Rede von Oberkirchenrat a. D. Prof. Dr. Hartmut Jetter

Liebe Landsleute!
Verehrte Mitbürger von Stuttgart und anderswo.

Zunächst ein Danke für die Einladung. Es ist mir eine Ehre, vor Ihnen sprechen zu dürfen!
Uns Gegnern wird ja vorgeworfen, es gehe uns gar nicht mehr um den Bahnhof als solchen. Jawohl, das stimmt! Es geht längst um mehr und um anderes.

Es geht ums Vertrauen, um viel Vertrauen, das verlorengegangen ist. Es geht um eine Entfremdung zwischen den Bürgern und den führenden Kräften unseres Landes, wie es das hierzulande noch nie gegeben hat. Und deshalb muss es uns allen in Zukunft um die Wiederherstellung des Friedens in unserer Stadt gehen, erst recht jetzt nach der Wahl.

Das zum Grundsätzlichen. Das wäre meine Botschaft heute abend.
Und jetzt dazu zum Unterstreichen noch ein paar Gedankengänge:

Vor allem sollen Sie erfahren, warum ich selbst von allem Anfang an mit diesem Projekt nicht einverstanden war, und das auch gesagt habe.

Punkt 1
Es befremdet mich die Überheblichkeit, mit der so viel Gutes und Intaktes kaputt geredet wird. Wir haben unseren zerbombten Städten, ob Dresden, Hamburg oder Stuttgart oder meine Heimatstadt Heilbronn nach dem Krieg wieder ihr Gesicht zurückgegeben.
Und dazu gehörte selbstverständlich der Bahnhof.
Jahrzehnte danach ist für unseren Mann, der heute in Brüssel amtiert, unser Bahnhof hier etwas, was weg soll. „Der Kopfbahnhof, der ist überholt, er stößt an seine Leistungsgrenze, und die Zukunft gehöre dem Durchgangsbahnhof“.  „Alternativlos“ gewissermaßen.
Solches Getue befremdet mich:
Auch z. B. das Reizwort unumkehrbar, das ist eine ganz unheilvolle Wortschöpfung, zudem ganz und gar undemokratisch. Oder diese andere fatale Wortschöpfung „Magistrale Paris–Bratislava“.
Wie schnell ist diese Magistrale bei der Schlichtung im Dezember entzaubert worden, wie schnell – und dabei haben sich auf die Magistrale Minister eingeschworen gehabt.
Es gab, liebe Landsleute, hier einmal auch zu meinen Jugendzeiten eine Magistrale. Das war die Strecke Berlin–Erfurt–Würzburg–Heilbronn, und weiter über Stuttgart, Singen und Zürich.
Bis heute hören wir nur wortreiche Ankündigungen, dass diese vernachlässigte Strecke endlich mal erneuert werden soll. Das hätte der frühere Ministerpräsident, der an dieser Strecke in Spaichingen gewohnt hat, schon längst machen sollen.

Deshalb nach diesen Beispielen: Schluss machen mit diesen aufgeblasenen Schaufensteraufschriften, mit diesen griffigen Schlagworten, auf denen man weder einen Tiefbahnhof bauen kann, noch lassen sich damit heute noch Menschen überzeugen.

Vertrauen braucht Wahrheiten, und Glaubwürdigkeit gewinnt niemand durch Schlagwörter.

Punkt 2
Ich komme zu den Verträgen. Einer redet es dem Anderen nach:
„Ist alles beschlossen! Ist alles unterschrieben!“ Sie fügen’s sogar auf lateinisch hinzu,
damit wir’s bestimmt glauben:„Pacta sunt servanda“
Ich kenn das: Verträge sind einzuhalten. Ja hoffentlich!
Aber, meine Damen und Herren: Es geht doch nicht mehr um die mehr oder weniger demokratisch zustande gekommenen Beschlüsse und Verträge, es geht um deren Grundlagen.

Ich frage mich da:
•     Wer hat denn damals den Finger gehoben und gesagt, ich will mich zu Wort melden, so geht es nicht:
•     Wer steht später einmal zu seiner Verantwortung, nachdem die Unterschrift längst trocken ist?

Und: Wir sehen es ja, die Leute, die diese Verträge unterschrieben haben: Ein volles Dutzend ist schon gar nicht mehr im Amt. So schnell geht das.
Damit ich nicht missverstanden werde: Ich stelle das ohne jede Häme fest. Es ist eine ganz sachliche Feststellung.
Und schon spricht der Bahnchef von hundertprozentig wasserdichten Verträgen und droht mit Schadensersatzforderungen.
Ja, ist denn schon den Beweis erbracht, dass der unterirdische Bahnhof wirklich so viel mehr leisten kann, wie das immer behauptet wird? Niemand weiß es genau!
Wie beim Lied: Weißt Du wie viel Sternlein stehen…
Wann werden endlich die wahren Kosten offen dargestellt?
Übrigens: Wer kann das?

