen das nicht mehr so recht wahr, weil das Christentum vor mehr als 1600 Jahren eine staatstragende Funktion bekam, danach konnten Christen die Mächtigen nicht mehr so recht kritisieren. Die Weihnachtgeschichte soll seither als Idylle unser Herz erwärmen, nicht unseren Widerstand anfachen.
In der Schriftlesung (Markus 10, 42-45) haben wir aber gehört, dass Jesus den Mächtigen gegenüber noch kein Blatt vor den Mund genommen hat, wenn er nüchtern feststellt: „Ihr wisset, dass die weltlichen Fürsten ihre Völker niederhalten, und ihre Mächtigen tun ihnen Gewalt an.“
Wörtlich übersetzt sagt Jesus: Sie missbrauchen ihre Macht. Das ursprüngliche griechische Wort dafür kommt praktisch nur im Neuen Testament vor, im übrigen Griechisch leistet man sich kein solches Bewusstsein für Machtmissbrauch. Aber Jesus nennt die Dinge beim Namen. Es erscheint irgendwie logisch, dass die römischen Machthaber ihn am Kreuz mundtot machen wollten. Das ist ihnen ja vordergründig auch gelungen. Aber es ist ihnen nicht gelungen, die Botschaft Jesu zum Verstummen zu bringen, nämlich die Welt aus der Sicht der kleinen Leute, aus der Sicht der Ausgebeuteten und Unterdrückten zu sehen. So hat die Weihnachtsgeschichte bis heute nichts von ihrer politischen Sprengkraft verloren, wenn wir sie nicht bloß als Idylle lesen, sondern uns massenhaft dieser Sichtweise von unten anschließen.
Nach dem Tod Jesu war eben nicht alles aus. Die kleine Schar der Jüngerinnen und Jünger Jesu bekam großen Zulauf, weil sie die frohe Botschaft nicht nur predigten, sondern lebten. Sie begannen in Erinnerung an die gemeinsamen Essen mit Jesus bei ihren Zusammenkünften Nahrung so zu teilen, dass auch die Armen unter ihnen satt wurden. Aus dieser Urerfahrung entstand die christliche Kirche. Drei Jahrhunderte hat sie sich die Solidarität mit den Schwächeren und eine kritische Distanz zur Machtentfaltung der Herrschenden bewahrt, und wir sind heute aufgerufen, nach langer Enthaltsamkeit zu dieser ursprünglichen kritischen Begleitung der Mächtigen zurückzukehren.
Was ist zu tun? Wir müssen den Mammon, den größten Götzen dieser Welt und Gegenspieler Gottes, entlarven, wo immer er uns begegnet, und ihm die Gefolgschaft versagen. Denn wir können nicht Gott und dem Mammon zugleich dienen, das sagt uns Jesus unmissverständlich.
Der Mammon, die zerstörerische Kraft des Geldes, des Kapitals, bezahlt die Kriege dieser Welt, er begegnet uns in ausbeuterischen Arbeitsprozessen und er begegnet uns in der Gier, mit der in öffentliche Kassen gegriffen wird zur Bereicherung großer Industriekonzerne. Er verbreitet die neoliberale Ideologie, nur wenn die wirtschaftlich Starken und Mächtigen hohe Profite machen, könne es den kleinen Leuten irgendwann auch einmal gut gehen. Weil dieser Ideologie immer noch von vielen geglaubt wird, stehen wir heute hier in der schlimmen Vorahnung, dass dieser Park bald dem Mammon weichen muss. Heute Morgen traf ich am Backnanger Bahnhof einen Bettler, der vor 20 Jahren Abitur gemacht hat. Er sagte, er sei für Stuttgart 21, weil das Kaufkraft in die Region bringe. Ich fragte, wer da wohl für Hungerlöhne arbeiten werde. Er meinte: „Ha, Ausländer“. Beim Abschied sagte er: „Das muss ich jetzt erst mal verarbeiten.“
Vielfach erscheint der Mammon anonym als ein System, das nicht greifbar ist. Aber manchmal bekommt der Mammon ein Gesicht, etwa als Josef Ackermann an jenem Sonntagabend im September 2008 von unserer Kanzlerin und unserem Wirtschaftsminister ganz schnell weit über 100 Mrd. Euro abgepresst hat mit der Behauptung, es gebe keine Alternative zur Rettung der Hypo Real Estate und der Bankenwelt. Der Mammon erhält auch Gesichter, wenn neoliberale Politiker und Bahnmanager die größte Grundstücksspekulation in der Geschichte Stuttgarts als segensreiches Bahnprojekt anpreisen.
Viele unter uns haben sich nach dem Volksentscheid am 27. November gefragt, ob es bei diesen Mehrheitsverhältnissen noch einen Sinn hat, sich weiter für den Erhalt des Kopfbahnhofs und gegen den Tiefbahnhof zu engagieren. Allen, die in dieser Frage schwankend geworden sind, möchte ich zu bedenken geben, dass Stuttgart 21 nur eines von vielen Mammonsprojekten ist, gegen die schon lange gekämpft worden ist und gegen die noch lange gekämpft werden muss: Das Lohndumping der letzten 20 Jahre, der Umgang mit den Arbeitslosen, unsere jüngst wieder rasant gestiegenen Waffenexporte, die trotz aller Risiken betriebenen Kernkraftwerke, die derzeit von EU-Kommissar Oettinger neu propagiert werden, trotz Tschernobyl und Fukushima, die Eurorettung, die wieder einmal nicht von den Superreichen, sondern von den kleinen Leuten bezahlt werden soll, wie einst bei Maria und Josef.
