Jeremia 2, 13: Denn zweifach hat mein Volk gefrevelt: Mich hat es verlassen, den Quell lebendigen Wassers, und hat sich Brunnen gegraben, rissige Brunnen, die das Wasser nicht halten.
Vor über 2600 Jahren spricht Jeremia im Namen des Gottes, der ihn berufen hat, diese Klage über das Volk Israel aus: Das Volk hat die gute Quelle verlassen und vertraut stattdessen auf rissige Brunnen. Was ist geschehen? Die Israeliten sind von ihrem Gott aus der Sklaverei in Ägypten befreit worden, deshalb erwartet er, dass sie selbst niemals andere Menschen so behandeln werden, wie sie in Ägypten behandelt worden sind. Aber nun muss Jeremia miterleben, dass örtliche Gottheiten, Baalsgötter genannt, die Glück, Wohlergehen und Erfolg versprechen, wichtiger geworden sind. Vergessen ist der Schutz der Schwachen vor den Mächtigen.
So wird Jeremia zum Ankläger: Er muss die Schandtaten einer wirtschaftlichen Elite anprangern, die andere ausbeutet, sich gierig immer mehr bereichert und den Notleidenden Unterstützung verweigert: „In meinem Volk finden sich Gottlose; Fallen stellen sie auf, um zu verderben, um Menschen zu fangen“, ruft Jeremia. „Wie ein Korb voller Vögel, so sind ihre Häuser voll erlisteten Guts; darum sind sie groß geworden und reich. Auch übertreten sie das Recht: Sie schaffen der Waise nicht ihr Recht und führen nicht die Sache der Witwe. Sollte ich dergleichen nicht ahnden? spricht der Herr. Sollte ich mich nicht rächen an einem solchen Volke?“ (Jer. 5,26-29). Jeremia wird zum Unheilspropheten. Er ist zunehmend isoliert, denn es gibt andere Propheten, die populistische Botschaften haben. Er klagt: „Die Propheten weissagen im Dienst der Lüge, und die Priester stehen ihnen zur Seite mit ihren Weisungen, und meinem Volke gefällt es so.“ (Jer. 5,30)
Heute ist das alles hoch aktuell: Seit Jahrzehnten werden bei uns Arbeitsplätze in Billiglohnländer exportiert und Menschen mit Hungerlöhnen ausgebeutet. Auf Großbaustellen im Land treiben Subunternehmer dasselbe böse Spiel mit Arbeitskräften aus dem Balkan. Das Lohnniveau in Deutschland ist so gesunken, dass Vollzeitarbeitskräfte Hartz IV beantragen müssen um über die Runden zu kommen. Zugleich mehren Spekulanten ihr arbeitslos erlistetes Gut in unvorstellbarem Ausmaß. Andererseits wurde den Asylbewerbern in unserem Land das Existenzminimum jahrelang verweigert. Aus der Liste der Schändlichkeiten könnte ich lange vortragen. Die Vermögenden haben die gute Quelle einer solidarischen Realwirtschaft verlassen und graben Brunnen auf den spekulativen Finanzmarktplätzen, die nicht nachhaltig sind und nur Blasen entwickeln, die bald platzen und so in Katastrophen führen.
Ein Paradebeispiel für diese Entwicklung ist das Projekt Stuttgart 21. Der vernünftige, sehr gut funktionierende Kopfbahnhof soll aufgegeben werden für einen gefährlichen Tiefbahnhof, weil dieses Bauwerk ein Brunnen für Spekulanten und Profiteure sein soll. Die Risse des Projekts sind offenkundig: Es wird mehr öffentliches Geld versickern lassen als es je einen Mehrwert für die Reisenden spenden kann. Wer Augen hat zu sehen wird wie Jeremia zum Unheilspropheten: Das fehlende Behindertenrettungskonzept, die gesparten Rauchabzüge in den 60 Kilometern Tunnel lassen schlimmes ahnen. Schwere Schäden an den Mineralquellen und an Gebäuden in der Stadt sind einkalkuliert. In der Finanzierungsvereinbarung ist die Bahn von Schadenersatz für die Mineralquellen freigestellt. Die Heilspropheten weissagen im Dienst der Lüge und reden die Kosten und Risiken klein. Mit Verweis auf den Volksentscheid sagen Regierung und Presse, was Jeremia bitter beklagt: „ …und meinem Volk gefällt es so“. (Jer. 5,30)
Jeremia ließ sich nicht entmutigen. Er blieb so unbequem, dass seine Gegner ihn schließlich in eine Zisterne warfen um ihn zu beseitigen. Auch wir als Gegner des Projekts Stuttgart 21 haben etwas von der Gefährlichkeit des Widerstands am schwarzen Donnerstag erfahren. Die Rechtspflege der Staatsanwaltschaft Stuttgart macht deutlich, dass sie – um mit Jeremia zu sprechen – das Recht der Waise nicht schafft und die Sache der Witwe nicht führt.