Punkt 3
Die Kosten. Ich nenne keine einzige Ziffer. Von uns Laien kommt da schon längst keiner mehr mit.
Und außerdem, geben wir es ehrlich zu: Weiß jemand von uns, was 1 Milliarde € ist? Und wie leicht reden die über diese Sachen!
Meine Sorge, mein Gravamen: Die Zahlen! Haben die nicht von Anfang an
schon getrogen? Diese Sorglosigkeit und Überheblichkeit von Hochrechnern und Schönrednern!

Ein persönlich erfahrenes Beispiel :
Vor 10 Jahren erhielt ich auf meinen Brief an den Herrn Ministerpräsident Teufel einen Antwortbrief des damaligen Herrn Staatsminister Dr. Palmer.
Ich zitiere aus diesem Brief:
„Hinsichtlich der in Teilen noch offenen finanziellen Fragen laufen derzeit die endgültigen Klärungen“ Und weiter: „Das kann aber nicht bedeuten, dass es Anlass gibt für Abstriche oder Änderungen.“
Bitte, das war im Jahr 2000. Stellen Sie sich das vor. Hätte der Herr Minister im „Geißler-Forum“ 10 Jahre später dafür gerade stehen können? Nein!

Alle Bahnprojekte des vergangenen Jahrzehntes haben zeitlich und finanziell den Rahmen weit gesprengt. Der Berliner Bahnhof: Er brauchte doppelt soviel Zeit und kostete das 3-fache. Und damit er überhaupt rechtzeitig fertig wurde, hat man das Dach einfach kürzer gebaut.
Die Milliardenstrecke im Thüringer Wald: Kosten mehr als 5 Mrd. Bauzeit ca. 25 Jahre . Manche heute schon fertigen Brücken sind schon wieder älter als meine jüngste
10-jährige Enkelin. Wenn sie ihr Abitur hat, werden die Brücken vielleicht zum ersten Mal befahren.
Auch wenn es kein Bahnprojekt ist:
Ich stand im letzten Sommer auf der Baustelle der Elbphilharmonie in Hamburg, dort hab ich mal studiert. Ganz oben 100 m über der Stadt. Es sollte den Steuerzahler keinen Cent kosten. Am Ende werden es dann über 300 Mio. € sein. Geld zum Schneeräumen und zur Reparatur von Frostschäden hatte aber die reiche Hansestadt im vergangenen Februar nicht mehr.
Warum soll das bei uns bei Stuttgart 21 so viel anders sein?

Ich staune, dass heute noch immer wieder versprochen wird:
•     Tausende Arbeitsplätze!
•     30 % mehr Leistungsfähigkeit!
•     Tausende von Wohnungen!
Ja wer, bitte schön, soll da wohnen? Will man denn Cannstatt oder Gaisburg entvölkern? Der allgemeine Bevölkerungsrückgang hat doch auch die Stadt Stuttgart erreicht.
Unser Oberbürgermeister hat einen netten Vergleich gebraucht: Er spricht davon, dass ja auch die Brezel in 10 Jahren teurer sein wird als heute.
Aber: Immer wenn ich mir heute eine Brezel kaufe, dann weiß ich, was ich kaufe, was es kostet, und ich hab auch noch etwas davon.

Zu dem pauschal erhobenen Vorwurf, wir seien Zukunftsgegner, oder Neinsager, oder gar Technikverweigerer. Liebe Freunde, ich bin kein Freund von solch einer Technik, die man im jetzigen Bahnhof gar nicht braucht.
Wissen Sie, von was ich rede? Ich denke an meine Frau, die gehbehindert ist: Von den Rolltreppen. Bei jeder Rolltreppe sage ich mir: Und dann wollen die einen Bahnhof auf Rolltreppen bauen. Und da drinnen in der Königstrasse ist permanent eine Rolltreppe kaputt!
Oder: Jetzt ernsthaft: Wer hat es versäumt, in den 22 Jahren seit der Wende eine Sicherungstechnik einzubauen, die schon die alte deutsche Reichsbahn entwickelt hat? Ist wirklich nur der eine arme Lokführer an dem schweren Bahnunglück von Hordorf bei Halberstadt schuld?
Wer hat es soweit kommen lassen, dass die Berliner S-Bahn zeitweise weniger Züge als 1946 im Einsatz hatte und nur noch Tempo 60 im Winter fahren durfte?

Technik muss her! Aber selbstverständlich! Ich bin für Fortschritt.
Dann aber auch im Rheintal und für die Modernisierung verrotteter Bahnhöfe und Bahnstrecken in unserem Land Baden-Württemberg.

Also: Beendet dieses Projekt!

Was vor 16 Jahren interessiert und vielleicht fasziniert hat, das hat sich inzwischen als Irrweg erwiesen. Die Welt von 2011 ist nicht mehr die Welt von 1994.