In diese zerstörerischen Entwicklungen ist Stuttgart 21 eingebettet. Auch wenn wir die bittere Erfahrung machen müssen, dass dieses Projekt doch noch finanziert wird und unsere düsteren Prophezeiungen über dieses Projekt wahr werden, wird unser christlicher Widerstand gegen den Götzen Mammon nicht aufhören dürfen, so wenig die Botschaft Jesu vom Reich Gottes durch seinen Tod verstummt ist. Lasst uns nicht müde werden, die Mängel dieses Mammonsprojekts anzuprangern, wo immer sie sichtbar werden. Und nicht nur dies: Überall, wo der Mammon sein Zerstörungswerk anrichtet, bei den Waffenexporten wie beim Lohndumping oder der Kernkraft, lasst uns unseren Mund aufmachen und unsere christliche Solidarität bewähren bei den Opfern von Landminen, den Niedriglöhnern oder den Kernkraftgeschädigten.
Die Weihnachtgeschichte lehrt uns, die Welt aus der Sicht der Opfer zu sehen. Je mehr Menschen unter uns diese Sichtweise übernehmen, umso mehr nähern wir uns dem Reich Gottes der Liebe und der Gerechtigkeit, das uns das Kind in der Krippe verkündet. Das Kind in der Krippe will uns Mut machen, auf dieses Reich zuzugehen.
Amen.
Pingback: Predigt beim Weihnachtsgottesdienst im Schlossgarten am 26. Dezember 2011 zu Lk 2,1-7 von Pfarrer i. R. Friedrich Gehring - babenbliebens Jimdo-Page!
Ich will -ganz subjektiv- von meinem Besuch des Weihnachtsparkgottesdienstes berichten. (Ich bin übrigens eine regelmäßige Kirchgängerin in einer der Stuttgarter Innenstadtgemeinden.) Da waren Menschen, die sich um den bedrohten Schloßgarten sorgen. Die sich in diesem Gottesdienst der tröstenden Gemeinschaft vergewisserten. Menschen, die um die Kraft baten, friedlich zu bleiben trotz Unrecht. Und viele viele Menschen haben einfach nur geweint. Aus Ohnmacht, aus Erschöpfung, und weil man das auch mal darf, schwach sein und auf Paulus hören. Obwohl uns nicht weihnachtlich zumute war, haben wir gefeiert und geteilt, gebetet und gesungen. So wie man das in einem Gottesdienst macht. Und meiner Landeskirche ist das bestenfalls egal, vielleicht macht sie sich insgeheim sogar darüber lustig. Es ist ihr auf ihrer offiziellen Internetseite jedenfalls keine Zeile wert. Dazu nun ein kurzer Brief:
Liebe Verantwortliche in der Württembergischen Landeskirche,
wissen Sie, das Kernproblem beim S21-Protest ist, daß sich niemand die Mühe macht, ernsthaft zu verstehen, warum wir so betroffen sind. Wir spüren, daß das Menschsein betroffen ist, die Würde. Und die Antworten, die wir bekommen, sind immer nur so oberflächlich. Irgendwas sei beschlossen, man müsse Verständnis haben, ausgleichen, ja nicht spalten, Brücken bauen, befrieden, ja nichts Falsches sagen, sich ja keine Feinde machen und so weiter. Die Obrigkeit wird’s schon richten.
Wer hat sich nochmal für die Würde des Menschseins eingesetzt? Hat das was mit der christlichen Botschaft zu tun?
Gehen Sie doch einmal in den mittleren Anlagen spazieren, solange es diese noch gibt. Stellen Sie sich vor, Ihr Enkelkind hätte dort einen Lieblingsbaum. Einen, wo recht niedrig ein breiter Ast rauswächst, ideal zum Hochklettern. Das Kind will den Baum beschützen, weil es mitbekommen hat, daß er bedroht ist. Was sagen Sie ihm? Was erklären Sie dem Kind, wenn der Baum nicht mehr da ist? Meinen Sie, da würde ein Gerede von Zukunft und Fortschritt was helfen?
Kann sein, daß sich Kirche für Bäume nicht zuständig fühlt, zumindest nicht für die in Stuttgart. Aber für die aufgescheuchten Seelen, die aufgewühlten Menschen, für die, die an der schrecklichen unfriedlichen Stimmung in unserer Stadt leiden, für die könnte sich meine Kirche allmählich mal zuständig fühlen.
Mit freundlichen Grüßen
Dorothee Speck
Danke, Frau Speck. Ich konnte an den weihnachtlichen Gottesdiensten im Schlossgarten nicht teilnehmen, aber jetzt weiß ich, wie ich mich dort gefühlt hätte. Und Danke für Ihren Appell an die Landeskirche.
ich warte immernoch auf die Antwort der Landeskirche.
Jeden Tag fragt mein kleiner Sohn: „ist mein Lieblingsbaum schon weg?“
Jetzt ist es soweit. Der Lieblingsbaum weg, die Tränen da.
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