1. Wichtige Vorhaben müssen ausreichend und öffentlich diskutiert werden
Einer der Gründe, aus christlicher Überzeugung S 21 abzulehnen, liegt in der Verweigerung einer offenen Auseinandersetzung über das ganze Projekt. Die Kirchen wie auch die Politik fordern bei solchen Großprojekten klare Regeln für das Zustandekommen von Beschlüssen.
Die Befürworter des Bahn- und Immobilienprojektes Stuttgart 21 berufen sich darauf, dass alle parlamentarischen Gremien, u.a. Gemeinderat und Landtag, dem Projekt mit großer Mehrheit zugestimmt haben. Wenn es aber um ein Vorhaben dieser Größenordnung geht („größtes Bauprojekt Europas“ O-Ton der Betreiber), dessen Verwirklichung sich seit mehr als 17 Jahre hinzieht, ist eine solche formale Legalität nicht ausreichend. Zum einen, weil beim Zustandekommen der Beschlüsse kein offener Diskurs stattfand. Zum anderen haben sich in der Zwischenzeit die Rahmenbedingungen gründlich geändert.
In der Politik gehört es seit langem zum Allgemeingut, „dass eine Demokratie zumindest ihre folgenreichen Entscheidungen deliberativ prüfen, an Alternativen messen und mit offenem Ausgang öffentlichen Debatten aussetzen muss.“ (Andreas Zielcke, SZ 19.10.2010) Wesentliches Kennzeichen einer deliberativen Demokratie ist ein Meinungsstreit über alle politischen Themen. Genau dieser Meinungsstreit fand nicht statt.
2. Fehlender Diskurs beim Zustandekommen der Beschlüsse zu S 21
Der Vorwurf an die Befürworter lautet: Die politischen Gremien haben ohne ausreichenden öffentlichen Diskurs Fakten beschlossen und schon sehr früh angeblich unumkehrbare Sachzwänge geschaffen. So wurde z.B. 1995 die Rahmenvereinbarung innerhalb von drei Beratungstagen vom Gemeinderat verabschiedet.
Verweigert wurde von Anfang an, eine Alternative zum Tiefbahnhof zur Diskussion zu stellen. Entscheiden aber kann nur, wer vorher informiert ist und genügend Zeit hat, Vor- und Nachteile zu erörtern, die Risiken realistisch einzuschätzen und Alternativen zu prüfen. Die Geschichte des Projekts zeigt überdeutlich, dass die Bevölkerung von Anfang an keine Chance zur Mitsprache hatte oder Änderungen einzubringen. Dort, wo sie sich zu Wort meldete, wurden ihre Argumente einfach übergangen. Das gleiche Schicksal erlitten Naturschutzverbände wie BUND und NABU, Verkehrsclub Deutschland und Fahrgastverband ProBahn und viele andere Fachleute. „Die Unterstellung, dem heutigen Konflikt sei ein hinreichender Zeit-raum demokratisch offener Entscheidungsfindung vorausgegangen, ist historisch schlichtweg falsch.“ (Zielcke a.a.O.)
Aus der Geschichte dieses Bahn- und Immobilienprojektes ist nicht erkennbar, dass öffentlich, geschweige denn ausreichend der Interessenskonflikt im Hinblick auf die gravierenden Eingriffe in den Schlossgarten, die dortige Tierwelt und die Risiken für das Mineralwasser diskutiert wurden. Erst Jahre nachdem der Stuttgarter Gemeinderat das Projekt beschlossen hatte, veröffentlichte das Amt für Umweltschutz die nötigen Fakten dazu.
Die Gegner von S 21 haben schon 1996 eine alternative Planung Kopfbahnhof 21 vorgelegt. Diese Alternative K 21 greift nicht in den Bestand des Parks, des Mineralwassers und den wertvollen Biotop des Gleisvorfeldes ein. Diese Alternative wurde im Faktencheck im No-vember/Dezember 2010 von Heiner Geißler als machbar, ökologischer und billiger bezeichnet.
3. Grundlegend neue Erkenntnisse stellen alte Beschlüsse infrage
Es kommt ein weiterer Gesichtspunkt ins Spiel. Die Legitimitätskraft von Verfahren und Abstimmungen verlieren ihre Gültigkeit, wenn die vergangenen Beschlüsse von neuen Umständen, Zahlen, Fakten und Erkenntnissen überholt werden. Das ist bei S 21 der Fall. Um nur einige Beispiele zu nennen:
Die Kosten haben sich verdoppelt, die höhere Leistungsfähigkeit des Tunnelbahnhofs wurde zwar 1995 aufgrund unrealistischer Haltezeiten behauptet, bis heute aber nicht nachgewiesen. Die Umweltprobleme wurden erst Jahre nach den Beschlüssen bekannt (Geologie, Mineralwasser). Die zugrunde gelegte Wirtschaftlichkeitsberechnung wurde bis heute nicht der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Der Teilabriss des Bahnhofs trat erst durch den Ingenhoven Entwurf von 1997 ins Bewusstsein der Öffentlichkeit, in gleicher Weise das Ausmaß der Zerstörung des Schlossgartens.