Meine Damen und Herren, am heutigen Montag beginnt die Karwoche. Von alters her ist die Stille Woche da zum Innehalten und zum Nachdenklichwerden!
Und jetzt erlauben Sie mir, dass ich noch etwas prophetisches Pathos nachgebe:
Denn der Spruch „Suchet der Stadt Bestes!“, dieser Spruch, den jeder mitnehmen kann, er ist von einem alten Propheten namens Jeremias:

„Suchet der Stadt Bestes!“
Hören wir, hören wir alle auf den Rat des Propheten Jeremias!
Und dann die leitenden Kräfte: Gebt dieser Stadt zurück, was zu ihrem Frieden dient. Friede innerhalb und außerhalb!

Und jetzt noch ganz persönlich: Ich danke Ihnen, dass Sie da waren. Ich zücke den Hut, wenn ich einen hätte, vor Ihnen angesichts Ihrer eminenten Ausdauer.
Und ich wünsche Ihnen jetzt allen einen besinnlichen Karfreitag und hernach:
Frohe Ostern!

Gehalten bei der 72. Montagsdemonstration am 18.April 2011

(Als Video: www.youtube.com/watch)

2 Antworten zu “Rede von Oberkirchenrat a. D. Prof. Dr. Hartmut Jetter

  1. Sehr geehrter Herr Prof. Dr. Jetter,

    es befremdet mich schon ein wenig, wenn ein sogenannter ehem. „Oberkirchenrat“ und Professer so viel wirre Gedanken hier im Netz verbreitet. Teilweise fehlen mir gar die Worte, wie ein gebildeter Mensch wie Sie so argumentieren kann. Ich würde Ihnen echt gerne mal ganz persönlich ein paar Dinge dazu sagen.
    In einem Punkt allerdings möchte ich Sie ganz öffentlich anschreiben:

    Ihr Zitat „Es befremdet mich die Überheblichkeit, mit der so viel Gutes und Intaktes kaputt geredet wird. Wir haben unseren zerbombten Städten, ob Dresden, Hamburg oder Stuttgart oder meine Heimatstadt Heilbronn nach dem Krieg wieder ihr Gesicht zurückgegeben.“

    Also ich lebe zur Zeit in der Nähe von HN. Wenn Sie davon sprechen, dass „SIE“ Ihrer Heimatstadt Heilbronn wieder ein Gesicht gegeben haben, dann kenne ich endlich den Schuldigen, der nach dem Krieg diese Stadt SO HÄSSLICH wieder aufgebaut hat!!!! So viel Bausünden wie in Heilbronn gibt es in ganz Deutschland nur selten zu bestaunen. Haben Sie mal ein Bild von HN vor dem Krieg gesehen? Und Sie wollen hier den Menschen etwas von Gesichtern erzählen??
    Schon klar, Sie sind Pensionär und bekommen jeden Monat Ihre verdiente Pension. Die Zukunft der nächsten Generationen ist Ihnen völlig wurscht! Sie wollen einen völlig veralteteten Bahnhof erhalten, damit das „Gesicht“ gewahrt bleibt. (Genauso wie in Heilbronn….)
    Ich bin aber die nächste Generation und ich möchte einen Bahnhof der den Anforderungen der Zukunft gerecht wird (vgl. Ergebnisse des Stresstestes) – insbesondere dann, wenn nunmehr bereits 20 Jahre geplant wurde!
    Mein Tipp: Genießen Sie Ihre a.D.-Funktion und verbereiten lieber Güte als schlecht gemeinte Gesichter.
    Lauren K.

  2. Sehr geehrter Lauren(t?) K.,
    obwohl Sie sich anonym zu Wort melden, möchte ich Ihnen kurz antworten.
    Im Blick auf Stuttgart muss ich Ihnen Recht geben. Was der Krieg vom Gesicht dieser Stadt übrig gelassen hat, haben die beliebten OBs Klett und Rommel mit ihrer Liebe zur autogerechten Stadt und zur Abrissbirne weitgehend beseitigt. Der weniger beliebte OB Schuster steht ganz in dieser Tradition und befürwortet die Verstümmelung der Kulturdenkmale Bonatz-Bahnhof und Schlossgarten. Dagegen wendet sich Alt-Oberkirchenrat Jetter zu Recht.
    Dass der bestehende Kopfbahnhof völlig veraltet ist, müssen Sie erstmal nachweisen. Er ist einer der pünktlichsten Bahnhöfe in Deutschland. Alle Bahnsteige sind ebenerdig und barrierefrei erreichbar – ganz anders als bei S21.
    Für S21 wurde vor wenigen Jahren noch eine Leistungssteigerung von 100% vorhergesagt – jetzt sind es offiziell noch 30%. Dieser Bahnhof ist also veraltet, noch bevor sein Bau wirklich begonnen wurde.
    Diese Verlogenheit muss man, gerade als Christ, beim Namen nennen.

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