Liebe Parkgebetgemeinde,
vor zwölf Tagen waren viele von uns auch bei dem Trauergottesdienst. Damals ließen wir uns Mut zusprechen von dem Gotteswort nach Paulus: „Lass dir an meiner Gnade genügen, denn meine Kraft ist in den Schwachen mächtig!“ (2. Korinther 12,9). Zum Schluss wurden wir alle eingeladen, Gott darum zu bitten, er möge uns die Zerstörungen an der heilsamen Natur in unserem Schlossgarten und an der erhebenden Kultur unseres denkmalsgeschützten Bahnhofs verwandeln in die unübersehbare Aufforderung, umso entschiedener und grundsätzlicher und nachhaltiger einzutreten für die Bewahrung
– des Respekts vor der Rechtsordnung,
– der natürlichen Lebensgrundlagen und
– eines Lebens in Freiheit und Menschenwürde.
Ein Leben in Freiheit und Würde ist wesentlich dadurch gekennzeichnet, dass in ihm Gewissensfragen vorkommen können. Dass Menschen sich fragen: Kann ich das, was hier geschieht, mit meinem Gewissen vereinbaren? Wenn z. B. herauskommt, dass der sogenannte „Stresstest“ fehlerhaft war, dann wird die darauf beruhende politische Entscheidung auch fehlerhaft.
Wenn wir also von Politikern unterschiedlichster Parteien aufgefordert werden, uns endlich der Mehrheitsentscheidung zu beugen und nach Hause zu gehen, dann meldet sich unser Gewissen. Und es fragt zurück: Warum tut Ihr nicht Eure Pflicht, Schaden vom Gemeinwohl abzuwenden, indem Ihr die Dinge endlich sauber und korrekt handhabt?
Wir stehen hier, weil wir in dem Projekt „Stuttgart 21“ eine schwärende Wunde am Leib unserer Demokratie erkannt haben.
Wenn wir Gott bitten, uns seine Kraft zu schenken, damit wir weiterhin für Wahrhaftigkeit, Recht und Ordnung hier stehen bleiben und nicht weichen, was sagen wir dann genauer?
Dass wir hier stehen
– für Wahrhaftigkeit in der öffentlichen Kostenlegung,
– für das Recht im Sinne von wahrheitsgemäßem Beantragen von Baumaßnahmen;
– für die Ordnung im Sinne von Ahndung von Verordnungs- und Gesetzesübertretungen bei der Durchführung unterschiedlichster Maßnahmen im Zusammenhang mit diesem Projekt.
Wir bitten bei solchen Gewissensfragen um Gottes Beistand, weil wir uns der außergewöhnlichen Dimension unseres Protestes bewusst sind: Denn wir protestieren nicht nur gegen den Rückbau des Bahnverkehrs in unserem Land, sondern auch gegen die in diesem Zusammenhang deutlich gewordene Korruption –
– zu Lasten der Steuerzahler,
– zu Lasten der Umwelt,
– zu Lasten der Stadtkultur, und – dies ist das Gewichtigste,
– zu Lasten des Gemeinwohls und des inneren Friedens in unserem Lande.
Und wenn die Mehrheit das nicht mehr hören will?
Dann ist das schlimm für diese Mehrheit, nicht nur für uns. Aber weil wir uns vor Gott stehend verstehen, können wir uns unserer Verantwortung für das, was diese Mehrheit tut, nicht entziehen, sondern müssen stellvertretend für sie den Finger in die Wunde legen. So lange wir können.
Dass wir dabei gewaltlos bleiben und allein mit dem Wort streiten, möge uns gegeben werden. Denn wir haben die große Aufgabe, Seelsorgerinnen und Seelsorger der aufgewühlten oder schon ermatteten Herzen unserer Mitstreiter und Mitstreiterinnen zu sein und die Herzen unserer vielen Gegner zu gewinnen.
Die Herrnhuter Losung für den morgigen Tag lautet: „Herr, es ist dir nicht schwer, dem Schwachen gegen den Starken zu helfen“
(2. Chronik 14,10).
Lasst uns also mit neuem Mut aus der Höhe oben bleiben !
Pfarrer Gunther Leibbrand
Der Protest gegen S21 hat sich bisher durch gut begründete Argumente von gut informierten Bürgerinnen und Bürgern ausgezeichnet, die sich aus guten Gründen deutlich zu Wort gemeldet haben.
„Mut aus der Höhe“ und fromm kaschierter Schwulst aus der Niederung sind deshalb unangebracht, ja kontraproduktiv.
Stimmen Christen dezidiert ein in den Protestchor mit dem Choral „Weil wir uns vor Gott stehend verstehen“, ist das missklingend, daneben. Zu widersprechen ist dem Ungeist, aus dem das Projekt S21 betrieben wird, nicht durch hohen Ton, sondern argumentativ und qualifiziert.
Wie verquast, irreführend und abwegig die Vorstellungen von Gunther Leibbrand sind, lässt sich an seiner Einlassung ablesen: „Wir stehen hier für die Ordnung im Sinne von Ahndung von Verordnungs- und Gesetzesübertretungen bei der Durchführung unterschiedlichster Maßnahmen im Zusammenhang mit diesem Projekt.“
So auf den Hund gekommen, wie es hier scheinen mag, ist der Protest gegen S21 nicht.