4. Maßstäbe für demokratische Entscheidungen – aus kirchlicher Sicht, insbesondere, wenn sie Belange der Schöpfung berühren und tief in die Lebensverhältnisse der Menschen eingreifen.
Im Hinblick auf Entscheidungen parlamentarischer Gremien mit großer Tragweite teilen die Kirchen die Überzeugung der Politik, dass sie zuvor öffentlich debattiert werden. Dabei muss der Ausgang offen sein und Alternativen müssen einbezogen werden.
Nach Ansicht der Evangelischen Kirche müssen Großprojekte bei ihrer Planung und Durchführung gewissen Kriterien entsprechen, ehe sie ethisch gerechtfertigt sind. Beschlüsse, die mit weitreichenden Konsequenzen in die Lebensverhältnisse der Menschen eingreifen, verlangen eine möglichst breite und direkte Zustimmung und eine intensive Beteiligung aller betoffenen Bürger. Besonderes Augenmerk ist bei solchen Entscheidungen auf das Verfahren zu richten, wie sie zustande kommen. Die parlamentarischen Gremien müssen „sich bemühen, durch eine intensive Beteiligung der Bürger zu klären, ob sie sich verständlich machen lassen und durchgesetzt werden sollen.“ (Denkschrift: Evangelische Kirche und freiheitliche Demokratie, 1985, S. 31) Dieser Diskurs kann nicht nur innerhalb der Parteien und zwischen ihnen erfolgen, sondern muss auch Bürgerinitiativen mit einbeziehen, weil damit die Chance gegeben ist, dass wirklich alle wichtigen Gesichtspunkte ins Gespräch kommen. (a.a.O. S. 32)
Die EKD bekräftigt ein paar Jahre später ihren Standpunkt in einer weiteren Denkschrift, in der es um die Bewahrung der Schöpfung geht. „Vorhaben dieser Art (gemeint sind Großprojekte Anm. d. Autors) dürfen nicht durchgeführt werden, bevor schwerwiegende Zweifel ausgeräumt sind… Bei einer solchen Entscheidung muss die gesamte Gesellschaft einbezogen werden. Denn was alle angeht, soll auch von allen entschieden werden.“ (EKD Denkschrift: Frieden in Gerechtigkeit für die ganze Schöpfung.“ Text des Forums: „Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung der Arbeitsgemeinschaft christliche Kirchen in der Bundesrepublik Deutschland und Berlin (West) e.V. Stuttgart“ 1988, S. 106)
5. Die Kirche hat die Pflicht, sich sachlich fundiert zu politischen Fragen zu äußern.
Weil es bei solchen Vorhaben um gesamtgesellschaftliche Angelegenheiten geht, hat die Kirche nicht nur das Recht, sondern geradezu die Pflicht, ihre Stimme zu erheben.
Die Kirche versteht sich heute nicht mehr so, den Menschen allein auf das Jenseits vorzubereiten, der Staat aber habe allein die Gestaltung des Diesseits zu verantworten. Eine solche Meinung verkennt, „dass die Predigt des Evangeliums die Welt verändern will und zur Nachfolge auch im Bereich des mitmenschlichen Zusammenlebens aufruft. Zu dieser Nachfolge gehört das Nachdenken und Mitdenken über die Stellung und den Beitrag der Christen in Fragen des öffentlichen Lebens.“ (Denkschrift: Aufgabe und Grenzen kirchlicher Äußerungen zu gesellschaftlichen Fragen. 1970, S. 41. In: Die Denkschriften der Evangelischen Kirche in Deutschland, 1978, Band 1)
„Was für die Verkündigung des Evangeliums das Sakrament ist, das ist für die Verkündigung des Gebotes die Kenntnis der konkreten Wirklichkeit.“ (Dietrich Bonhoeffer, Gesammelte Schriften Bd.1, S 147) Um diese konkrete Wirklichkeit geht es, wenn es gilt „die Ursachen, Bedingungen und Auswirkungen wirtschaftlicher und sonstiger Abläufe und Geschehnisse aufzudecken,… und scheinbaren Sachzwängen gegenüber die Freiheit des Menschen zu verantwortlichen Ent-scheidungen ins Spiel zu bringen.“ (Denkschrift a.a.O. S. 55)
6. Gewichtige theologische Gründe gegen S 21, z.B. Bewahrung der Schöpfung und Ehrfurcht vor allem Leben
Beim Prüfen von Alternativen muss die Kirche vor allem die theologische Gewichtung ins Spiel bringen. Als Christen haben wir die Aufgabe, die Schöpfung zu bewahren (1. Mose 2,15) Genau dies geschieht bei S 21 nicht. Mit S 21 wird der Lebensraum von Tieren und Pflanzen vernichtet und die Mineralquellen gefährdet, obwohl es eine gleichwertige Alternative gibt – Kopfbahnhof 21 – sowohl für den Bahnhof als auch für die städtebauliche Ent-wicklung. Aus unserer Verantwortung für die Schöpfung müssen wir ablassen von Machtphantasien über die Schöpfung und demütig die Grenzen unseres Handlungsspielraums und unsere eigene Begrenzung anerkennen. Wir müssen Abschied nehmen von dem Glauben an ein unbegrenztes Wachstum und an Fortschritt ohne Ende und uns am Maßstab des Lebens und dessen, was dem Leben dient, orientieren.