Jeremia hat nicht aufgegeben. In Jer. 28 wird berichtet: Als König Zedekia, gestützt von den Heilspropheten, sich auf das militärische Abenteuer eines Aufstands gegen den babylonischen König Nebukadnezar einlassen will, geht Jeremia mit einem hölzernen Joch in den Tempel. Dort predigt der Heilsprophet Hananja: Alles wird gut. In zwei Jahren werden wir frei sein. Mit dem Joch im Nacken fordert Jeremia den Hananja heraus: „Wir werden ja sehen, ob du recht hast!“ Hananja nimmt triumphierend das Joch von Jeremias Schultern und zerbricht es. Man kann sich die johlende Menge der Zuschauer gut vorstellen. Jeremia geht heim wie ein begossener Pudel, ein Grund, sich für längere Zeit zu verkriechen. Aber da, im stillen Kämmerlein, ergeht an ihn das Wort Gottes. Der schickt ihn zurück zum Tempel und lässt ihn dem Hananja ausrichten: Gott legt ein eisernes Joch auf den Nacken des Volkes, es wird dem König Nebukadnezar dienen müssen. Gott hat dich – Hananja – nicht gesandt, sondern du verführst das Volk mit Lügen.
Ich denke, viele von uns können gut nachempfinden, wie es dem Jeremia zumute war, als er – von Hananja lächerlich gemacht – nach Hause ging. Nach der sog. Schlichtung, dem sog. Stresstest, dem Volksentscheid und vor allem nach der Schlossparkrodung ging es den meisten von uns ähnlich. Jeremias Erfahrung tröstet mich: In seinem stillen Kämmerlein fällt er nicht auf sich selbst zurück, sondern in die Hand des Gottes, der ihn berufen hat. Gott richtet ihn auf, gibt ihm neue Kraft und schickt ihn in dieser neuen Kraft zurück in den Tempel, an den Ort der öffentlichen Auseinandersetzung. In den Niederlagen meines Lebens ist es mir ähnlich wie Jeremia ergangen. Deshalb möchte ich Mut machen zu dieser Stille, in der Gott uns auffangen, neu ermutigen und neu losschicken kann, um erneut unbequem zu sein. Vielleicht werden einige unter uns die Kandidaten um das Amt des Oberbürgermeisters öffentlich fragen: Wie hoch schätzen sie den Schaden, wenn die Mineralquellen zerstört sind? Die Stadt Stuttgart darf den Schaden laut Finanzierungsvertrag von ihrem Kostenbeitrag abziehen – wie soll das entsprechende Finanzierungsloch gestopft werden? Andere werden vielleicht dem Verkehrsminister unbequeme Fragen nach den Rettungskonzepten stellen. Vielleicht ist ein Strafantrag notwendig gegen das Eisenbahnbundesamt wegen der Genehmigungen ohne ausreichendes Brandschutzkonzept. Nachdem die Bahn 80 Mio. € mehr will, wird die Regierung an den Kostendeckel zu erinnern sein.
Ob wir Erfolg haben werden, wissen wir so wenig wie Jeremia es damals wusste. Aber wir wollen uns zu dem Gott halten, der befreien will.
Amen
Pfarrer i. R. Friedrich Gehring