„Die Ehrfurcht vor dem Leben bewirkt auch eine Scheu vor dem rein nutzenden Gebrauch, eine Haltung der Beachtung und Schonung. So gesehen schließt sie eine „Ehrfurcht vor dem Gegebenen“ mit ein, sie weckt Wertebewusstsein und Schadenseinsicht. Diese Ehrfurcht vermittelt auch Einsicht in gegebene Grenzen, Einsicht in die Endlichkeit und Vergänglichkeit, vor allen Dingen Einsicht in die Verletzlich¬keit der Schöpfung und Mitkreatur. Ehrfurcht vor dem Leben bezieht sich nicht nur auf menschliches, tierisches und pflanzliches Leben, sondern im weiteren Sinn auf die „unbelebte“ Natur mit ihren Lebenselementen Wasser, Boden, Luft und ihren funktionalen Kreisläufen als Lebensraum. Sie sind nicht als tote Gebrauchsgegenstände zu verstehen, sondern als Teil der Lebensbedingungen des Menschen und seiner Mitkreatur. Wir Menschen müssen uns, um mit Sokrates zu sprechen, auf die Kunst des Hir-ten verstehen, dem am Wohl der Schafe gelegen ist, dürfen sie also nicht bloß unter dem Blickwinkel des Metzgers betrachten.“ (Denkschrift: „Verantwortung wahrnehmen für die Schöpfung.“ Gemeinsame Erklärung des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Deutschen Bischofskonfe-renz. Gütersloher Verlagshaus Gerd Mohn 1985, S. 27-30)
Konkret bedeutet dies: Als Christen müssen wir in Politik und Wirtschaft auf die „Überprüfung und Einhaltung folgender Kriterien zu drängen:
• Umweltverträglichkeit,
• Sozialverträglichkeit,
• Generationenverträglichkeit.
Bei größeren Planungsvorhaben sind diese Kriterien zu berücksichtigen. Schon die Entstehung von Umweltschäden gilt es zu vermeiden. Deshalb sollten folgende Fragen vorab geklärt werden:
• Zieht dieses Vorhaben tiefgreifende, dauerhafte und nicht wiedergutzumachende Schäden nach sich?
• Sind die Auswirkungen des Vorhabens in ihrer zeitlichen und räumlichen Erstreckung übersehbar?
• Sind Nebenfolgen so erheblich, dass sie nicht in Kauf genommen werden können?
• Sind die Würde der Menschen und die Artenvielfalt durch dieses Vorhaben bedroht?
Als Anwältinnen der Schöpfung stellen Kirchen diese Fragen öffentlich. Sie dringen darauf, dass Vorhaben dieser Art nicht durchgeführt werden, bevor schwerwiegende Zweifel ausgeräumt sind. Zu einer solchen Vorsorge zählt insbesondere die Abschätzung der Folgen für die ökologischen Kreisläufe. Diese Naturkreisläufe dürfen nicht unterbrochen oder zerstört werden.“ (Denkschrift: „Frieden in Gerechtigkeit für die ganze Schöpfung.“ Text des Forums: „Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung der Arbeitsgemeinschaft christlicher Kirchen in der Bundesrepublik Deutschland und Berlin (West) e.V. Stuttgart 1988, S. 105f)
7. S 21 ist ethisch nicht legitimiert
Erst jetzt wird einer breiten Öffentlichkeit das ganze Risiko einer Zerstörung der Mineralwasservorkommen durch Tunnelbauten und Tieferlegung des Bahnhofs bekannt. Diese Risiken wurden und werden weiterhin von den Betreibern geleugnet, heruntergespielt oder als beherrschbar bezeichnet. Nicht erst seit Fukushima ist eine solche Haltung mehr als fragwürdig. Erst jetzt wird einer breiten Öffentlichkeit die ganze Fülle der Informationen über Finanzierung, Risiken, Ökologie, verkehrlicher Nutzen, Nutzen-Kosten-Relation usw. bekannt.
Auch wenn das Projekt legal beschlossen wurde, verliert es durch die Verweigerung des Diskurses, die gravierenden Veränderungen der Rahmenbedingungen und die Nichtbeachtung der Risiken seine ethische Legitimation.
Hans-Eberhard Dietrich, Pfarrer